In Listen über die merkwürdigsten Tiere auf diesem Planeten taucht eins ziemlich oft ganz weit oben auf: der Nacktmull (Heterocephalus glaber), liebevoll gern auch mal “Penis mit Zähnen” genannt. Schön sieht er ja wirklich nicht aus, doch es sind bekanntlich andere Dinge, die zählen.
Der Nacktmull ist nämlich ein extrem merkwürdiges Tier, und merkwürdig bedeutet für einen Wissenschaftler vor allem eins: interessant! Dieses Nagetier ist beispielsweise das einzige staatenbildende Säugetier. Große Kolonien von bis zu mehreren hundert Tieren leben in selbstgegrabenen unterirdischen Gängen und Höhlen zusammen, die von einer Königin regiert werden. Und ganz ähnlich wie bei Bienen oder Ameisen unterdrückt die Königin die Geschlechtsentwicklung in ihren Untertanen, um die Fortpflanzung in der Kolonie zu kontrollieren.
Nacktmulle sind kaltblütig und empfinden wohl auch keinerlei Schmerz, da ihnen wichtige Moleküle in der Haut fehlen (beispielsweise die sog. Substanz P).
In der letzten Ausgabe der Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) haben die Forscher Andrei Seluanov, Vera Gorbunova und Kollegen ein weiteres überraschendes Merkmal von Nacktmullen genauer untersucht: Nacktmulle kriegen keinen Krebs! Der Größe nach sind Nacktmulle in etwa mit Mäusen zu vergleichen. Doch während Mäuse und andere gleich große Nager nur wenige Jahre leben, werden Nacktmulle über 30 Jahre alt. Sie scheinen dabei auch nicht “normal” zu altern, sondern sind bis kurz vor ihrem Tod aktiv, pflanzen sich sogar fort. Mäuse kennen ihre natürliche Todesursache (sofern sie nicht vorher gefressen werden) sehr genau; rund 90% der natürlichen Todesfälle bei Mäusen gehen auf Krebs zurück. Und trotz dem sehr viel höheren Alter zum Todeszeitpunkt wurde noch kein Nacktmull mit Krebs gefunden.
Das ist natürlich kein sehr überzeugendes Argument – Nacktmulle leben praktisch dauerhaft unterirdisch und sind entsprechend schlecht zu beobachten. Doch ein krebsloses Säugetier weckt verständlicherweise die Phantasie der Forscher, und Seluanov und Kollegen haben nachgesehen, ob auf zellulärer und molekularer Ebene da etwas dran ist.
Und dabei sind sie auf eine interessante Besonderheit gestoßen, die Nacktmullzellen sowohl von Maus-, als auch Menschenzellen unterscheidet: sie mögens nicht so eng. Nimmt man vereinzelte Bindegewebszellen von Mäusen und züchtet sie in Petrischalen mit Wachstumsmedium, dann wachsen sie am Boden und teilen sich munter, bis sie eine gleichmäßige Schicht bilden. Die Zellen hören auf sich zu teilen, sobald sie anfangen müssten, übereinander zu wachsen. Dieses Phänomen nennt man Kontaktinhibition, weil Kontaktsignale zwischen den Zellen die Zellteilung anhalten. Entarten die Zellen aber, dann geht (unter anderem) die Kontaktinhibition verloren, aus der dünnen Zellschicht wird ein wuchernder Haufen. Genauso verhalten sich auch die Bindegewebszellen von Menschen.
Anders die Nacktmulle: Deren Bindegewebszellen hören mit der Zellteilung sehr viel früher auf, lange bevor die Platte dicht genug bewachsen ist, um eine geschlossene Schicht zu bilden. Dies wurde von den Forschern early contact inhibition genannt, um sie von der normalen Kontaktinhibition zu unterscheiden.Jetzt könnte man meinen, bei den Nacktmullen sei einfach nur ein Regler verstellt, die maximale Zelldichte für den Teilungsstopp. Doch eine der Zelllinien der Forscher verlor nach mehreren Monaten in Kultur diese frühe Inhibition und begann sich wieder zu teilen. Allerdings nur, bis die Platte mit einer geschlossenen Zellschicht bewachsen war. Nacktmulle besitzen also zwei gestaffelte Sperren gegen unkontrollierte Zellteilung!
