… zumindest nicht so, wie sie benutzt wird. Aber sie tut so, als wäre sie eine. Sievert wird hauptsächlich im Strahlenschutz verwendet, um einen Wert anzugeben, wie gefährlich ionisierende Strahlung ist und wieviel Strahlung auf einen Ort oder ein Objekt eingewirkt hat. Deswegen bezeichne ich sie hier im Blog des öfteren gerne mal als “medizinische Messgröße”, um klarzustellen, dass hier die Quantifizierung eben nicht so eindeutig ist wie bei richtigen physikalischen Messgrößen wie kg oder Meter.

Formal gesehen wird ein Sievert über Joule pro Kilogramm definiert und ist damit wie das Gray eine Energiedosis. Sprich, wenn ich sagen könnte “In diesem Objekt (welches X kg Masse hat) wurden durch ionisierende Strahlung Y Joule Energie deponiert.” – ja, dann hätte ich eine echte physikalische Größe. Doch diese Anwendung findet in der Realität so gut wie niemals statt. Wenn ich z.B. jetzt einen 1kg Kupferklotz hätte und den mit 1J an ionisierender Strahlung bestrahle, dann deponiere ich nicht automatisch das ganze Joule auch in dem Kupferblock. Wieviel ich davon deponiere, müsste ich messen oder kompliziert ausrechnen und bräuchte dazu sehr viel Informationen über die Ionisierende Strahlung (Energie, Divergenz, Entstehungsort etc. pp.) und mein Kupfer müsste sehr klar definiert sein (sehr rein, multikristallin etc. pp.) und es dürften keine äußerlichen Effekte auf das ganze Experiment einwirken.

Energieübertrag (Y-Achse) auf menschliches Gewebe für verschiedene Arten von ionisierender Strahlung

Das wird dann unendlich komplizierter, wenn ich keinen homogenen Kupferblock, sondern irgendeinen echten Gegenstand oder sogar biologisches Gewebe habe, das ich bestrahlen will. In der Anwendung gibt es dann verschiedenen Faktoren, die auf die Dosis aufgeschlagen werden, um der realen “medizinischen Gefährlichkeit” nahe zu kommen. Elektronen haben z.B. den Faktor 1, während Alphateilchen einen Faktor von 20 haben, was in etwas aussagen soll, dass Alphastrahlung 20fach so gefährlich wie Betastrahlung ist. Die Gefährlichkeit (in diesem Fall der Energieübertrag bei Interaktion mit ionisierender Strahlung) geht auch nicht linear mit der Energie der ionisierenden Strahlung. Am einfachsten sieht man das bei den Faktoren für Neutronen, die für ganz niederenergetische und ganz hochenergetische Neutronen jeweils 5 und für mittelenergetische (epithermische) Neutronen ganze 20 betragen.

Diese ganzen Faktoren, Eichtabellen usw. tun ihren Job ziemlich gut und man kann die Ergebnisse in Sievert bzw. mSv für viele viele Anwendungen benutzen. Äquivalenzdosen, Organdosen, effektive Ganzkörperdosen, Ortsdosen usw. usw. funktionieren hinreichend gut für das, was man braucht. Man kann gut damit arbeiten und erhält sinnvolle Ergebnisse… ABER man muss ich dabei immer im Hinterkopf behalten, dass die Dosis keine wirklich echte physikalische Messgröße ist, wenn man sie mit dem Geigerzähler misst. Die einzige echte physikalische Messgröße bei einem (Strahlungs)Detektor ist c/s, Zählereignisse pro Sekunde. Alles, was danach kommt, ist Interpretation und Herumgerechne.

