Liest man sich den Klappentext zu Corpus Delicti von Juli Zeh durch, denkt man an Orwells 1984 und an den Film GATTACA: In der Zukunft kommt eine Gesellschaft auf uns zu, bei der jeder dauerhaft überwacht ist, und die Gesundheit eines jeden zur Pflicht, zum Gesetz erhoben ist. Wer ungesund lebt, wird vor Gericht gezerrt.
Leider bleibt außer dieser Hoffnung des Lesers nicht sehr viel übrig, wenn das Buch ausgelesen ist. Das ist schade, denn gerade mit den Implikationen, die das kostengünstige und schnelle Sequenzieren von Genomen in wenigen Jahren bringen werden, hat hier die Chance bestanden ein spannendes Buch abzuliefern. Wenn Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen, oder wenn es Gerichte benötigt, um Kindern zu einer effektiven Krebsbehandlung zu verhelfen, dann wird dies diskutiert. Wenn die personalisierte Medizin es möglich machen wird, den Menschen individuell zu helfen, wird dies diskutiert. Um das alles geht es in Corpus Delicti aber nicht. Leider.
Nur noch ein paar Jahre, dann leben wir in der Utopie: Saubere Luft, grüne Wälder, Kulturzentren in ehemaligen Fabriken. Solarzellen auf allen Dächern. Man kommt von A nach B mit umweltfreundlichen Magnetbahnen. So erfährt man es jedenfalls auf den ersten anderthalb Seiten. Ach ja, und gesund sind auch alle. Das liegt aber daran, dass man zum gesund sein gezwungen wird, von der sogenannten Methode. Hält man sich nicht fit, raucht oder trinkt man, dann kommt das sehr schnell raus, etwa durch die dauernden Urintests. Und dann kommt die Gesundheits-Gestapo (die hier “der Methodenschutz” heißt) und holt einen ab.
So passiert ist es Mia Holl, einer Biologin, die in ihrer Gesundheit nachlässig wird. Was mit ihr passiert, ist erstmal nicht wirklich anders, als es auch in einem anderen totalitären Staat vorkommen kann. Entsprechend die fast schon zu direkten Anspielungen im Buch wie zu Minderheiten
Wenn die METHODE glaubt, in Mia Holl einen Gefährder vor sich zu haben, dann sieht sie auch einen Gefährder. Und Rosentreter [ihr Verteidiger] muss Mia nur ein wenig von der Seite anschauen, so dass ihre Nase im Profil scharf hervorspringt und die Augen besonders tief in den Höhlen liegen – schon sieht er das auch.
und zu Folter.
“[…] Man stellt Sie auf eine Kiste, nackt, versteht sich, und zieht Ihnen eine schwarze Kapuze über den Kopf. An Ihren Fingern, Zehen und primären Geschlechtsteilen werden Kontakte befestigt, Wäscheklammern nicht unähnlich. […] Die Stromstärke wird stufenlos hochgefahren. […]”
Die Darstellung eines totalitären Staates, der auf einer Gesundheitsdiktatur beruht, ist sicher nicht schlecht. Es kam mir nur leider wie das x-te deutsche Vergangenheitsbewältigungsbuch in einer leicht veränderten Verpackung vor.
Und blöderweise ist in dem Fall die Verpackung wirklich nicht gelungen. Der Grund für Mia Holls Nachlässigkeit in ihrer Gesundheit sind Depressionen, ausgelöst durch den Selbstmord ihres Bruders Moritz, der wegen Vergewaltigung angeklagt war. Der schlagende Beweis ist in dieser Gesellschaft – natürlich – die DNA. Auch wenn vieles gegen eine Schuld von Moritz spricht, so wurde seine DNA am Tatort gefunden, und “[d]er DNA-Test ist unfehlbar.” Das sollte gerade Mia Holl wissen, sie ist ja schließlich Biologin. Doch einerseits wissen wir heute schon, dass der DNA-Test nicht unfehlbar ist. Und andererseits ist die Erklärung, wer der wahre Vergewaltiger ist, und wie die DNA-Spur von Moritz an den Tatort kam, nicht sonderlich überraschend. Tatsächlich sollte auch heute ein guter Verteidiger (bzw. ein von ihm bestellter Gutachter) schnell auf die gleiche Lösung kommen (die ich hier trotzdem nicht breittreten will).
Schlimmer fand ich aber noch, wie in dem Buch Naturwissenschaftler als ureigenste Unterstützer der Methode dargestellt werden. Das liegt nämlich am Naturalismus, der seelelose Roboter aus uns macht:
“[…] Du, sagte er zu mir, bist Naturwissenschaftlerin. Deine Freunde und Feinde siehst du nur unter dem Elektronenmikroskop. Wenn du das Wort Liebe sagst, muss sich das anfühlen, als hättest du einen Fremdkörper im Mund. Deine Stimme klingt anders bei diesem Wort. Liebe. Eine halbe Oktave höher. Dein Kehlkopf zieht sich zusammen, Mia, ein schriller Ton, Liebe. Als Kind hast du es sogar vor dem Spiegel geübt, Liebe. Du hast dir dabei selbst in die Augen gesehen und nach dem Grund gesucht, der dieses Wort so schwierig macht: Liebe. Es ist einfach so, Mia, dass du diesen Begriff nicht richtig aussprechen kannst. Für dich gehört er zu einer fremden Sprache, die nach einer unnatürlichen Gaumenstellung verlangt. […]”
Nachdem ich mir doch schon vom Klappentext so viel versprochen hatte, war ich verständlicherweise von Corpus Delicti sehr enttäuscht. Vielleicht liegt das auch an falschen Erwartungen, die ich in das Buch gesetzt hatte. Vielleicht will es ja trotzdem jemand lesen, mit dem Wissen um die Mängel im naturwissenschaftlichen Hintergrund, einfach nur als Kritik an Totalitarismus. Vielleicht liest es sich so besser.
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