Wer noch ein bisschen Futter braucht für die These, der Wissenschafts- und Medizinjournalismus dieser Tage gerate qualitativ mehr und mehr in die Krise (obwohl er so viel Raum hat wie nie), der findet Bestätigung in einem Artikel des Wissenschaftsjournalisten Michael Gross im Fachmagazin Ethics in Science and Environmental Politics.
(schon im Oktober 08 online veröffentlicht, ich und andere wurden durch einen Hinweis der Chefredakteurin erst jetzt darauf aufmerksam).
Nach 15 Jahren im Geschäft hat er (hier sein Blog und seine Homepage) den Eindruck, die Branche liefere zunehmend “Fast food” statt Gehaltvolles.
(…) my impression is that science reporting, both in the newspaper and in the magazine market, is gradually losing depth and relevance due to the general acceleration of the process and the competition to present headline-grabbing material before everybody else. Science reporting is being turned into fast food.
Oder auch so:
“I have observed that the competition for readers’ attention and the general acceleration of communications has restricted the range of scientific subjects that can be reported. Only topics that can be presented in a tempting light and easily digested tend to survive, replacing food for thought with a more superficial mental diet.”
Als er 1993 mit einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung anfing, erschien deren Wissenschaftsteil noch einmal in der Woche. Er schaffte den Einstieg ins Geschäft mit einem Beitrag über die Kristallstruktur der Nitrogenase, dem Enzym, mit dem es Knöllchenbakterien schaffen, den Stickstoff der Luft in Ammoniak umzuwandeln.
Ob ihm das heute wohl nochmal so gelänge, da hat er seine Zweifel:
“Today, I cannot think of any non-specialist publication that would let me get away with 750 words about such a demanding topic.”
Inzwischen hat die Süddeutsche oder etwa der Guardian, für den Gross ebenfalls schrieb, tägliche Wissenschaftsseiten, aber dem kann er (im Fall des Guardian) nichts abgewinnen:
“While the paper tried to sell the move as a promotion for science, out of the ghetto and into the real world, I got the impression that less of it made the cut, as much of the daily ‘science’ page is dominated by material that is newsy all right, but not very relevant by scientific criteria.”
Gross wechselte mit dem Verschwinden der wöchentlichen zur täglichen Seite zu den Monatsmagazinen, die mehr Raum und Tiefe böten. Doch auch da begegnet er dem “schneller, früher, erster” des Nachrichtengeschäfts, etwa im Newsbereich von Chemistry World, der online erscheint.
“Chemistry World now publishes news online as fast as possible. With stories based on papers in the leading scientific journals such as Nature and Science, which typically come with an embargoed advanced press release, the Chemistry World news team aim at putting their story online the very minute the embargo is lifted.”
Folge:
“For us contributors, this means that we have 3 days to pitch a topic to the editors, talk to the scientists involved and to at least one independent expert, and to write it up and submit it. At this rate it is inevitable that the reporting loses depth, and errors may creep in. If we spot flaws in the original research, we often don’t have time to go to the bottom of the issue. It is also becoming more difficult to generate a steady and reliable income from this type of work.”
Seine Hoffnung/Forderung ist logischerweise:
“Rather than shrinking science reporting into ever faster and shorter snippets, we should look at ways in which we can invest more time and space into explaining to the general public the more demanding, but also more rewarding, insights that science is obtaining now.”
Mhm, ist das alles so? Ich arbeite nicht ganz so lange in der Branche (seit etwa zehn Jahren). Ist der Wissenschaftsjournalismus schlechter geworden? Ich habe auch hin- und wieder meine Zweifel, ob dieses “schneller, früher, erster” unbedingt auch im Wissenschaftsjournalismus nötig ist.
Hat der Wissenschaftsjournalismus vielleicht seine “Langsamkeit” aufgegeben, weil wir glaubten, echter Journalismus müsse so sein/sei eben so, und wenn wir und die Wissenschaft als Gleichberechtigte/Ebenbürtige/”genauso Wichtige” wahr genommen werden wollen, müssen wir eben auch täglich berichten wie die Politik, die Kultur, der Sport?
Hat sich die Zunft damit vielleicht einen Bärendienst erwiesen?
Gross’ Betrachtung ist eine persönliche Sichtweise. So plausibel die These klingt, die er vertritt: Hat das mal jemand irgendwie empirisch untersucht? Ist die Wissenschaftsberichterstattung der SZ schlechter geworden nach dem Wechsel zur täglichen Seite. Ist die tägliche Berichterstattung schlechter als etwa die wöchentliche in der FAS oder der “Zeit”? Gibt es mehr Fehler?
Und von wegen oberflächlicher: Könnte es nicht auch so sein, dass früher in einer Tiefe berichtet wurde, in die kein “normaler” Zeitungsleser mehr folgen konnte? Sind die Wissenschaftsseiten nicht eigentlich journalistischer geworden, lesbarer, schöner anzusehen als früher?(vergleichen wir zum Beispiel die FAS mit den FAZ-Wissenschaftsseiten).
Und Spiegel Online? Treiben die als führendes online-Medium die Beschleunigung noch an und die anderen vor sich her?
Oder ist Gross im Laufe der Jahre einfach kulturpessimistischer geworden und wehrt sich gegen Veränderungen, die auch bedeuten, das er seine Sicht/seine Arbeitsweise ändern müsste, mit einem “früher war’s einfach besser”?
Eine Menge Fragen … mal wieder.
Bildquelle: Wikimedia
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