Das gilt – mal wieder – besonders für niedrige Dosen und einen üblichen Fehler, den ich immer wieder sehe, ist das Hochrechnen von dieser fehlerhaften Größe. Wenn jemand im Internet sagt “Ich messe 0,012 µSv/s, dass sind dann 0,012 µSv/s * 60 s / min * 60 min / d * 365 d / a = 15 mSv pro Jahr und damit Fünfzehn mal höher als der gesetzlich erlaubte Wert”, dann ist das theoretisch zwar richtig – aber nur dann, wenn die 0,012µSv eine echte physikalische Messgröße mit einer klar definierten Messungenauigkeit wären. Da sie das in der Regel aber eben nicht ist, darf man nicht wirklich mit der Dosis so wild herumrechnen und daraus dann irgendwelche Schlüsse ziehen. Das ist einfach und simpel nicht naturwissenschaftlich und messtechnisch gesehen falsch.

Langer Rede kurzer Sinn, ja ihr sollt gerne mSv im Alltag benutzen. Aber seid verdammt vorsichtig damit, wenn ihr daraus irgendwelche Schlüsse zieht, die mehr als eine grobe Richtlinie sind. Vor allem bei niedrigen Dosen und unbekannter Strahlung auf komplizierte Materie. Da wird es dann irgendwann nur noch der Blick in die Kristallkugel.

Kommentare (8)

  1. #1 Frank Wappler
    13. August 2020

    Tobias Cronert schrieb (13. August 2020):
    > […] Die einzige echte physikalische Messgröße bei einem (Strahlungs)Detektor ist c/s, Zählereignisse pro Sekunde.

    “Zählereignisse pro Sekunde” ist sicherlich die Bezeichnung einer Einheit (die naheliegenderweise von der SI-Einheit “Sekunde” abgeleitet ist).

    Die physikalische Messgröße, deren Werte u.a. in dieser Einheit ausgedrückt werden könnten, dürfte dagegen z.B. “Zählrate” oder z.B. “Rate von Detektor-Zählereignissen” genannt werden.

  2. #2 h.wied
    13. August 2020

    Das Zählrohr tickt, das Ticken wrd gezählt. Z.B. 12 wird angezeigt
    Als Maßangaben stehen 3 zur Auswahl.
    1. Äquivalentdosisleistung in Mikrosievert /h x 0,01
    2 . Strahlungsdichte in 1 / (S x cm²) x 0,01
    3. Spez. Aktivität in Bq /kg x 200

    Wo bleibt jetzt die Strahlungsart ? Es ist doch ein Unterschied ob ich Alpha, Beta oder eine Gammastrahlungsquelle habe oder wie meistens eine Mischquelle.
    Wenn also im Falle 3. mein radioaktives Fleisch 2 Kg Masse hat, dann ist also die Aktivität nur halb so hoch ??
    Also 12 / 2kg x 200 = 1200 Bq/kg richtig ?

  3. #3 Tobias Cronert
    13. August 2020

    Ja, Rate wird in den meisten Anwendungsfällen “richtiger” sein als Ereignisse. Aber da habe ich als Neutronenphysiker mit wenig Neutronen halt meine eigene Prägung, denn eine Rate impliziert ja in einer gewissen Weise eine statistisch signifikante Menge in einem annähernd infinitisimalen Zeitintervall vgl. Frequenz. Wenn ich jetzt aber nur noch ein Count pro Minute oder gar Stunde habe, mag ich nicht mehr guten Gewissens von einer Rate sprechen.

    @h.wied: genau das ist das Problem, auf das ich mit diesem Artikel aufmerksam machen will. Alle drei Maßangaben sind (mithilfe von Tabellen und Eichkurven) errechnet und näherungsweise zwar “richtig”, können aber schnell zu Problemen führen, wenn man genauer hinguckt. Meist gilt, je prof. das Gerät, desto mehr Möglichkeiten die Eichkurven einzustellen und anzupassen.

  4. #4 Frank Wappler
    13. August 2020

    Tobias Cronert schrieb (#3, 13. August 2020):
    > Ja, Rate wird in den meisten Anwendungsfällen “richtiger” sein als Ereignisse.

