In der Mitte des 19. Jahrhunderts führte das Einschleppen der amerikanischen Reblaus zusammen mit Lieferungen von Weinreben über England nach Frankreich zu der heute als Reblauskatastrophe [1] bekannten Epidemie. In der ehemaligen französischen Provinz Languedoc beschrieben die Winzer um 1863 eine Fäuleerkrankung ihrer Weinreben, die sich schnell über ganz Frankreich und dann das übrige Europa ausbreitete. Der Effekt war dramatisch: Allein in Frankreich kam es zu Verlusten von fast 50% der Ernten, ganze Weinberge starben ab. Dies führte auch zu großen finanziellen Verlusten, man geht heute von insgesamt 10 Milliarden Francs und einer Zunahme der Arbeitslosigkeit aus.
Bis die Ursache für diese katastrophale Erkrankung gefunden wurde, vergingen mehrere Jahre. Erst 1868 schlug der französische Biologe Jules-Emile Planchon aufgrund einer eher zufälligen Entdeckung die Reblaus als Wurzelschädling vor. Heute ist bekannt, dass sich die Reblaus während einer Phase ihres recht komplexen Lebenszyklus unterirdisch aufhält und dort die Wurzel ansticht, um am Saft zu saugen. Dabei injiziert sie aber gleichzeitig ein Gift, das die Struktur der Wurzel zerstört. Die Rebe erhält keine Versorgung mit Wasser und Mineralstoffen mehr und stirbt ab.
Im Jahr 1870 rief die französische Regierung dann eine Kommission ins Leben, die unter Vorsitz von Louis Pasteur hunderte von Vorschlägen prüfte, die aber alle erfolglos blieben. Letztlich etablierte sich eine Methode, die auch noch heute eingesetzt wird: die Pfropfung.
Die rasende Infektion der europäischen Weinberge war nur deshalb möglich, weil die Reblaus aus Amerika stammte und in Europa gänzlich unbekannt war; die europäischen Zuchtreben von Vitis vinifera besaßen und besitzen noch heute keine Resistenz gegen den Erreger. In Amerika ist das anders; die Wildformen des Weins im Amerika dagegen sind zwar resistent gegen die Reblaus, aus ihnen lässt sich aber kein hochwertiger Wein produzieren. Darum werden die positiven Eigenschaften der zwei Rebsorten miteinander kombiniert: Auf einen Reblaus-resistenten Wurzelstock einer Wildart wird ein einjähriger Trieb einer Edelart aufgepfropft. So erhält man die Qualität des Weines, hat aber gleichzeitig den Vermehrungszyklus der Reblaus unterbrochen. Fast alle weltweit gepflanzten Reben im Ertragsweinbau bestehen heute aus einer solchen gepfropften Kombination. Und natürlich spielt die Pfropfung auch im Gartenbau weiterer Nutzpflanzen eine wichtige Rolle.
Mit dem Wissen über die Bedeutung des Pfropfens für die Landwirtschaft im Hinterkopf möchte ich jetzt über ein Paper schreiben, das vor kurzem in Science erschien.
Die Biologen Sandra Stegemann und Ralph Bock vom Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam-Golm machten bei Pfropfungsexperimenten an Tabak die Entdeckung, dass dabei genetisches Material zwischen den beiden Pfropfungspartnern ausgetauscht wird.
Sie nutzten dazu zwei Methoden, um einfach auf den genetischen Hintergrund schließen zu können: Antibiotikaresistenz und fluoreszente Proteine. Während die eine Tabaklinie ein Resistenzgen gegenüber Spectinomycin besaß und aufgrund der Expression des GFP-Gens durch grün fluoreszierende Zellen unter dem Mikroskop identifizierbar war, leuchtete die zweite Linie dank dem YFP-Gen gelb und war Kanamycin-resistent.
Nachdem die Forscher diese beiden Linien durch Pfropfung an einer Schnittstelle zusammenfügten, zogen sie anschließend dünn geschnittene Scheiben aus der Schnittstelle auf Wuchsmedium, dem die beiden Antibiotika zugegeben waren, an. Unter diesen Bedingungen konnten eigentlich nur Zellen wachsen, die beide Resistenzen besaßen. Und überraschenderweise wuchsen solche Zellen! [2]
Schauten Stegemann und Bock diese doppelt resistenten Zellen unter dem Mikroskop an, dann konnten auch immer sowohl Grün- als auch Gelbfluoreszenz entdeckt werden. Es musste also an der Pfropfstelle zu einer Übertragung von genetischem Material von einer Pflanze zur anderen gekommen sein!
Hier gibt es nun ein paar kleine Einschränkungen zu beachten: Die Übertragung des genetischen Materials war nur in unmittelbarer Nähe der Pfropfstelle festzustellen, nicht über die gesamte Pflanze. Es handelt sich also um keinen Effekt, der eine einfache Vererbung dieser übertragenen Gene zulässt.
