Jedes Mal, wenn ein Journalist seinen Beitrag auf die trügerische Aura des Einzelfalls stützt, heult irgendwo ein Mediziner auf, weil wieder einmal zweihundert Jahre Entwicklung in der Medizin ignoriert wurden, um die Wirksamkeit von Heilmitteln verlässlich zu überprüfen.
Ein ernsthafter Journalist müsste eigentlich jedes Mal fragen, wenn jemand einen erfolgreichen Fall als Beleg für die Wirksamkeit (s)eines Verfahrens schildert: „Und bei wie vielen hat es nicht funktioniert?“
Ein Beispiel aus dem Medien-Doktor Bewertungsarchiv: An einer Klinik wird ein Elektroverfahren gegen einen Lebertumor eingeführt. Im TV-Beitrag erklären ein Patient und die Ärzte, wie beeindruckend erfolgreich der Tumor aufgelöst wurde. Wie gut das Verfahren, von dem es zu diesem Zeitpunkt vor allem Tierexperimente und kleinere, unkontrollierte Pilotstudien gab, bei den anderen Patienten an der Klinik funktioniert hat, erfahren Zuschauer nicht.
Doch Journalisten lieben solche Erfolgsgeschichten – nach den Misserfolgen fragen sie zu selten. Dabei es ist eine Binse: wo Licht ist, ist auch Schatten, ein Patient macht noch keine erfolgreiche Therapie.
Immer wenn Journalisten sich allein auf Einzelfallgeschichten stützen – und damit zum Überbringer vermeintlicher Erfolge werden – laufen sie Gefahr dem PR-Gebaren von Medizinern und Scharlatanen auf den Leim zu gehen. Die Beiträge wecken durch die unwiderstehliche Kraft der persönlichen Geschichte Hoffnungen bei Betroffenen und Angehörigen, die darauf vertrauen, dass der beschriebene Einzelfall der typische Fall ist („Bei ihm wirkt es, dann hilft es auch mir.“). Doch ob dies tatsächlich so ist, weiß man eben erst sicher, wenn Mediziner dies unter kontrollierten Bedingungen untersucht haben. Daher ist der Blick auf die Studien so entscheidend.
Folgende Punkte können Journalisten helfen die Fallstricke zu umgehen:
- wird der Einzelfall vom Mediziner/Heiler etc. vorgestellt, prüfen/fragen, ob dies ein typischer Fall ist, und was ihn zu einem typischen Fall macht.
- nach anderen Fällen fragen, bei denen es nicht funktioniert hat (Was hat nicht funktioniert?)
- wenn es nur diesen einen Fall gibt (weil andere nicht erreichbar sind) erklären, was diesen Einzelfall von anderen unterscheidet, um klar zu machen, wie repräsentativ dieser Fall ist.
- klären, ob Verfahren/Therapie bereits in kontrollierten Studien untersucht wurden und die Ergebnisse mit dem Einzelfall vergleichen.
- nicht den Eindruck erwecken, eine Therapie/ein Verfahren funktioniert, wenn es nur Einzelfallbeschreibungen gibt.
Wichtig: All dies gilt auch, wenn nur durch Einzelfälle über Risiken berichtet werden soll. Es geht immer um die Einordnung ins gesamte Bild.
In diesem Lichte stellt sich dann die Frage, wie sinnvoll es überhaupt ist, über medizinische Interventionen in Talk-Shows zu diskutieren, wenn es doch nur darum geht, Geschichten zu erzählen. Solange es nicht gelingt diese einzuordnen und klar zu machen, wo das Problem dabei ist, droht der Talk Zuschauer falsch zu informieren. In welcher Form Studien und deren Ergebnisse dargestellt werden, wie über sie gesprochen wird, das ist dann noch einmal ein ganz andere Frage (für das Artikel-Format hat Medien-Doktor in diesem Blog schon einmal auf eine Möglichkeit verwiesen).
+++ Dieser Artikel stammt ursprünglich aus dem Blog des Medien-Doktor-Medizin-Projektes aus dem Jahr 2014. Der Medien-Doktor ist ein Projekt des Lehrstuhls Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund, um Medizin- und Umweltjournalismus zu analysieren, und Journalisten Tipps für die Berichterstattung zu geben. Ich bin Leitender Redakteur des Medien-Doktor Medizin. +++
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