    “Anzahlen bezogen auf die jeweilige Dauer der Zählung” ist nun mal grundsätzlich verschieden von “bloßen Anzahlen”, nicht wahr ?

    > […] meine eigene Prägung […] Wenn ich jetzt aber nur noch ein Count pro Minute oder gar Stunde habe, mag ich nicht mehr guten Gewissens von einer Rate sprechen.

    Das entspricht jedenfalls nicht meiner Prägung, physikalische Größen “universell” anzuwenden, und nicht noch zusätzlich nach (womöglich “praktisch relevanten”) verschiedenen Wertebereichen zu unterscheiden …

    Welche Bezeichnung würdest Du denn z.B. für die (zweifellos physikalische) Größe vorschlagen, deren für “uns praktisch relevante, typische” Werte in der Größenordnung von “ein paar pro Million Jahre” liegen, und die (zumindest offenbar im englischen Sprachgebrauch) ohne Weiteres als
    “rate (of reversals in the Earth’s magnetic field)”
    bezeichnet wird ??

    > […] eine Rate impliziert ja in einer gewissen Weise eine statistisch signifikante Menge in einem annähernd infinitisimalen Zeitintervall

    Sofern es um diskrete Anzahlen, also ganze Zahlen, bezogen auf die jeweilige Dauer der Zählung geht, versteht sich “Rate” doch sicher als Durchschnitt: von Zählungen, die insofern statistisch signifikant sind, dass die jeweils erfasste Anzahl größer als 1 und die Dauer der Zählung verschieden von Null ist.

  5. #5 Tobias Cronert
    13. August 2020

    Naja in “Zählereignis” steckt ja schon implizit mit drin, dass sich das auf irgendeine Dauer der Zählung bezieht … zumindest so, wie sie von uns im Alltag verwendet wird.

    Das Problem liegt in der Statistik. Eine Rate (in der Form, in der das Wort in meinem beruflichen Umfeld benutzt wird) sollte idealerweile per se zeitlich konstant sein über dem Zeitintervall, dass ich benutze. Sprich ich habe eine Röntgenquelle, die konstant 1kC/s raushaut, dann stecke ich einen Kristall in den Strahl und die Rate ändert sich. Dann kann ich einfach eine Normalverteilung annehmen und bequem damit weiterrechnen. Da würde halt aber die Statistik mit Wurzel(N) schnell in die Knie gehen, wenn es zu kleinen Raten geht und man muss tiefer in die (Fehler)Trickkiste greifen. Das taucht ja schon ansatzweise bei Hintergrundmessungen mit schlechten Detektoren (wie hier bei SB öfter angefragt) auf.

    Letztendlich werde ich mich aber sicher nicht über Terminologie streiten. Schließlich schreibe ich hier bei SB ja auch von “Atomkraftwerken” und ähnlichen Begriffen.

  6. #6 Frank Wappler
    14. August 2020

    Tobias Cronert (#5, 13. August 2020):
    > Naja in “Zählereignis” steckt ja schon implizit mit drin, dass sich das auf irgendeine Dauer der Zählung bezieht … zumindest so, wie sie von uns im Alltag verwendet wird.

    Meiner Alltagsverwendung nach steckt der Bezug auf die jeweilige Dauer (des Detektors während) der Zählung nicht im Begriff “Zählereignis” an sich, und wird folglich nicht jeweils einem einzelnen solchen “Zählereignis” zugeordnet.
    Sondern eine von Null verschiedene derartige Dauer des Detektors ergibt sich erst durch Betrachtung (und ggf. das Vorfinden) von mehreren (mindestens zwei verschiedenen) “Zählereignissen”, die der Detektor nicht koinzident wahrnahm, sondern nacheinander (und deshalb auch unterschied und zusammenzählte).

