Zurzeit kriechen Verschwörungstheoretiker (oder besser: Verschwörungsmystiker) wieder aus allen Ecken, von ganz links und ganz rechts treffen sie sich zu gemeinsamen Demos (wie krass), lassen sich von einem Koch und einem geschassten Radiomoderator die Welt erklären oder leiden mit einem Deutsch-Soul-Sänger, der bitterliche Tränen vergisst.
Und viele von uns stehen nur fassungslos daneben und würden Ihnen gerne entgegenrufen: “Was ist los mit Euch?” Das lassen wir dann aber, weil wir auch noch anderes zu tun haben und fragen uns nur insgeheim: “Wie konnte das passieren?”
Wie ein Mensch auf solche Pfade geraten kann, hat der Redakteur Christoph Klein in einem beeindruckend offenen Twitter-Thread beschrieben. Damit das auch andere lesen können, die nicht bei Twitter sind, habe ich ihn um Erlaubnis gebeten, seine Geschichte hier online zu stellen.
Wer mehr über Christopher erfahren möchte, der an der Ludwig-Maximilians Universität München Literaturwissenschaft, Linguistik und Soziologie studiert hat, hier geht es zu seiner Webseite.
Wer Links zu Artikeln oder Forschung zur Frage, wie man in diese Szene rutscht, hat, kann diese gerne in den Kommentaren unterbringen. Das hier ist natürlich nur eine von vielen Varianten, zeigt aber vielleicht auch das ein oder andere Typische solchre Laufbahnen. Vor allem zeigt es, dass es auch wieder rausgehen kann.
Der erste Tweet erscheint im Twitterformat, den Rest habe ich aus dem Format gelöst, der besseren Lesbarkeit wegen (es wird immer der vorherige Tweet mit angezeigt, sodass jeder Tweet doppelt erscheint, was blöd ist.).
Wer den Thread und die Reaktionen auf Twitter lesen will, klicke einfach auf den ersten oder den letzten Tweet.
Anlass für Christopher war ein Thread der Autorin und Aktivistin Katharina Nocun zum Thema Verschwörungstheorien.
Ein sehr guter Thread von @kattascha zu #verschwoerungstheorien und deren psychologische Spins. Ich Fülle das mal mit Selbsterfahrung, #twitterbeichte inklusive. Wie gerät mein rein und wie kommt man wieder raus? Hier meine Gedanken, Peinlichkeitsgefühl inklusive. (1/x) https://t.co/y3GsOPbkJi
— Christopher Klein (@basilandme) May 12, 2020
“Nach dem abgeschlossenen Studium (Germanistik) kam ich in die Agentur- und Medienwelt, stieg schnell auf und war ebenso schnell durch. Nach 6 Jahren in 2 Stellen ausgebrannt. Dann mit eigener Agentur selbstständig, große Kunden, doch ich merkte, ich kann nicht mehr. Unsicherheit.
Ich merkte, dass, egal, was ich (beruflich) mache, ich komme aus “dem System” nicht heraus. Ich fühlte mich ohnmächtig. Beschäftigte mich immer mehr mit “Systemkritik”. Das tat erst einmal gut, denn man kommt sich nicht alleine vor. Da sind andere.
Aber psychologisch wichtiger ist die Entlastung: ‘Es (Scheitern, innere Konflikte) liegt nicht an mir’. Und da ist ein mediales Angebot, das diese Entlastungserzählung untermauert: ‘Das System versklavt uns’. Vorsicht: Das hat nichts mit valider politischer Kritik zu tun.
Das Narrativ ‘Das System versklavt uns’ beinhaltet in sich unzählige Chiffren, die nicht mit stichhaltiger Kritik kommen, sie erklären nicht, sie verklären. Wenn man aber im Loch sitzt, merkt man das nicht. Es validiert das eigene Gefühl der Machtlosigkeit und schafft etwas:
Antriebslosigkeit, Scham wird umgewandelt in Wut. Und das ist in dem Moment der depressiven Stimmung sehr hilfreich. Es kanalysiert die eigene erlebte Machtlosigkeit auf einen Gegner: ‘Die Elite’. Ein Schlüsselmoment war ein Film über 9/11 und was “uns nicht erzählt wurde”.
Das hinterließ einen regelrechten Schock. “Wenn sie uns das vorspielen können, was noch?” Daher fungiert die Verschwörungstheorie um 9/11 wie ein Entry-Point. Ab da ist man so in seinem Weltbild verunsichert, dass man (fast) alles glaubt. Das war damals 2012 oder 2013.
