Vorsicht: das hier ist lang und kompliziert, und die Pointe kommt erst ganz, ganz am Schluss …

Mittwochmittag, nach der von der Leyen Pressekonferenz zum 4. Armutsbericht,  schrieb ich (nach dem Text zur grauslichen Infografik) das Folgende zum Thema “Der Satz, der aus dem Armutsbericht gefallen war” in die WordPress-Maske, weil mir etwas aufgefallen war:

Noch ein Nachtrag zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung (hier hatte ich schon was zur Darstellung der Vermögensverteilung in  der Infografik erklärt):

In der Pressekonferenz der Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen heute Mittag wurde auch noch mal der Aspekt dieses ominösen Satzes besprochen, der auf Betreiben der FDP aus dem Bericht geflogen war. Die Ministerin erklärte dazu heute:

“Der Satz ‘Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt.’, den habe ich heute mehrfach gelesen und gehört, dass der rausgestrichen wäre. Hier können wir gleich eine Mär beenden: Wenn Sie auf die Seite 343 gehen, dann sehen Sie den Satz: ‘Hinter diesen Durchschnittswerten steht eine sehr ungleiche Verteilung der Privatvermögen.’ Das ist ein Faktum, das sieht man in den Tabellen und das wird auch klar in dem Bericht dokumentiert.”

Nun ja, sie hat irgendwie Recht, aber auch wieder nicht. Einem Journalisten würde man vielleicht vorwerfen, er habe den Satz aus dem Zusammenhang gerissen.

Tatsächlich ist der Satz um den es ursprünglich ging, in der veröffentlichten Fassung des Berichts in seinem Wortlaut nicht mehr enthalten. Er stand im 2. Entwurf auf Seite römisch 9 (IX) der Übersicht des Berichts, die dem eigentlichen Bericht vorangestellt ist. Er ist direkt nach der Infografik eingefügt:

“Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt. So verfügen die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung nur über gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich vereinen. Der Anteil des obersten Dezils ist dabei im Zeitverlauf immer weiter angestiegen.” 

In der veröffentlichten Version heißt es jetzt (im vergleichbaren Textabschnitt auf Seite VII, diesmal oberhalb der Grafik):

“Zur Verteilung der Privatvermögen in Deutschland liegen für den Berichtszeitraum Daten aus dem Jahr 2008 vor. Danach verfügen die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung nur über gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich vereinen. Der Vermögensanteil des obersten Dezils ist dabei im Zeitverlauf immer weiter angestiegen.”

Weg ist er der Satz.

Den Satz, den von der Leyen anführt, findet sich auch schon im Entwurf, auf Seite 333. Allerdings in einem etwas (um nicht zu sagen völlig anderen Zusammenhang). In diesem Abschnitt geht es nämlich nicht darum, wie sich die Anteile der Vermögen auf die einzelnen Zehntel der Bevölkerung verteilen (und damit zeigt, wie Armut und Reichtum in Deutschland generell verteilt sind). Es geht um eine Erklärung des durchschnittlichen Nettogesamtvermögens von rund 118.000 Euro je Haushalt (2008) und die Verteilung des Vermögens in West- und Ostdeutschland. Es folgt eine Tabelle (C I.7.1, Geld- und Immobilienvermögen sowie Schulden privater Haushalte, 1998 bis 2008), die dies in Werten für Gesamtdeutschland, Westdeutschland und Ostdeutschland für die Jahre 98, 03 und 08 auflistet.

Dann folgt der Satz: “Hinter diesen Durchschnittswerten steht eine sehr ungleiche Verteilung der Privatvermögen.” Und weiter:

“So zeigen sich – im Wesentlichen als Nachwirkung der deutschen Teilung – erhebliche Unter- schiede zwischen West- und Ostdeutschland. Während die westdeutschen privaten Haushalte im Durchschnitt über ein Immobilien- und Geldvermögen von rund 132.000 Euro verfügen, um- fassen die Vermögen der ostdeutschen Haushalte mit rund 55.000 Euro im Durchschnitt nur knapp 42 Prozent des Betrages der westdeutschen Haushalte.”

