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Über was sollte ein Biologe in seinem Eröffnungspost schreiben? Darüber musste ich im Darwinjahr nicht lange nachdenken!
Die aktuelle Ausgabe des Journal of Biology ist fast vollständig Darwin gewidmet. Ein Opinion-Artikel von Jonathan C. Howard von der Uni Köln ist mir besonders aufgefallen. Er stellt darin die interessante Frage: „Warum hat Charles Darwin nicht die Mendelschen Regeln entdeckt?”
So abwegig ist die Frage eigentlich nicht, ich hatte aber bisher nie darüber nachgedacht. Darwin schrieb schließlich nicht nur sehr viel über seine Evolutionstheorie, er führte auch viele Experimente durch, die seine Überlegungen untermauern sollten – darunter finden sich nicht wenige Kreuzungsversuche mit Pflanzen und Tieren. Wieso ist Darwin also nicht den Grundregeln der Vererbung auf die Spur gekommen? Jonathan Howard stellt eine spannende These auf: Gerade die Denkweise, die Darwin seine geniale Einsicht in die Evolution durch natürliche Selektion ermöglichte, hinderte sein Verständnis der Vererbung. Neben Unterschieden in den Persönlichkeiten von Darwin und Mendel – etwa ihre Vorbildung, aber auch ihre unterschiedliche experimentelle Methodik – ist dies Howards zentrales Argument.
Rückblickend fällt auf, dass Darwin in seinen Versuchen eigentlich bereits Daten gesammelt hatte, die zu einem Verständnis der Regeln der Vererbung nötig sind. Bereits im ersten Kapitel von „Die Entstehung der Arten” („The Origin of Species“) führt Darwin ausführlich vor, dass alle Rassen von Haustauben auf eine einzige wilde Taubenart, die Felsentaube, zurückzuführen sind. Dies konnte er unter anderem dadurch zeigen, dass er bei Kreuzungen von zwei verschiedenen Taubensorten immer Nachkommen erhielt, die aussahen wie die wilde Felsentaube.
So kreuzte ich, um von mehreren Fällen, die mir vorgekommen sind, einen anzuführen, einfarbig weiße Pfauentauben, die sehr konstant bleiben, mit einfarbig schwarzen Barbtauben, von deren zufällig äußerst seltenen blauen Varietäten mir kein Fall in England bekannt ist, und erhielt eine braune, schwarze und gefleckte Nachkommenschaft. Ich kreuzte nun auch eine Barb- mit einer Blässtaube, einem weißen Vogel mit rotem Schwanze und roter Blässe von sehr beständiger Rasse, und die Blendlinge waren dunkelfarbig und fleckig. Als ich ferner einen der von Pfauen- und von Barb–Tauben erzielten Blendlinge mit einem der Blendlinge von Barb- und von Bläss–Tauben paarte, kam ein Enkel mit schön blauem Gefieder, weißen Weichen, doppelter schwarzer Flügelbinde, schwarzer Schwanzbinde und weißen Seitenrändern der Steuerfedern, Alles wie bei der wilden Felstaube, zum Vorschein. Quelle
In einem Fall hatte Darwin sogar die nötigen Zahlen vor sich, konnte wohl aber nicht deren Bedeutung erkennen. In seinem Buch „The Variation of Animals and Plants under Domestication” beschreibt er die Blütenformen des Löwenmauls Antirrhinum über Kreuzungen hinweg. Neben der bekannten Blütenform (als zygomorph bezeichnet), die der Pflanze ihren Namen gibt, existieren auch Sorten mit radiärsymmetrischen (oder auch pelorischen) Blüten.
Indem er jeweils reinerbige Pflanzen beider Blütenformen miteinander kreuzte, erhielt er in der ersten Folgegeneration ausschließlich Pflanzen mit zygomorphen Blüten, den Wildtyp. In der zweiten Generation erfolgte dann eine Aufspaltung in zygomorphe und pelorische Blüten tragende Pflanzen – im Verhältnis 88:37. Dies kommt Mendels Verhältnis von 3:1 schon ziemlich nahe!
