Nachtrag 5, 15.2.2016: Das Umweltbundesamt hat eine Studie zur Obsoleszenz veröffentlicht. Demnach gibt es keine Hinweise auf eine geplante Obsoleszenz: “Eine gezielte kurze Produktlebensdauer, die die Hersteller mittels eingebauter Mängel erzeugen – die sogenannte geplante Obsoleszenz – kann in der aktuellen Studie nicht nachgewiesen werden.” Hier geht es zur Pressemitteilung und hier gibt es die Studie zum Download.
Nachtrag 3, 23.3.: Die “Studie”/das Gutachten, um das es hier geht, steht jetzt auch auf der Webseite eines der Autoren bereit, ergänzt durch die Slides des Vortrags aus dem Fachgespräch und Fotos aus dem Fachgespräch, dank an Andreas in den Kommentaren)
Leute, das muss jetzt gerade mal raus:
Diese Meldungen, die heute (Nachtrag: das war am Mittwoch, 20.3.2013) den ganzen Tag schon online laufen, gehen mir auf den Sack.
Da wird dauernd der Eindruck erweckt, als würde die Industrie generalstabsmäßig ihre Produkte so produzieren, dass sie möglichst kurz nach Ende der Garantiezeit (oder früher als es sollte) kaputt gehen (“geplante Obsoleszenz” ist das Stichwort).
Schönes Beispiel zum Beispiel hier:
#Studie: Immer mehr Hersteller bauen ihre Geräte mittlerweile so, dass sie nach wenigen Jahren unbrauchbar sind. ow.ly/jeWPk
— FrankfurterRundschau (@FRonline) March 20, 2013
Woher aber dieses “immer mehr” kommt, auf welchen Zahlen das beruht, bleibt der Artikel nicht nur in der FR schuldig.
Richard Gutjahr schreibt daher wohl zurecht:
@anhaeuser @textenfuersweb Immer mehr Journalisten schreiben “immer mehr”, wenn sie was vermuten, es aber nicht belegen können / wollen
— Richard Gutjahr (@gutjahr) March 20, 2013
Basis für diese Artikel ist ein Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, das am Mittwoch, 20.03.2013 im Rahmen eines Fachgespräches im Bundestag vorgestellt wurde.
Autoren des Gutachtens “Geplante Obsoleszenz / Entstehungsursachen – Konkrete Beispiele – Schadensfolgen – Handlungsprogramm” ist unter anderem Stefan Schridde, der das durchaus lobenswerte Portal “Murks – Nein, danke” betreibt, das sich für nachhaltige, längerlebige Produkte einsetzt und Beispiele für möglicherweise/angebliches geplantes vorzeitiges Ableben von Produkten sammelt. Aus diesem Fundus schöpft dann auch das Gutachten, in dem die Webseite auch vorgestellt wird.
Nur, wenn ich solche Sachen wie die folgenden in dem Gutachten lese, werde ich ein kleines bisschen kirre (Fettung jeweils von mir):
(zum Thema Glühbirnen und verkürzte Lebensdauer)
“Die bewussten, absichtlichen Vorgaben können offenbar nachgewiesen werden über interne, vertrauliche Akten, die ans Tageslicht kamen.”
“Der Konzern Du Pont verkürzte offenbar vorsätzlich über chemische Prozesse die Haltbarkeit der von ihm erfundenen Nylon-Damenstrümpfe in den 1940er Jahren.”
“Apple produzierte Anfang der 2000er Jahre iPods, die einen eingebauten, nicht austauschbaren Akku mit offenbar vorsätzlich begrenzter Lebensdauer von 18 Monaten hatten.”
“Einige Drucker sind offenbar so konstruiert, dass nach einer vorgegebenen Zahl von Druckvorgängen der Drucker seinen Geist aufgibt.”
“Insgesamt dürfte die Verbreitung von geplanter, gewollter oder billigend in Kauf genommener Obsoleszenz erheblich sein. Es handelt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um ein Massenphänomen. Ein sehr großer Teil der Produkte unseres alltäglichen Lebens dürfte davon betroffen sein.”
Sagt mal, spinn ich, oder was soll das? Offenbar. Dürfte?!