Diesen Artikel habe ich dann aber nicht online gestellt. Aus folgendem Grund: Bis zu der zitierten Stelle stimmt alles, was da oben steht, doch dann habe ich den “Fehler” gemacht und weiter gelesen im Text – und da hatte ich dann das Gefühl: “Okay, es geht eben nicht nur um Ost-West, sondern auch – wie schon an der ursprünglichen Stelle – um die Verteilung in der Gesamtgesellschaft. Der Kontext ist im Großen und Ganzen derselbe. Zwei Absätze weiter (s. 344) heißt es nämlich:

“Betrachtet man die Haushalte nach der Höhe des Vermögens, so zeigt sich, dass die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung nur über gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens verfügen, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich vereinen. Der Anteil des obersten Dezils ist dabei im Zeit- verlauf immer weiter angestiegen.”

 

— lange Pause —

 

Und dann lese ich eben (Donnerstagabend) das Folgende bei Spiegel Online im “Münchhausen-Check”:

“Die SPD wirft der Bundesregierung beim Armutsbericht “Fälschung” vor – wie “in totalitären Staaten”. Arbeitsministerin von der Leyen hält dagegen. SPIEGEL ONLINE und die Dokumentationsjournalisten des SPIEGEL machen den Faktencheck: Hat die Bundesregierung den Bericht geschönt?”

Es folgt die ganze schöne Geschichte im Zusammenhang mit der Streichung des Satzes und dem Hinweis der Arbeitsministerin in der Pressekonferenz (über den, laut Spiegel Online, der Focus als “Triumph” berichtet), und dann schreibt Spiegel Online mit Verweis auf die Stelle auf S. 343 im Armutsbericht:

“Doch lesen wir, was dort tatsächlich steht:

Hinter diesen Durchschnittswerten steht eine sehr ungleiche Verteilung der Privatvermögen. So zeigen sich – im Wesentlichen als Nachwirkung der deutschen Teilung – erhebliche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland.

Das steht erstens an weit weniger prominenter Stelle und erscheint zweitens in einem anderen Kontext, nämlich dem der Ost-West-Spaltung. Deshalb kann unseres Erachtens diese Passage nicht als vollwertiger Ersatz für die Streichung vorne herhalten.”

Mit der Prominenz der Stelle haben die Kollegen vielleicht Recht, aber sonst … ?!

Was soll ich sagen: Hätte ich meinen Artikel ja doch online stellen können ;-)

Ein Witz: Der Focus liest gar nicht was in dem Zusammenhang im Bericht steht (oder lässt es unter den Tisch fallen, weil es in den Kram passt), und Spiegel Online liest es zwar, aber nicht weit genug (oder lässt es unter den Tisch fallen, weil es in den Kram passt).

Politischer Journalismus … boah

 

Kommentare (12)

  1. #1 Erbloggtes
    7. März 2013

    Ich würde SpOn grob zustimmen, zumal sie es ja subjektiv formulieren: “Deshalb kann unseres Erachtens diese Passage nicht als vollwertiger Ersatz für die Streichung vorne herhalten.”
    Zur Prominenz der Stelle kommt nämlich der Aspekt hinzu, in welchen Zusammenhang die Vermögensverteilung primär gesetzt wird:
    Auf S. IX des Entwurfs war das ein oben/unten-Kontext, der den Diskurs von der auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich bedient. Auf S. 343f. des fertigen Berichtes ist es ein Ost/West-Kontext, der einen ganz anderen Diskurs bedient und auf diese Weise auch andere politische Maßnahmen suggeriert.
    Der andere Diskurs wird durch “Nachwirkung der deutschen Teilung” gekennzeichnet. Damit wird die ungleiche Verteilung quasi durch eine Naturkatastrophe erklärt, für die keinesfalls die CDU verantwortlich ist. Indem da “Nachwirkung der deutschen Teilung” steht statt “Nachwirkung der Wiedervereinigung”, wird die Verantwortlichkeit für Armut in Deutschland quasi Stalin aufgeladen (für Progressive CDUler vielleicht auch Hitler). Das finde ich eine Pointe.

    (Seite 333 steht oben einmal. Evtl. ist Seite 343 gemeint.)