Ab dem Zeitpunkt war ich offen für Daniele Ganser, KenFM, Mausfeld und viele mehr. Die Wut auf “die Medien” nahm zu: “Warum sagen die uns das nicht?” – “Und dafür soll ich GEZ zahlen?” Und plötzlich befindet man sich ganz konkret in der Auseinandersetzung mit Behörden.
Das verunsichert immer weiter, man kommt sich vor wie in einem Film, die Übersicht hatte ich da längst verloren. Denn alles, also wirklich alles, wird hinterfragt, und zu allem findet man etwas, nur einen Klick entfernt. 2014 war der Tiefpunkt, das Leben ein von “gierigen Eliten”
verdunkelter Zorn. Dass meine Partnerin ausgehalten hat, wundert mich bis heute und ich bin ihr mega dankbar dafür. Denn es ist wirklich wie ein Wahn. Ich hing pro Tag unzählige Stunden im Netz. Es gibt zahllose “Privatdokus” auf Youtube, die dauern 2-3 Stunden.
Was hat mich wieder herausgeholt? Es war das Jahr 2015 und der krasse Rechtsruck. Ja, noch zu Syrien war ich voll drin, Putin war für mich noch gut und Assad ein “demokratisch gewählter Staatsmann”. Aber ich hatte mit den Menschen, die flüchten mussten, echt Mitleid.
Und die Agitation gegen diese Menschen verstörte mich zusehends. In Foren, unter Videos von Ganser (den ich heute so bescheuert finde) kamen immer mehr sehr rechte Meinungen zu Tage. Ich stand 1992 gegen Nazis auf der Straße und das war für mich ein absolutes no go.
Ein User fragte unter einem KenFM Video mit Hörmann, warum keiner widersprach, als er sagte, die NSDAP wollte nur ein neues Finanzsystem. Da fing es an, bei mir zu bröckeln und ich schaute nach Kritik an Jebsen, Ganser & Co. Und Gott, den es nicht gibt, sei Dank, ich fand sie.
Viele geduldige User*innen, zahlreiche schlaue Freunde und Gespräche später las ich nach Jahren wieder Adorno, Luhmann und neue Entdeckungen wie Salzborn. Ich beschäftigte mich seit langem wieder mit Literatur. Und damit, was valide Kritik, was Politik, was Gesellschaft ausmacht.
Ich ging zu Antifatreffen, half in der Flüchtlingskrise, sprach mit vielen und lernte viele sehr nette Leute kennen. Und plötzlich ist das Leben viel leichter, echter, freundlicher. Wenn man in dem Schwurbel drin hängt, ist alles dunkel, böse und man ist voller Wut.
Dieses simplifizierende Weltbild reduziert auch einen selbst, reduziert Handlungsmöglichkeiten und engt den Horizont massiv ein. Komplexität in dieser Welt aber auch in sich anzuerkennen, macht das Leben vielfältiger und einfach realer.
Aus heutiger Sicht ist mir meine Schwurbelphase von 2 oder 3 ( irgendwann 2012 bis 2015) Jahren echt sehr peinlich. Besonders wenn man studiert hat und damals Foucault, Derrida, Deleuze etc. büffelte, ist es mir beinahe unverständlich, wie ich dort rein rutschen konnte.
Aber ich bin auch stolz, das hinter mir gelassen zu haben. Wenn ich mich frage, was mich wieder “raus” brachte, dann sind das mehrere Faktoren. Aber der Wert, niemals ein Nazi sein zu wollen, und zu erkennen, dass da ganz viele in der Ecke mitmischen, war sehr wichtig.
Aber auch zu kapieren, dass diese Weltsicht Denken verhindert und eben nicht aufklärerisch ist sondern vielmehr als Gegenaufklärung fungiert, war für mich extrem hilfreich. Es gibt zudem zahlreiche Bücher, die ich sehr gut fand:
Zuvorderst “Nichts ist, wie es scheint” von Michael Butter. Dann natürlich Karl Popper, Adorno. Und “Globaler Antisemitismus” von Samuel Salzborn – denn im Grunde gehen die meisten VTen auf antisemitische Narrative zurück.
Mich kostet dieser Thread echt Überwindung aber ich glaube, es könnte eventuell dazu beitragen, das aktuelle Phänomen um die #Covidioten zu verstehen. Und folgt der @gwup, die haben mir oft sehr sehr geholfen. Danke für die Aufmerksamkeit. Bei Fragen, fragt gerne. Duck und weg 😉”
https://twitter.com/basilandme/status/1260180923196325889
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