Die Frage war: was in der Zelle macht den Unterschied? Zwei der wichtigsten Regler des Zellwachstum sind die Proteine p53 und pRb (die deswegen auch sehr häufig bei Krebs mutiert sind). Beide sind in die Entscheidungswege in der Zelle involviert, den Zellzyklus entweder anzuhalten, oder die Zelle gleich ganz in den programmierten Zelltod Apoptose zu treiben. Und es mussten auch beide Proteine deaktiviert werden, um die frühe Kontaktinhibition der Nacktmullzellen zu umgehen. Genauer gesagt wachsen die Zellen zwar schon weiter, wenn p53 oder pRb ausfällt, sterben aber aufgrund der Apoptose ab. Erst wenn beide Proteine fehlen, kann man das Wachstum durch das Ausbleiben der Apoptose sehen.
Die Kontaktinhibition bei Mensch und Maus wird zudem reguliert durch das Protein p27, dessen Menge in der Zelle mit zunehmender Zelldichte auch größer wird. Die Kontaktinhibition kommt dadurch zustande, dass p27 die Inaktivierung von pRb verhindert und der Zellzyklus so angehalten wird. Und genauso ist es auch bei den Zellen von Nacktmullen, allerdings nur bei der “normalen” Kontaktinhibition. Die frühe Abwehr, die man nur bei den Nacktmullen findet, ist allerdings nicht durch p27 kontrolliert.
Ein zweites, p27 ähnliches Protein namens p16 ist bei Mensch und Maus bisher nicht sehr gut verstanden. Es hat jedoch auch eine, allerdings wenig wichtige, Rolle in der Kontaktinhibition neben p27. Seluanov und Kollegen konnten nun zeigen, dass sich im Nacktmull die Funktionen von p27 und p16 zeitlich voneinander getrennt haben, p16 ist nämlich der Regulator der frühen Kontaktinhibition.
Die Frage ist jetzt, wie man diese Beobachtungen einordnen kann. Krebs entsteht nicht einfach, wenn die Kontaktinhibition ausfällt. Jedenfalls nicht nur. Es müssen verschiedene Proteine in Zellteilung, Apoptose, Telomerstoffwechsel etc. mutieren, dass aus normalen Krebszellen werden. Demzufolge wäre es sehr unwahrscheinlich, wenn die frühe Kontaktinhibition der einzige Unterschied von Nacktmullzellen wäre, um sich vor der Krebsentstehung zu schützen. Die molekularen Beweise in diesem Paper zeigen aber, dass die Berichte über die krebslosen Nager begründet sind, und ermutigen auch die weitere Erforschung des Nacktmulls als Modell für die Krebsforschung.
[1] So kompliziert es hier auch aussieht, die Informationen sind teilweise schon wieder überholt. Ich will hier niemanden mit einer komplizierten Abbildung beeindrucken, aber wirklich gute Abbildungen zu dem Thema gibt es nicht, jedenfalls nicht frei zugänglich. Die Abbildung soll aber auch deutlich machen, dass das einfache Bild, das von mir hier, aber auch von den Autoren im Paper, gezeichnet wurde, der Komplexität in der Zelle nicht wirklich gerecht wird.
Seluanov, A., Hine, C., Azpurua, J., Feigenson, M., Bozzella, M., Mao, Z., Catania, K., & Gorbunova, V. (2009). Hypersensitivity to contact inhibition provides a clue to cancer resistance of naked mole-rat Proceedings of the National Academy of Sciences DOI: 10.1073/pnas.0905252106
» von Alexander Knoll
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