  2. #2 Marcus Anhäuser
    8. März 2013

    Naja, was die Prominenz der Stelle angeht, bin ich d’accord, steht ja oben, aber ich finde, wenn man das zu Ende liest, ist es nicht mehr so eindeutig wie beschrieben.

    S. 333 muss da hin, weil es im Entwurf auf Seite 333 steht. In der veröffentlichten Fassung auf Seite 343.

  3. #3 Helga Kleisny
    8. März 2013

    Auch früher hochwertige(re) Journalismus-Produkte wie Spiegel oder Focus haben ihre Redaktionen startk ausgedünnt, zumindest, was die Qualität der Journalisten betrifft. “Das machen wir jetzt selbst” (Zusammenschnitt aus Onlineblabla), statt externe Fachjournalisten zu beauftragen. Leider nimmt die “normale” Öffentlichkeit von Niedergang des klassischen Journalismus, der auf internsiven Kenntnissen des Faches und intensiver Recherche des Falles fußt, keine oder zu wenig Kenntnis.
    Blogger sind eine sinnvolle Ergänzung, eine wundervolle Bereicherung des Informationsgewinns, aber in den meisten Fällen kein Ersatz für ausgebildete Journalisten.
    Zudem ist gerade bei den Jungspunden der Datenjournalismus (https://de.wikipedia.org/wiki/Datenjournalismus) überaus beliebt. Das Fach Mathematik oder Statistik meist weniger.
    Dass da der Pfusch überhand nimmt (nach dem Motto: ich interpretiere die Zahlen/Fakten so wie ich kann) ist leider die Folge.
    Siehe auch
    https://www.kleisny.de/blogd/2013/02/datensammlung-ohne-zu-hinterfragen/
    und
    https://www.kleisny.de/blogd/2012/12/serioser-journalismus-hat-chancen/

    • #4 Marcus Anhäuser
      8. März 2013

      @Kleisny (hatte ich eigentlich schon Hallo gesagt? Hallo!),
      mhm, in dem Fall greift deine Kritik aber zu kurz (ich sag mal Du, so von Scienceblogger zu Scienceblogger). Der Autor ist ein alter Spiegel-Haudegen:

      Hauke Janssen (Jahrgang 1958) leitet seit 1998 die Abteilung für Dokumentation beim SPIEGEL. Er ist Sachbuchautor, insbesondere veröffentlichte er Werke zum Themenkomplex der Volkswirtschaft im Deutschland der dreißiger Jahre.

      Hab’ ich ‘alt’ gesagt?

      Und was den Datenjournalismus angeht scheinen es mir eher die noch nicht ganz alten Kollegen zu sein, die sich an das Feld herantrauen, weil die begreifen, welche Schätze sich in Daten befinden, und weil sie sich an Excel u.a. herantrauen, was man von den meisten “alten Säcken” nicht behaupten kann … (Stichwort”Excel ist das neue “Mathe, hab’ ich nie verstanden.!”

  4. […] denn jetzt findet der Satz sich nur noch in abgewandelter Form an weniger prominenter Stelle (Marcus hat das schön zusammengefasst). Anscheinend wollten einige Politiker dem Volk die Erkenntnis, dass Reiche immer reicher und Arme […]

  5. #6 HF
    8. März 2013

    Die Überarbeitung des Berichts ist, ganz unabhängig von den Schwächen der Presse, eine politische Dummheit gewesen. Kaum jemand hätte sich die Zeit genommen, das dickleibige Werk auch nur in die Hand zu nehmen. Mein Vorschlag für die nächste Auflage: Es werden zwei Versionen erstellt und verteilt. Dann bekommt jeder den Bericht, den er haben will und muss nicht mehr selbst selektiv lesen.

