Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Produkt ein “Medizinprodukt” ist, oder wenn der Hersteller betont, dass es das nur in der Apotheke gibt? Das klingt alles nach Medizin und Wirkung, hat aber auch eine ganze Menge mit Marketing zu tun. Wolfgang Becker-Brüser hat mir erklärt, was die Begriffe wirklich bedeuten.
Das unabhängige Verbrauchermagazin “Gute Pillen – Schlechte Pillen” – auf das ich hier bei Plazeboalarm auch immer wieder gerne verweise – hat kürzlich seinen bis dato etwas zurückhaltenden Internetauftritt ausgebaut.
Ich nehme das mal zum Anlass einen der Macher des Heftes, den Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser, zu einigen Begriffen zu befragen, denen wir taglich in Artikeln über und Anzeigen für Nahrungsergänzungsmittel und andere Gesundheitsprodukte begegnen.
Hersteller stellen solche Begriffe gerne heraus, um zu suggerieren, dass ihr Produkt eine Wirkung und einen Nutzen hat. Wie aussagekräftig diese Hinweise sind, erklärt uns Wolfgang Becker-Brüser in seinen Antworten auf meine Fragen, die ich ihm per E-Mail zukommen ließ.
Wer sich ein bisschen schulen will in der Dekonstruktion von solchen Anzeigen, dem empfehle ich auf der neuen GPSP-Seite die Rubrik “Werbung aufgepasst!“, die es bisher noch nicht online gab.
Jetzt aber zum Interview.
PA: In der Werbung weisen Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln o.ä. gerne darauf hin, dass ihr Produkt nur in der Apotheke erhältlich ist oder eine Apothekennummer besitzt. Sind das wirklich Qualitätsmerkmale an denen sich ein Verbraucher orientieren kann?
Becker-Brüser: In der Apotheke gibt es viele wirksame und lebensrettende Arzneimittel. Aber leider auch eine Menge nutzloser Produkte. Wenn etwas in der Apotheke verkauft wird, ist das noch kein Qualitätsmerkmal.
Die Apothekennummer heißt auch Pharmazentralnummer, kurz PZN. Ein Qualitätskennzeichen ist sie nicht, nur eine Identifikationsnummer. Jeder kann in einer bestimmten Apothekendatenbank für wenig Geld Präparate eintragen lassen. Deren Sinn und Unsinn wird nicht überprüft. Das wird weidlich ausgenutzt.
Ein Beispiel: Wenn auf einer Kaffeefahrt ein nutzloses und völlig überteuertes Nahrungsergänzungsmittel angeboten wird – zu einem supergünstigen Rabatt, der angeblich nur an diesem Tag eingeräumt werden kann – werden die meist älteren Herrschaften bisweilen aufgefordert, gleich mal in einer Apotheke anzurufen, um dort den üblichen Verkaufspreis nachzufragen.
Der befragte Apotheker wird nach einem Blick in seinen PC den dort gelisteten hohen Fantasiepreis des Produktes bestätigen müssen – eines Produktes, das im Übrigen wohl nie in einer Apotheken geordert und erhältlich sein wird. Auf diese Weise werden die Teilnehmer der Kaffeefahrt hinters Licht geführt und mit angeblichen Superrabatten noch leichter abgezockt. Wir hatten dazu auch mal ein Produkt in Gute Pillen – Schlechte Pillen vorgestellt, das war schon 2006 und ist immer noch aktuell. Es handelt sich um das angebliche Aufbaupräparat Cardio forte.
Eine Packung Trinkampullen soll über 1.200 Euro kosten. Dabei werden Nahrungsergänzungsmittel wie dieses überhaupt nicht von irgendeiner Behörde auf gesundheitlichen Nutzen und Risiken überprüft.
Der Begriff Medizinprodukt wird ja auch gerne hervorgehoben. Man liest Sätze wie “Es handelt sich um ein geprüftes Medizinprodukt” oder ähnliches. Diese Produkte werden ja z.B. auch vom TÜV überprüft und bekommen eine CE-Nummer? Ist das keine Garantie, dass das Mittel wirkt?
Becker-Brüser: Medizinprodukte werden von Institutionen wie dem TÜV zertifiziert und tragen dann das CE-Logo, so dass sie auf dem Markt der europäischen Union verkauft werden dürfen. Eine echte Überprüfung, die einen Rückschluss auf Nutzen und Verträglichkeit erlaubt, liegt dem nicht zugrunde.
So wurde beispielsweise Vaseline als Nasensalbe gegen Pollenallergien als Medizinprodukt zertifiziert. Fünf Gramm dieser so genannten Pollenschutzcreme wurden zu einem Preis verkauft, für den man bereits ein Kilo Vaseline einkaufen kann.
In der letzen Ausgabe von GPSP haben wir gerade erneut auf die unsäglichen Versprechungen in Zusammenhang mit Ohrkerzen hingewiesen. Vor deren Risiken hatte kürzlich die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA gewarnt.
Wenn der TÜV etwas zertifiziert, nach irgendwelchen Kriterien muss er doch entscheiden, ob etwas zu Recht ein Medizinprodukt ist oder nicht. Was gehört denn zu diesen Kriterien? Zählt Wirkung nicht dazu?
Becker-Brüser: Prüfstellen wie der TÜV, die so genannten benannten Stellen, entscheiden ja nicht, ob etwas ein Medizinprodukt ist oder nicht. Dafür gibt es eine EU-Richtlinie, die RICHTLINIE 93/42/EWG DES RATES vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte.