    > Eine Rate (in der Form, in der das Wort in meinem beruflichen Umfeld benutzt wird) sollte idealerweise per se zeitlich konstant sein über dem Zeitintervall, dass ich benutze. […]

    Jedem Beruf sei sein Jargon zugestanden. Aber welches Wort oder welche Formulierung würden denn dann in Deinem beruflichen Umfeld benutzt, falls der beschriebene Idealfall nicht vorlag bzw. wenn zunächst ermittelt werden sollte, ob dieser Idealfall vorgelegen hätte, oder in wie fern nicht ? (Oder liegen solche Betrachtungen etwa außerhalb Deines beruflichen Umfelds? Für mich sind sie jedenfalls … Alltag.)

    > Letztendlich werde ich mich aber sicher nicht über Terminologie streiten.

    Sicher nicht. (Und ich sicher auch nicht.)
    Letztendlich lässt sich Terminologie wohl lediglich ggf. ergründen, oder ansonsten vermitteln.

  7. #7 Tobias Cronert
    14. August 2020

    Meine Kollegen, die ausschließlich an großen Neutronenquellen (oder Photonenquellen) arbeiten reden in der Regel auch immer von Raten … an einem Detektor, an einer Quelle ec. pp.

    Ich muss gestehen, dass ich (wir) selbst wenn wir uns auf Deutsch unterthalten auch oft Count oder Counts sagen. Und ebenfalls ist es oft von Signal oder Impuls, wenn man sich die Elektronik anguckt.

    Kurzum ich habe kein Patentrezept, wie ich eine niedrige Rate im Deutschen korrekt beschreiben würde. Alle meine Publikationen waren bislang in Englisch, wo das Problem nicht aufgetreten ist.

    Falls ich in Deutsch publizieren müsste, dann würde ich den Begriff bei der ersten Verwendung definieren. Das ist so üblich, wenn man Begriffe benutzt, deren Bedeutung nicht ganz eindeutig ist, weil sie entweder kontrovers oder zu neu ist. Ich erinnere mich da an interessante Diskussionen zu SpinDICHTEwellen, die meine Kölner Kollegen mit dieser Bezeichnung führten, während meine neuen Jülicher Kollegen dem wehement widersprachen, weil es nicht zwangsweise eine DICHTE(-Veränderung) ist.

  8. #8 Frank Wappler
    14. August 2020

    Tobias Cronert schrieb (#7, 14. August 2020):
    > […] Kurzum ich habe kein Patentrezept, wie ich eine niedrige Rate im Deutschen korrekt beschreiben würde. […]

    Ein Patentrezept, (Mess-)Größen von deren jeweiligen (meinetwegen auch ggf. besonders niedrigen) (Mess-)Werten zu unterscheiden, liegt jedenfalls darin, stets vom “(Mess-)Wert” zu sprechen bzw. zu schreiben, wenn nicht die (Mess-)Größe gemeint ist, sondern einer ihrer Werte.

    Im Übrigen erscheinen die Bezeichnungen empfehlenswert, die u.a. auch schon Leo verwendete, nämlich:

    – als (meinetwegen besonders niedriger) Messwert der Messgröße “Rate” (vgl. Kommentar #1),

    – bzw. im gegebenen Zusammenhang genauer als (meinetwegen besonders niedriger) Messwert der Messgröße “(mittlere) Zählrate”; engl. “(mean) count rate”.

    Hauptsache: nicht “die Counts pro Sekunde”, weil das eine Einheit mit Werten und/oder mit Größen verwechselt.

    > […] den Begriff bei der ersten Verwendung definieren. Das ist so üblich, wenn man Begriffe benutzt, deren Bedeutung nicht ganz eindeutig ist, weil sie entweder kontrovers oder zu neu ist.

    Jedenfalls sollte man sich von der Nachvollziehbarkeit seiner Begriffe überzeugen (und diese z.B. durch Verwikilinkung absichern), egal ob man sie für kontrovers und/oder neu hält, oder nicht. Dass den dafür verwendeten Worten womöglich noch andere Bedeutungen zugewiesen würden, werden wir ertragen.