Zur Feier des Tages (60 Jahre Watson&Crick-Fachartikel zur Struktur der DNS) stelle ich hier exklusiv einen Artikel online, den ich 2010 geschrieben, aber nie veröffentlicht hatte.

Es geht um die Wahrnehmung des Artikels in der wissenschaftlichen Community. Bis vor einigen Jahren war man nämlich überraschenderweise der Meinung, dass das legendäre Paper aus dem Fachblatt Nature, lange Zeit kaum beachtet wurde. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2009 widerspricht dieser These – mit einem Berg von Daten.

Die Story interessierte mich auch, weil es eine Art “Clash of Methods” gibt, wie man diese Fragestellung nach der Wahrnehmung des wohl berühmtesten Fachartikels der Wissenschaft untersucht.

Der Artikel, um den es hier zentral geht ist, stammt von Yves Gingras, einem kanadischen Wissenschaftssoziologen.

J Hist Biol. 2010 Spring;43(1):159-81.
Revisiting the “quiet debut” of the double helix: a bibliometric and methodological note on the “impact” of scientific publications. (pdf)
Gingras Y.

Wichtig: Mein Artikel ist aus dem Jahr 2010, ich habe das dann nicht mehr weiter verfolgt. Sollte sich also etwas wesentliches getan haben zu diesem Thema, ist das hier sicher nicht berücksichtigt. Auch die Zitate stammen aus dieser Zeit, möglicherweise stimmen sie nicht mehr mit den Meinungen der Befragten heute überein.

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Watson&Crick: Der Artikel, den niemand gelesen hat?