Danach fallen unter den Begriff “Medizinprodukte” sehr unterschiedliche Produkte, zum Beispiel Implantate wie die Herzschrittmacher, Diagnosegeräte – vom Blutdruckmessgerät bis zum Röntgenapparat – , Blut- und Urintests und auch arzneimittelähnlich aufgemachte Produkte. Diese dürfen allerdings nicht wie Arzneimittel pharmakologisch wirken und beispielsweise in Regelkreise des Körpers eingreifen, sondern beispielsweise physikalisch. Die Abgrenzung ist alles andere als leicht und erscheint oft willkürlich.
Was der TÜV zertifiziert, ist nicht eine medizinische Wirksamkeit, sondern zum Beispiel, dass das Blutdruckgerät zuverlässig misst oder Ohrkerzen beim Abbrennen nicht umknicken. Ob ein Messgerät dem Kranken nützt, seinen erhöhten Blutdruck besser zu kontrollieren, oder ob Ohrkerzen gegen Tinnitus helfen, interessiert bei dieser Überprüfung nicht.
Was ist mit dem Hinweis auf Patente? Auch in beliebtes Argument, um Verbraucher von der Wirksamkeit eines Produktes zu überzeugen.
Becker-Brüser: Produkte mit einem Patent scheinen Verbraucher stark zu beeindrucken. Für viele Kosmetika, Medizinprodukte u.a. wird daher mit Bezug auf Patente geworben. Ob Patente bestehen oder nicht, sagt aber nichts über den Nutzen eines Präparates aus.
Viele beziehen sich nur auf das Herstellungsverfahren. In manchen Patentschriften steht aus medizinischer Sicht sogar ziemlicher Unfug.
So wird beispielsweise in der Patentschrift der erwähnten Pollenschutzcreme behauptet, dass die Anwendung in der Nase “auch die Reizreaktionen im Augen- und im Halsbereich auszuschalten” vermag. Wohlwollend ausgedrückt handelt es sich hierbei um reines Wunschdenken. Denn lediglich “Testberichte” bei einem (!) Patienten mit Birkenpollenallergien dienten dabei als Beleg.
Zuletzt im Fall Mavena/Regividerm ging es ja darum, ob die Creme nicht vielleicht doch ein Arzneimittel ist und kein Medizinprodukt. Das hört sich so an als ob man sich das nicht aussuchen könnte. Kann man oder kann man nicht?
Becker-Brüser: Es gibt auf jeden Fall zahlreiche Grenzfälle. Für die Hersteller ist die Vermarktung eines Medizinproduktes mit erheblich weniger Aufwand, also weniger Kosten, verbunden als bei der Zulassung als Arzneimittel. Für die meisten arzneimittelähnlich aufgemachten Medizinprodukte dürfte es zudem unrealistisch sein, einen gesundheitlichen Nutzen nachweisen zu können.
Der Wirkmechanismus, der beispielsweise für die Vitamin-B12-Avokadoöl-Creme REGIVIDERM behauptet wird – Bindung von Stickstoffmonoxid, dem eine Rolle bei Entzündungsprozessen der Haut zugeschrieben wird – klingt verdächtig nach einem pharmakologischen Wirkprinzip, was allerdings der Vermarktung als Medizinprodukt widerspricht. Auch CYSTUS-052, ein Extrakt aus einem Zistrosengewächs, soll laut Anbieter Erkältungserreger physikalisch binden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat CYSTUS-052 jedoch als zulassungspflichtiges Arzneimittel eingestuft. Das hat zur Folge, dass das als Medizinprodukt bezeichnete Präparat nicht mehr als solches verkehrsfähig ist.
Wie kann ein Verbraucher aber denn heraus finden, ob etwas hilft oder nicht?
Becker-Brüser: Das konkret zu beantworten, ist wirklich schwierig. Je fantastischer eine Versprechung klingt, desto weniger sollte man sie glauben. Wenn beispielsweise ein Mittel, das angeblich von der so genannten Schulmedizin ignoriert wird, gegen praktisch alles wirken soll, von Haarausfall bis Krebs, von Schulmüdigkeit bis Schuppenflechte, dann handelt es sich mit Sicherheit um Werbesprüche, die möglichst viele Menschen ansprechen sollen.
Wir haben in Gute Pillen – Schlechte Pillen die häufigsten Versprechungen in “Zehn Indizien für Quacksalberei” zusammengefasst. Das gibt einen Einblick in die Mechanismen, wie Kranke und Gesunde übers Ohr gehauen werden.
Soweit zu dem, was man lassen sollte. Ansonsten ist es für medizinische Laien ja fast unmöglich festzustellen, ob für ein bestimmtes Medikament gute Studien vorliegen. Und ob Nahrungsergänzungsmittel oder Medizinprodukte das halten, was für sie versprochen wird. Eben das war auch einer der Gründe, unsere Zeitung zu machen und nun unsere Informationen im Internet auszubauen.
Lieber Herr Becker-Brüser, danke für die Beantwortung der Fragen.
Nachtrag:
Wolfgang Becker-Brüser erklärt in einem Kommentar auch noch, warum man sich selbst auf die Zulassung zum Arzneimittel durch das BfArM in punkto echtem Nutzen nicht vollends verlassen kann. Denn ein Mittel kann eine Wirkung haben, aber ob dies auch einen Nutzen hat, das steht auf einem anderen Blatt.
Ja, es ist nicht einfach.
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