Hallo Daten, harte Fakten? Wer, wann, was?
Man möge mich drauf hinweisen, aber eine Statistik mit harten Daten zu der Frage, wie häufig das Phänomen in der Vergangenheit auftrat und wie häufig es heute auftritt, habe ich keine gefunden. Wie kommt man dann aber auf “immer mehr”. Ehrlich gesagt habe ich keine einzige Statistik zum Thema im gesamten Gutachten gefunden. Es gibt viele, gute Erklärungen wie Firmen uns mit neuen und immer schnelleren Produktreihen zu verstärktem (und nicht nachaltigem) Konsum anregen, wie sie billigere Bauteile verbauen, um günstigerer Produkte zu verkaufen und viele andere interessante Ansätzen, die einer Nachhaltigkeit von Produkten entgegen laufen. Aber Leute, damit könnt ihr doch nicht solche Meldungen raus hauen …
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich habe mich schon oft genug über Produkte geärgert, die man nicht mehr reparieren kann, oder eine Waschmaschine, die schon nach zwei Jahren kaputt war. Folge: Habe ich die Maschine einer anderen Marke gekauft.
Ob dieses ganze geplante Obsoleszenz-Dings nun echt ist oder nicht (und die Autoren schreiben selbst: “Wirklicher Vorsatz ist nur sehr schwer nachzuweisen”): Dieses Gutachten tut das nicht. Und die Meldungen darüber sind Bullshit.
So, besser jetzt …
Nachtrag 1: David Böcking von Spiegel Online beschreibt es einem zweiten Artikel auf Spiegel Online (der erste Artikel, eine AFP-Meldung lief noch ganz im Verschwörungsstil ab) dann zumindest so:
“Ansonsten sind konkrete Beispiele für vorsätzlichen Verschleiß in dem Papier Mangelware. Stattdessen liefern die im Gutachten zitierten Ingenieure für viele Fälle eine weit simplere Erklärung: Durch den enormen Wettbewerbsdruck stünden “praktisch alle Neuentwicklungen unter sehr starkem Kostendruck”. Und das billigere Teil ist nun einmal selten das langlebigere.
Damit wäre die Theorie von der Obsoleszenz aber weniger ein Beleg für eine großangelegte Verschwörung als vielmehr eine Kritik der Wegwerfgesellschaft – und damit auch ein Appell an die Verbraucher. Schließlich ist die Sparmentalität gerade unter deutschen Konsumenten stark ausgeprägt.”
Aber einen Link zur Studie lieferte auch er nicht mit.
Nachtrag 2: In der Aufregung gestern ist mir doch glatt ein ganzer Absatz verlustig gegangen, ohne dass ich es gemerkt habe, und zwar genau der Absatz mit dem Link zur Studie: Die fand sich dann nämlich noch (dank des Hinweises des Kollegen Stirn (@Stirn) auf den Servern von schwaebische.de als pdf.
Nachtrag 4, 24.3.2013: Noch zwei interessante Links zu Artikeln, die nicht dafür sprechen, dass es sowas wie eine “geplante Obsolenz” tatsächlich gibt:
- Bernd Hader hat einen Text zum Thema aus einem seiner Bücher im GWUP-Blog eingestellt:
“Also keine Verschwörung? Sondern nur zunehmende Wettbewerbsintensität und gestiegene Komplexität der Produkte?
Es sieht fast danach aus.
Und dann, plaudert ein Mitarbeiter vom IKEA-Kundenservice in seinem persönlichen Weblog aus, gibt es noch einen weiteren Grund für die Vielzahl der Reklamationen. Vielleicht der beunruhigendste von allen.
Nämlich wir.
Sprich: unbedarfte Anwender.”
- ein Interview mit Jürgen Nadler, wissenschaftlicher Leiter des Multimedia-Teams der Stiftung Warentest:
“Jürgen Nadler: Unsere Testarbeit hat bisher keine Anhaltspunkte dafür geliefert, dass von Anbietern bewusst Bauteile minderer Qualität eingebaut werden, um diese schnell unbrauchbar zu machen. Das bedeutet aber nicht, das alle Produkte lange halten.”
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