Dazu war die Übertragung des genetischen Materials einseitig: Während die Kombination Kanamycin-Resistenz/YFP im Kerngenom lokalisiert war, befanden sich die Gene für Spectinomycin-Resistenz und GFP im Genom der Chloroplasten. Und egal welche Kombination für die Pfropfung gewählt wurde, übertragen wurden immer nur die Gene, die sich im Chloroplasten befanden, nie andersherum. Hier sahen die Forscher dann genauer nach: Es wurden sogar noch sehr viele weitere Gene aus dem Chloroplastengenom übertragen, so dass nun zwei Möglichkeiten der Übertragung denkbar sind (keine davon konnte ausgeschlossen werden): Entweder wird nur das Chloroplastengenom komplett übertragen, also die DNA irgendwie aus dem Chloroplasten befreit, in benachbarte Zellen transportiert und dort in einen vorhandenen Chloroplasten aufgenommen. Oder es werden ganze Chloroplasten zwischen benachbarten Zellen ausgetauscht.
Dies alles wäre zunächst nur eine überraschende Beobachtung der Grundlagenforschung. Wenn wir nicht zur Zeit eine Debatte über die Grüne Gentechnik hätten! Denn ein häufiger Kritikpunkt ist ja, dass bei der Grünen Gentechnik etwas “unnatürliches” gemacht wird, indem Gene übertragen werden. Jetzt konnten die beiden Forscher aber zeigen, dass bei der Pfropfung nicht nur einzelne Gene, sondern große DNA-Stücke oder sogar ganze Chloroplasten ausgetauscht werden! Und die Pfropfung ist nunmal eine etablierte Methode der klassischen Landwirtschaft, die schon seit weit über hundert Jahren angewandt wird. Um es also absichtlich überspitzt wie im Titel zu formulieren: Jeder Pfropfvorgang ist ein gentechnisches Experiment.
Diese Beobachtungen treffen noch ein weiteres Argument hart: Grüne Gentechnik soll auch deshalb so schlecht sein, weil damit auch Gene von fern verwandten Arten in Pflanzen eingebracht werden können. So fern verwandte Arten, dass sie durch natürliche Züchtung nicht kreuzbar wären.
Es ist nämlich schon seit mehr als 50 Jahren beschrieben, dass auch fern verwandte Pflanzen, die in der Natur nebeneinander wachsen, an Trieben oder Wurzeln miteinander verschmelzen können, wenn diese sich berühren. Eine Art natürliche Pfropfung also.
Und auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, so ist trotzdem möglich, dass sich ein neuer Seitentrieb mitsamt Blüten an einer solchen Verwachsungsstelle bildet. Nachkommen dieser Blüten könnten darum übertragene Gene auch von fern verwandten Arten besitzen; etwas, das mit einer normalen Kreuzung nicht möglich ist.
Um es abschließend noch einmal zu betonen: Ich will damit nicht andeuten, wir dürften nun in Deutschland keinen “Genwein” mehr anbauen, oder dass in Zukunft strenge Tests von gepfropften Weinreben nötig sind, bevor diese “freigesetzt” werden dürfen.
Ich will aber ein wenig zum Nachdenken anregen, und besonders klar machen, dass ein Schwarz-Weiß-Denken in der Form “hier die Natur, da die böse Gentechnik” keinen Sinn macht. Um die Autoren zu zitieren:
Our discovery of grafting-mediated gene transfer further blurs the boundary between natural gene transfer and genetic engineering and suggests that grafting provides an avenue for genes to cross species barriers.
Zu dem Artikel erschien auch schon ein Post auf Science-meets-Society, ich halte aber gerade die Bedeutung der Forschung für den Stand der Grünen Gentechnik für so wichtig, dass ich auch darüber schreiben wollte.
[1] Der englische Begriff “Great French Wine Blight” hört sich irgendwie dramatischer an.
[2] Hier kommt noch ein Sonderfall der Pflanzenbiologie ins Spiel: Einzelne Pflanzenzellen können unter geeigneten Wuchsbedingungen im Labor zu undifferenzierten Zellklumpen, sogenannten Calli, angezogen werden. Aus diesen kann man dann durch Ändern der Wuchsbedingungen (Phytohormone etc.) wieder ganze Pflanzen regenerieren.
Bildquelle: Reblaus-Cartoon
Stegemann, S., & Bock, R. (2009). Exchange of Genetic Material Between Cells in Plant Tissue Grafts Science, 324 (5927), 649-651 DOI: 10.1126/science.1170397
Beddie, A. D. (1942). Natural Root Grafts in New Zealand Trees. Transactions and Proceedings of the Royal Society of New Zealand, 71, 199-203
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