Damit hätte Darwin zwei der Mendelschen Regeln, die Uniformität in der ersten Tochtergeneration und die Aufspaltung 3:1 in der zweiten Generation gefunden gehabt. Wenn er die Bedeutung der Zahlen erkannt hätte! Leider schreibt er die Beobachtungen zwar nieder, geht jedoch nicht weiter auf sie ein.
Auch ein zweiter Erbgang, die intermediäre Vererbung, war für Darwin zum Greifen nahe. Bei diesem Erbgang erhält man in der zweiten Generation nicht das Verhältnis 3:1, sondern das Verhältnis 1:2:1 für Wildtyp:Mischform:Wildtyp. Sein Cousin Francis Galton, der neben vielen weiteren Projekten auch über die Vererbung nachdachte, schrieb in einem Brief an Darwin:
If there were two gemmules only, each of which might be white or black, then in a large number of cases one-quarter would always be quite white, one-quarter quite black, and one half would be grey.
Jetzt stellt sich nur umso drängender die Frage, wieso Darwin diese Regelmäßigkeiten in der Vererbung nicht aufgefallen sind. Laut Howard liegt es an einem Punkt, den Darwin immer wieder betont hat, der Variation. Dies war für ihn der Angelpunkt, an dem die natürliche Selektion ansetzt: Wenn ein Organismus Nachkommen produziert, dann werden diese nicht vollkommen identisch sein, sondern in ihren Merkmalen (wie Größe, Gewicht, etc.) eine gewisse Variation aufweisen. Diese Einsicht Darwins erlaubte ihm erst, den Mechanismus der natürlichen Selektion zu postulieren, da aufgrund der Variation in einer Population immer Individuen sein werden, die an eine bestimmte Umweltsituation besser als andere ihrer Art angepasst sind und darum selbst mehr Nachkommen haben werden.
Dies bedeutet aber auch, dass Darwin in seinen Experimenten auf Merkmale quantitativer Art achtete – er zählte und wog Samen, er maß den Wuchs von Pflanzen, usw. Mendel andererseits wertete qualitative Merkmale aus: Sind die Erbsen glatt oder runzlig? Grün oder Gelb? Etwas, das Darwin gar nicht beachtete. Die Fixierung auf möglichst kleine quantitative Merkmale ging bei ihm sogar soweit, dass er große Unterschiede zwischen Nachkommen als unwichtig ablehnte:
If selection consisted merely in separating some very distinct variety, and breeding from it, the principle would be so obvious as hardly to be worth notice; but its importance consists in the great effect produced by the accumulation in one direction, during succesive generations, of differences absolutely inappreciable to the uneducated eye – differences which I for one have vainly attempted to appreciate. Quelle
Diese beiden Sichtweisen spalteten die Biologie im frühen zwanzigsten Jahrhundert nach dem Bekannt werden der Mendelschen Regeln. Viele lehnten daraufhin Darwins Sicht der Evolution, die auf winzig kleinen Variationen zwischen Individuen einer Art wirkt, zugunsten Mutationen mit großen Effekten ab. Erst mit der modern synthesis, die Darwins Evolutionstheorie und Mendels Genetik durch Arbeiten in den 1930er und 1940er Jahren zusammenführte, kehrte hier wieder Ruhe ein. Doch das hat eher etwas mit Populationsgenetik zu tun, und dafür ist dann Emanuel zuständig.
Abschließend möchte ich nur kurz in die Gegenwart zurückkehren. Denn wenn das Betrachten von qualitativen Merkmalen zum ersten Verständnis der Genetik sehr wichtig war, so können wir heute längst nicht mehr alles auf diese Weise erklären. Die meisten Merkmale sind nämlich quantitativ, bei so offensichtlichen wie Körpergröße und Gewicht angefangen. Wenn es dann um Krankheiten wie Diabetes oder Krebs geht, dann werden zig genetische Merkmale jeweils nur wenige Prozent Anteil an Dingen wie der Anfälligkeit oder der Verwertung von Medikamenten haben. Dies wird in der nahen Zukunft dann das Feld der personalisierten Medizin werden. Und das finde ich irgendwie schön, dass Darwin mit seinem Blick auf quantitative Merkmale dann doch irgendwie Recht hatte.
Howard JC : Why didn’t Darwin discover Mendel’s laws? J. Biol. 2009, 8:15.
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