  6. #7 Spoing
    8. März 2013

    Naja ich glaube der Bericht an sich war schon sehr gewagt von der von der Leyen verfasst worden.
    Diese Frau steht ja eher für mehr Umverteilung ein. Und das ist auch im ersten Bericht drin gewesen. (eine indirekte Forderung der Steuererhöhung) das war eine Attacke auf die FDP und diese hat darauf reagiert. Zugegeben wäre es wahrscheinlich besser gewesen diesen Angriff ins leere laufen zu lassen, aber die FDP hat ja anscheinend Spaß an Shit-storms.
    Objektiv betrachtet ist der Bericht jetzt in keiner Weise verfälscht, da nur subjektive Eindrücke Ersetzt wurden. Eigentlich ist er sogar besser, da vorher anscheinend nicht erwähnt wurde das die Schere zwischen Arm und reich sich nicht weiter geöffnet hat seit 2006. Was für mich persönlich eine Überraschung war. (vll. stand es auch schon im Bericht vorher drin und wurde nochmals erwähnt)

    Das die Opposition es sich nicht nehmen lässt so ein ungeschicktes agieren als “böse” dar zu stellen ist nur logisch. Aber vergleiche wie: “in totalitären Staaten” gehen dann doch zu weit!

    Ansonsten kann ich mich dem hier genannten anschließen. Gut das es Blogs gibt. Zwar bleibt es der Masse meist verborgen, aber auch so ist es wichtig!

  7. #8 Joseph Kuhn
    9. März 2013

    Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Umschreiben scheint doch “gute wissenschaftliche Praxis” zu sein, siehe die Geschichte mit der berühmten Frankfurter Masterarbeit zum Kozyrevspiegel und ihrer publizierten Version. Neuer Erstautor, anderer Text, andere Schlussfolgerung – im Vergleich dazu war die Bundesregierung geradezu “originaltreu”.

  8. #9 Dr. Webbaer
    9. März 2013

    Der Schreiber dieser Zeilen hat diese Sache mit der ‘sehr ungleichen Vermögensverteilung’, die nicht oder doch im Konvolut steht oder nicht steht, nie so recht begriffen:
    -> https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen-DinA4/a334-4-armuts-reichtumsbericht-2013.pdf?__blob=publicationFile

    Nachtrag: Jetzt auf einmal schon, es stand auf Seite 363 und steht jetzt NICHT MEHR DORT.

    Ganz bemerkenswert.

    MFG
    Dr. W

    PS: Es gilt eigentlich sozusagen als unethisch Web-Adressen derart zu überschreiben. Man hätte auch eine andere Adresse nehmen können, der Schreiber dieser Zeilen hat das Konvolut aber nicht lokal gesichert. *

    * wobei das sicherlich andere getan haben und der behauptete Sachverhalt anzunehmernderweise nicht in Frage gestellt wird

  9. #10 Dr. Webbaer
    9. März 2013

    Nachtrag:
    Der Satz stand mal auf Seite 363 (mehrfach geprüft, vs. 333, vs. 343, lol).

  10. #11 Helga Kleisny
    9. März 2013

    @Marcus.
    Hi! :-) zurück. Freue mich auf guten Austausch!

    –> Jungspund: https://www.gutefrage.net/frage/was-ist-ein-jungspund

    Und: ich weiß, dass meine Kritik zu kurz greift ;-), aber noch mehr Nörgeln wollte ich nun auch nicht.

    Das ist genau der Grund warum ich den Spiegel bei inhaltlichen Verfehlung so angreife: Er wird als journalistisches Vorzeigeblatt angesehen und leider stimmt das sehr oft nicht.
    Einzelautoren oder kleinere Verlage haben keine Dokumentationsabteilung, die (zumindest einmal, ich hab’s gerade nicht nachgezählt) 180 Leute umfasst. Da sollten dann auch alle Zahlen und Fakten stimmen.
    Wenn ich auf so etwas bei meinem Recherchen als Einzelkämpfer kostenfrei und schnell zu greifen könnte, ach wäre das journalistische Leben einfach und schön.
    Wenn ich einen Schreibfehler machen, dann steht der genau so drin. Da gibt es keine drei Kollegen die noch drüber lesen, keinen Chef vom Dienst, der noch die Kommas korrigiert und so weiter.
    :-) (Und ich habe 8 Sachbücher veröffentlicht, eines wurde auf französisch übersetzt…)
    Meine Managementfunktionen im Berufsleben gehören hier nicht hin, sind aber ausreichend vorhanden.
    Nichts für ungut. :-)

  11. #12 jupiter
    https://myselfhelp.org/
    4. April 2013

    Just how did you be capable of build this kind of excellent masses of commenters to your internet site?