1953 war ein aufregendes Jahr für Großbritannien und die Welt. Die Queen bestieg den Thron, Edmund Hillary den Mount Everest und zwei unbekannte britische (siehe Kommentar) Wissenschaftler der britischen Universität Cambridge veröffentlichten im Fachmagazin Nature einen Artikel, in dem sie eine Struktur für den Code des Lebens vorschlugen: Die DNS-Doppelhelix. Neun Jahre später erhielten John Watson und Francis Crick dafür den Nobelpreis. Doch während die Medien sich 1953 vor Begeisterung überschlugen angesichts der Besteigung des britischen Throns und des höchsten Berges der Welt, nahmen sie von Watson und Cricks Arbeit praktisch keine Notiz. Gerade einmal ein Artikel fand sich in einer englischen Zeitung. Ein Report für das US-Magazin Time sah nie das Licht der Öffentlichkeit. Das ist für solche wissenschaftlichen Entdeckungen gar nicht mal ungewöhnlich. Doch selbst in der wissenschaftlichen Community soll sich die Begeisterung arg in Grenzen gehalten haben. Das ist zumindest seit einigen Jahren die anerkannte Meinung unter Wissenschaftshistorikern. Der inzwischen legendäre Artikel sei in den ersten Jahren „fast in Vergessenheit“ geraten, schrieb etwa der Wissenschaftshistoriker Robert Olby zum goldenen Jubiläum 2003 in Nature und belegte seine Aussage mit einer Statistik, die die Währung der Wissenschaft untersucht: Wie häufig ein Artikel von anderen zitiert wird. Während die Zahl der Texte über DNS in den fünfziger Jahren in Nature und Science zugenommen hatten, sei Watson und Cricks Doppelhelix und folgende Artikel in beiden Heften immer seltener zitiert worden. Seine Kollegin Soraya de Chadarevian von der University of Cambridge sieht es 2006 als allgemein anerkannt an, dass Watson und Cricks Artikel in der Anfangszeit keinen „unmittelbaren Einfluss“ hatte – und bezieht sich dabei auf Olby. Der Biologe Peter Lawrence schrieb 2007 schließlich: „Das wichtigste Paper des 20. Jahrhunderts wurde in den ersten zehn Jahren kaum zitiert.“ Ebenfalls mit Verweis auf Olby.
Das ganze hat aber mehr von einem Mythos, denn von wissenschaftlicher Wahrheit. Dass dieser Mythos sogar eine Mär ist belegt nun der Franzose Yves Gingras von der kanadischen Université du Québec à Montréal mit einer atemberaubend umfassenden Analyse im aktuellen „Journal of the History of Biology“. Gingras kommt zum gegenteiligen Ergebnis:„Tatsächlich hatte der Artikel von Watson und Crick unmittelbaren und langanhaltenden Einfluss“, sagt der Historiker.
Mit der bisherigen Diskussion hat zwei Probleme: „Niemand hat den Begriff Impact wirklich definiert?“ sagt er. Was bedeutet das eigentlich. Wie misst man das? Nur einen Blick auf Nature oder Science zu werfen, sei eigentlich auch nicht besonders aussagekräftig. Gingras: „Das sind Magazine mit Artikeln aus allen möglichen Forschungsfeldern, in denen zwar große und wichtige Entdeckungen bekanntgegeben werden. Die weitere Forschung verlagert sich dann aber in die Fachmagazine der jeweiligen Disziplinen.“ Um zu überprüfen, ob die Wahrnehmung wirklich so „lauwarm“ war, wie Olby es beschreibt, untersucht man also besser alle passenden Fachzeitschriften“, sagt Gingras.
Und das hat er gründlich getan. Statt nur den Jahrgang zweier Wissenschaftsmagazine zu bearbeiten, nahm er sich gleich alle greifbaren Fachzeitschriften zwischen 1953 und 1970 vor. Ausgangspunkt für seine Suche war die Datenbank des privaten Informationsanbieters Thomson Reuters. Der bietet für den Zeitraum Zugriff auf fast 3700 Magazinen aller wissenschaftlichen Disziplinen mit 3,8 Millionen Artikeln und über 40 Millionen Verweisen an. Nach einer ersten Suche blieben schließlich noch 230 Magazine, mit einer Million Artikel und 12 Millionen Zitierungen in Disziplinen wie Kristallografie, Mikrobiologie, Biochemie und Genetik übrig.
Doch damit nicht genug. „Für eine Aussage über die Bedeutung des Papers in seiner Zeit, muss man es mit zeitgenössischen Artikeln vergleichen“, sagt Gingras. Auch das macht er umfassend, nämlich gleich mit allen 1737 wissenschaftlichen Artikeln, die 1953 ebenfalls in Nature veröffentlicht wurden.
Das Ergebnis stellt Sicht auf die Bedeutung des Watson und Crick Artikels auf den Kopf. Von wegen „schlafende Schönheit“, die fast in der Versenkung verschwunden wäre: „Von allen Nature-Artikeln aus dem Jahr 1953 ist dieses das bei weitem meist zitierte“, sagt Gingras. Von 1953 bis 1970 wird es insgesamt 783 Mal zitiert. Das folgende nur 455 Mal.An dritter Position liegt ein weiterer Artikel der beiden britischen Autoren mit 395 Zitierungen. Die Zahlen belegen auch in den ersten zwei Jahrzehnten das Ikonenhafte des Papers. Während alle Nature-Paper nach dem ersten Jahr immer seltener zitiert werden, bleibt die Zitationsrate beim W&C-Paper über Jahre konstant. Sogar die Halbwertszeit des Paper ist mit zehn Jahren drei Jahre länger als bei den anderen Paper.
Zwar gibt in den zwei Jahrzehnten der Nobelpreis 1962 dem Artikel noch einen zusätzlichen Schub. Doch auch schon in den Jahren davor ist Watson und Cricks Text das meist oder zweit meist zitierte Paper aller 1953 in Nature veröffentlichten Texte.
Robert Olby und Soraya de Chadarevian begrüßen zwar auf Nachfrage Gingras aufwändige Analyse. Doch sie finden, Zitate zu zählen, erzähle nur die halbe Geschichte. „Zitate sagen nur etwas über die Sichtbarkeit des Artikels innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde“, meint Olby. Über den tatsächlichen Einfluss der Ergebnisse sage dies nur wenig aus. „Einen Artikel zu zitieren, bedeutet ja nicht, dass man ihn auch verstanden hat, ihn zum Anlass für eigene Experimente nimmt oder dessen Ergebnisse lehrt“, sagt Olby. Durch eigene Recherchen kenne er selbst Beispiele von Wissenschaftlern, die den ersten berühmten Artikel, in dem es um die Struktur der DNS gehe, nicht verstanden haben, dafür aber den zweiten, seltener zitierten Artikel, in dem die biologische Bedeutung des Replikationsmechanismus’ beschrieben wird. „Sie sagten damals, das Paper sei über Ihre Köpfe hinweg geschossen“, sagt Olby. Auch Soraya de Chadarevian wirft Gingras vor nur die Sichtbarkeit des Artikels zu erfassen nicht seine kulturelle Bedeutung. „Selbst Watson gestand ein, dass ihr Artikel nur eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern wirklich erreichte, die nur darauf gewartet hatten, dass die Entdeckung endlich gemacht werde.“
Yves Gingras findet die Kritik nicht überzeugend. „Das kann man nicht ernsthaft meinen, angesichts dieser übewältigenden Datenmenge, all die Wissenschaftler, hätten den Artikel nur aus Spaß zitiert, hätten ihn nicht verstanden und konnten ihn nicht gebrauchen.“ Olby betreibe eine klassische, bewertende Wissenschaftsgeschichte, indem er möchte, dass dieLeute etwas verstanden haben. Er dagegen betreibe eine moderne Soziologie der Wissenschaft, wo Wissenschaftler Artikel aus vielen verschiedenen Gründen verwenden. Natürlich könne man mit bibliometrischen Methoden keine kulturhistorische Analyse ersetzen. Aber: „Sie sprachen von wissenschaftlichem Impakt und nicht von Kulturhistorie. Und diesen Einfluss kann man anhand von Zitaten messen“, sagt Gingras. Die Aussagen einzelner Wissenschaftler hervor zu graben, sei in gewisser Hinsicht brauchbar, aber es könne einem nie den globalen Blick auf das Phänomen liefern. Und schließlich: Erst seine Ergebnisse erklärten doch, warum Watson und Crick schon nach relativ kurzer Zeit, nämlich nur neun Jahre nach ihrer Veröffentlichung 1962 den Nobel Preis bekommen konnten. „Wie kann man das erklären, wenn der Artikel fast in Vergessenheit geraten wäre.“

