Das sind so die Geschichten, die das Zeug haben, bei Menschen das Vertrauen, das man in Wissenschaft und Wissenschaftler haben kann, Stück für Stück zu zerbröseln (ähnlich wie bei sich regelmäßig widersprechenden Ernährungsempfehlungen (“Butter ist okay” – “Nein, Butter ist nicht okay” – “Butter ist okay”). Aber es liegt weniger an Wissenschaft an sich, sonder an dem, was wir daraus machen und wie wir damit umgehen.
Kurz vor der Entscheidung über eine Wiederzulassung des Ackergifts Glyphosat in Europa hat ein Gremium der Weltgesundheitsbehörde WHO sich nochmal mit einer Entscheidung zum Giftstoff gemeldet. Das Fazit lautet diesmal und zur Verwirrung aller: Es besteht kein Krebsrisiko für Menschen durch das Herbizid im Essen. Was’n jetzt los? Zuletzt hatte die WHO doch gesagt, Glyphosat sei “wahrscheinlich krebserregend im Menschen”.
Doch der Widerspruch ist gar keiner, sondern lediglich die Folge einer verkürzten, in manchen Fällen vielleicht gewollt zuspitzenden Darstellung. In der Süddeutschen Zeitung haben Hanno Charisius und Kathrin Zinkant den scheinbaren Widerspruch aufgelöst. In einem lesenswerten FAQ schreiben sie unter anderem:
“Warum hat die WHO ihr Urteil zu Glyphosat plötzlich geändert?
Das ist ein Missverständnis. Die WHO hat ihr Urteil nicht geändert. Es gibt vielmehr zwei Urteile zu zwei Fragestellungen, für die auch zwei getrennte Expertenteams von der WHO beauftragt wurden. Die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC) beurteilt Stoffe nach ihrem grundsätzlichen Gefahrenpotenzial. Sie sagt zum Beispiel: Rotes Fleisch ist “wahrscheinlich krebserregend”. Sie geht aber nicht auf das Risiko ein, mit dem ein Verbraucher konkret zu rechnen hat, wenn er Fleisch isst. Etwa: Ist ein Steak pro Woche riskant – oder eins pro Tag? So ist es auch bei Glyphosat. Die IARC sagt, das Herbizid sei wahrscheinlich krebserregend, und das Joint Meeting for Pesticide Residues (JMPR) schätzt das Risiko für realistische Konzentrationen ein, denen die Menschen etwa durch Rückstände in der Nahrung ausgesetzt sind.”
Wer weitere Informationen zum Thema sucht (für die journalistische oder die eigene Recherche zum reinen Erkenntnisgewinn), der sollte auch mal beim neuen Science Media Center vorbeischauen, dort gibt es ein Factsheet zum Thema Glyphosat.
Zusatz: Kurzer Hinweis zu einer ähnlichen Sachlage im gleichen Fall. Lars Fischer hatte kürzlich heute erklärt, warum auch die Einschätzungen der WHO (die erste) und des BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) sich nicht widersprechen, auch wenn es oft so dargestellt oder impliziert wurde:
“Das BfR stellt sich nach seiner Analyse auf den Standpunkt, dass bei sachgerechter Anwendung kein höheres Krebsrisiko zu erwarten sei. Das gab natürlich großes Geschrei wegen der vermeintlichen Differenz zur IARC-Monographie [Anm. Von mir: das Gremium der WHO]. Bei Lichte betrachtet ist die BfR-Einschätzung mit der Bewertung der IARC aber völlig vereinbar, weil eben beide Gutachten zwei unterschiedliche Dinge betrachten: Die Möglichkeit, dass ein Stoff überhaupt Krebs erzeugt, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Alltag durch diesen Stoff Krebs bekommen.”
Nachtrag 27.5.16: Lars Fischer hat dann die ganze Medienberichterstattung zum Thema nochmal bei Übermedien analysiert.
“(…) Dass sich viele Medien so schwer taten, die plakativen Meldungen über Gift und Krebs eigenständig einzuordnen, machte es später natürlich auch doppelt schwer, aus dieser holzschnittartigen Debatte wieder auszubrechen. (…)
(…) Die meisten Artikel, die sich mit den verschiedenen Positionen in dem Verfahren befassten, erwähnten vor allem den prominenten Krebsverdacht – viele andere diskussionswürdige Themen, zum Beispiel auch die Bedeutung für Umwelt und Landwirtschaft, fielen erst einmal weitgehend unter den Tisch. (…)
(…) Wenn es Interessengruppen erst einmal gelungen ist, Ängste zu schüren, hat differenzierter Journalismus einen schweren Stand.”
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