Schnell, raten: Wie viele Ecken hat eine Schneeflocke? 4, 5 oder 6? Und? Richtig getippt? Ich werde die Frage nie mehr falsch beantworten, dank eines Briefes eines Wissenschaftlers an Nature.
Ich muss gestehen, ich fand das erst ziemlich pingelig. Da schreibt ein deutscher Wissenschaftler einen Brief an das Wissenschaftsmagazin Nature (Weihnachtsausgabe) mit dem Hinweis, es gäbe ja jetzt wieder so viele Schneeflocken in der Werbung, auf Weihnachtskarten usw., und es wären so viele davon völlig falsch dargestellt.
Selbst die Einladungskarte für ein Nature-Abo zeuge von solcher Ignoranz, obwohl doch mit dem Spruch geworben würde: “(…) for anyone who loves science.”
Seit 400 Jahren, also genau genommen seit dem Jahr 1611, in dem Kepler seine Abhandlung “Über die sechseckige Schneeflocke” De nive sexangula veröffentlichte, sei doch bekannt, das Schneekristalle sechseckig sind. (Übrigens ein Neujahrs-Geschenk Keplers an seinen Mäzen.)
Es gebe auch so viele wunderbare Fotografien von Schneeflocken, schon seit dem 19. Jahrhundert, wie etwa die Aufnahmen des Vermonter Bauern Wilson Bentley, der 1885 begonnen hatte, Schneeflocken zu fotografieren.
Dass Schneeflocken diese sechs Achsen ausbilden ergebe sich schlicht aus der Kristallstruktur des Wassers und dem Bestreben eine möglichst energiesparende Struktur unter diesen kalten Bedingungen einzunehmen. Das haben Wissenschaftler längst herausgefunden.
Also warum entwerfen dann viele Künstler und Designer ihre eigenen physikalisch unmöglichen Schneekristalle?
“Ist das nicht pingelig?“, dachte ich zuerst. Das heißt, denke ich immer noch. Nur mit dem Unterschied, dass ich inzwischen der Meinung bin: “Der Mann hat Recht, völlig Recht.” Er ist schließlich Experte auf dem Gebiet. Und von einem Experten muss man eigentlich erwarten, dass er pingelig ist. Es ist sein Job andere darauf hinzuweisen, dass sie einem Irrtum unterliegen. Das mag uns dann blöd vorkommen, aber: Wenn wir Experten haben wollen, müssen wir auch damit rechnen, dass sie uns zurecht weisen.
Wenn selbst eines der wichtigsten Wissenschaftsmagazine es nicht hinbekommt von Wissenschaftlern generiertes Wissen aufzugreifen, dann ist offenbar was falsch gelaufen.
Okay, man könnte einwenden, dass es ja nun nicht so wichtig wäre, ob Schneeflocken richtig oder falsch dargestellt wären (und Freiheit der Kunst usw.). Natürlich, das ist überhaupt nicht wichtig. Trotzdem sollte uns jemand darauf hinweisen, dass es in der Natur, keine vier, fünf oder achteckige Schneeflocken gibt. Ich finde das interessant. Und wer könnte das nicht besser tun als ein Wissenschaftler, der sich professionell mit Eisbildung oder superkaltem Wasser und wässrigen Lösungen beschäftigt.
Außerdem: Er hat seinen (eigentlich mit leichtem ironischen Unterton verfassten Brief) ja nicht an irgendein Massenblatt verschickt, sondern an Nature, die ja bekanntlich einen etwas eingegrenzteren Leserkreis haben als etwa der Stern oder der Spiegel.
Andererseits: Warum eigentlich nicht? Warum nicht im Stern oder Spiegel oder – ganz verwegen – einen Beitrag darüber in BILD, der erklärt, warum all diese vier, fünf oder achteckigen Schneeflocken auf den Karten, Kinderbüchern oder Werbebroschüren nichts mit der Realität zu tun haben? Warum eigentlich nicht?
Also, ich für meinen Teil werde es wahrscheinlich nie wieder vergessen, dass Schneekristalle sechseckig sind (aber auch nicht jedesmal mit dem Finger drauf zeigen, wenn mal wieder einem Grafiker von Weihnachtskarten die Phantasie durchgegangen ist.)
Strenggenommen ist es natürlich etwas komplizierter: Denn Schneeflocken bestehen ja meist aus vielen einzelnen Schneekristallen. D.h. Schneeflocken sind gar nicht symmetrisch aufgebaut, außer sie bestehen aus einem einzigen Schneekristall.
Koop heißt der Mann übrigens, Thomas Koop, Chemiker von der Uni Bielefeld.
Danke Herr Koop für den Hinweis. :-)
Übrigens: Tolle Seiten über Schneekristalle finden sich beim Caltech oder hier, die Seite über Wilson Bentley.
Nachtrag:
So sah übrigens das Werbebanner für ein Nature-Abo um die Weihnachtszeit aus, auf das Koop sich bezog und Anlass für seinen Brief war.
Fotos: Wikipedia
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