Kommentare (8)

  1. #1 CM
    25. April 2013

    Laemmli-Gele? Klar schon im Studium gehört. Aber das es ein Paper dazu gibt und was das beinhaltet – das werden zunächst die wenigsten am Anfang ihrer Laufbahn wissen (und ich gebe zu es, daß ich mal gelesen habe, weil es mich fuchste es nicht zu wissen – inzwischen kenne ich den Inhalt aber nicht mehr gut).

    So, oder so ähnlich, dürfte es vielen Biologen & Medizinern gehen – und in anderen Fächern gibt es sicher ähnlich wegweisende Paper, die viel zitiiert, aber kaum gelesen sind. Nicht gelesene Paper sind natürlich auch unverstanden.

    Aber: Die Watson & Crick-Paper kennzeichnet eben nicht eine bestimmte Methode, wie bei Laemmli, um derenwillen sie zitiert werden und wurden, sondern eine klar zu benennde inhaltliche Aussage.

    Und genau deshalb finde ich auch das kulturhistorische Argument schwach: Klar hatten die wenigsten Biologen zu dieser Zeit das physikalische Grundlagenwissen (wenn auch drei Jahrzehnte früher beschrieben, war die H-Brückenbindung eher was für die physkal. Chemie dieser Zeit und weniger für die Biologie) alle Details zu erfassen, aber das Prinzip der Basenpaarung ist nicht schwer zu verstehen.
    Und damit: Hunderte Zitate trotz Unverständnis? Kaum zu glauben.

    (Fußnote: Die methodischen Paper, in denen z. B. Crick sich über die Analyse von Röntgenstreudaten helikaler Strukturen auslässt, dürften wirklich von den meisten Biologen unverstanden sein und u. a. deshalb auch nicht zitiert werden – und natürlich auch, weil sich die Methodik weiterentwickelt hat und dennoch selten benötigt wird.)

  2. #2 Uli
    25. April 2013

    “Das wichtigste Paper…”

    Nun, da gehen die Meinungen wahrscheinlich auseinander.

    Das Paper “Elektrodynamik bewegter Körper” von diesem A. Einstein war ja auch relativ wichtig… ;-)

  3. #3 Phero
    26. April 2013

    Ich glaube, es geht um innerhalb der Biologie…

  4. #4 Marcus Anhaeuser
    26. April 2013

    @Uli, ich müsste noch mal nachschauen, ob allgemein oder innerhalb der Lebenswissenschaften gemeint.

  5. #5 kandinsky
    Hamburg
    29. April 2013

    Vielleicht darf ich an dieser Stelle mal Rosalind Franklin erwähnen und in Erinnerung rufen!

    https://de.wikipedia.org/wiki/Rosalind_Franklin

    Rosalind Franklins Arbeit trug Wesentlich! zur Entschlüsselung der DNS bei und ich finde sie hat es verdient in einem Atemzug mit Watson und Crick genannt zu werden.

    MfG,
    Kandinsky

  6. #6 Marcus Anhäuser
    29. April 2013

    @kandinsky
    danke, inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass es es keine Berichte, Artikel oder Dokumentationen mehr gibt, bei dem dieser Hinweis nicht erfolgt. In diesem Fall habe ich einfach mal darauf verzichtet, weil es um den Fachartikel (der ja von Watson und Crick stammt) und seine Rezeption in der Wissenschafts-Community. Man muss ja nicht jedesmal die gesamte Geschichte erneut erzählen.

  7. #7 Oliver Hochadel
    zwei unbekannte britischen Wissenschaftler
    3. Mai 2013

    James Watson ist US-Amerikaner!

  8. #8 Marcus Anhäuser
    8. Mai 2013

    Hallo Oliver,
    verdammt, das passiert, wenn man einen zwei Jahre alten unredigierten Artikel online stellt. Danke für den Hinweis, ich hab’s korrigiert, sodass der Einstieg trotzdem passt.