Zugegeben, die Schlagzeile im Titel ist nicht echt. Ich habe sie mir soeben ausgedacht. Eine plötzliche Verhundertfachung der Eisbedeckung hätte wohl jeder mitbekommen, da bleibt nicht mehr viel freier Ozean. Der Titel gibt aber einen Vorgeschmack darauf, wie eine echte Schlagzeile in vielleicht 20 Jahren aussehen könnte. Wie komme ich darauf? Wieso ist diese Prozentzahl so absurd hoch? Hat das vielleicht etwas mit Football zu tun? In der Tat hat es das.
Die verfluchte Sportzeitschrift
Stecken Sie bitte kurz eine Stecknadel in das Thema Meereis und heften Sie den Gedanken an die Innenseite Ihres Schädels, wir kommen gleich wieder darauf zurück. Jetzt soll es um American Football gehen.
2007 war ein fantastisches Jahr für die Kansas Jayhawks. Die Footballmannschaft der University of Kansas spielte eine großartige Season und war seit 11 Spielen in der “Big 12 Conference” ungeschlagen, ein neuer Rekord in der Liga. Coach Mark Mangino wurde landesweit gefeiert. Die Sports Illustrated, meistgelesene Sportzeitschrift der Vereinigten Staaten, widmete dem Team das Cover der Ausgabe vom 26. November:
Die Jayhawks verloren prompt ihr nächstes Spiel gegen Erzrivale Missouri Tigers mit 36 zu 28. Die Gewinnsträhne war vorbei.
Es war längst nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. 1957 war ebenfalls ein tolles Jahr für eine andere Footballmannschaft, die Oklahoma Sooners waren seit sagenhaften 47 Spielen ungeschlagen, bis auch Ihnen die Sports Illustrated ein Cover widmete – das nächste Spiel verloren die Sooners dann krachend gegen das Team aus Notre Dame, Indiana.
Wirklich überrascht hat das vermutlich keinen. Denn die Sports Illustrated steht in dem Ruf, verflucht zu sein. Wer auf dem Cover erscheint, wird verlieren, heißt es. Jahr für Jahr gibt es Beispiele von großartigen Teams oder Spielern, die nach einem Erscheinen auf der Titelseite eine Pechsträhne erlitten. Der Mythos wurde für die Zeitschrift zum richtigen Ärgernis, da sich einige Sportler fortan weigerten, für das Cover zu posieren. Es gibt einen eigenen Wikipedia-Artikel zum Phänomen “Sports Illustrated cover jinx” (mit einer verdammt langen Liste an Beispielen) und die Redaktion berichtete sogar selbst über den angeblichen Fluch:
Der Fluch machte auch Wissenschaftler auf sich aufmerksam. Statistiker und Sozialpsychologen wie Nobelpreisträger Daniel Kahnemann untersuchten das Phänomen und kamen zu dem Schluss, dass vermutlich keine düsteren Mächte am Werk sind, sondern lediglich ein logischer Denkfehler vorliegt, der auf einem Missverständnis der Regression zur Mitte basiert.
Was damit gemeint ist: Die Performance eines Spielers oder Teams bewegt sich immer um einen statistischen Mittelwert. Aber nur dann, wenn der Spieler oder das Team auf dem Höhepunkt seiner Karriere ist oder eine Glückssträhne hat (ein statistischer “Außreißer” oder “Outlier”), hat es Chancen, auf dem Cover einer landesweiten Sportzeitschrift besonders herausgestellt zu werden. In den nachfolgenden Spielen besteht wieder eine hohe Wahrscheinlichkeit, in der Nähe des statistischen Mittels zu landen – aus Sicht des Höhepunktes oder der Glückssträhne ist das aber immer eine Bewegung nach unten. Die selektive Auswahl der Sports Illustrated ist verständlich, erzeugt aber unbeabsichtigt ein Wahrnehmungsproblem.
Anders gesagt – hätten die Jayhawks nur eine durchschnittliche Season gespielt, wären sie nie auf dem Cover der Sports Illustrated gelandet.
Der Fluch existiert nicht. Er ist eine Urban Legend, hervorgerufen durch die Tendenz des Gehirns, Muster und Kausalitäten erkennen zu wollen, wo keine sind.
+X% von wenig ist immer noch wenig
Zurück zum arktischen Meereis.
Die nachfolgende Grafik zeigt den Verlauf der durchschnittlichen Eisbedeckung jeweils im August, bis zum Jahr 2011.
Was fällt auf? Nicht besonders viel. Es gibt kleinere Ausreißer nach oben und unten, aber im Großen und Ganzen folgt der Verlauf der linearen Regressionsgeraden. Dann kam 2012:
Oha! Ein gewaltiger Ausreißer nach unten, ein neuer Tiefstwert. An sich ist die Entwicklung der Eisbedeckung äußerst dramatisch, aber ein einzelner Datenpunkt, erst recht ein Outlier, sagt nur wenig aus. Wie mag die Eisbedeckung weiter verlaufen sein?
Müssen wir eine zweite Regressionsgerade einzeichnen, viel tiefer als die erste – macht der Verlauf der Eisbedeckung also einen Sprung? Oder ist vielleicht eine andere Regressionskurve höheren Grades (also eine gebogene) besser geeignet? Werden die Jayhawks nach 11 gewonnenen Spielen auch in der darauffolgenden Season 11 Spiele am Stück gewinnen?
2013:
Wer bis hierhin gelesen hat, wird davon wenig überrascht sein. Auf einen Outlier folgt mit einer großen Wahrscheinlichkeit eine Rückkehr zum Mittelmaß, eine Regression zur Mitte – wobei die Mitte hier eine abfallende Gerade ist. Es kam genau das heraus, was die meisten erwartet haben, der “Eiszuwachs” (mit ganz dicken Anführungszeichen) von 2012 auf 2013 ist keine Überraschung.
Aber es gibt noch ein weiteres Problem, eine Wahrnehmungsfalle – je dichter sich die Eisbedeckung dem Nullpunkt nähert, desto größer werden die prozentualen Unterschiede zwischen den einzelnen Minima. Man könnte den Unterschied zwischen 2012 und 2013 so auslegen, als sei das Eis drastisch angewachsen – wenn man die absoluten Minimalwerte nimmt, kommt man sogar auf 60%. Für viele ein gefundenes Fressen, um Leser oder Zuhörer mit großen Prozentzahlen zu beeindrucken.
Letztes Jahr nutzte der Vorsitzende der UK Independence Party, Nigel Farage, in einer Rede im europäischen Parlament den “Anstieg” als ein Hauptargument, warum Klimaschutz völliger Käse sei und hatte sich dafür sogar zwei Satellitenfotos ausgedruckt. Die UKIP holte in der darauffolgenden EU-Wahl übrigens die meisten Stimmen in Großbritannien. (Timestamp bei Minute 2:20)
60% Anstieg innerhalb eines Jahres! Potzblitz! Das sind ja in 10 Jahren eine Versechsfachung der Eisfläche! Alles Klimaschwindel!
Die Bild-Zeitung schrieb vor wenigen Tagen: Und die Polschmelze? Vergangenen Sommer wuchs die Eisfläche in der Arktis im Vorjahresvergleich um 60 Prozent. 20 Schiffe mussten von Eisbrechern befreit werden. (Link)
Dass der “Anstieg” um 60% wegen der Regression zur Mitte zu erwarten war und der Absolutwert damit immer noch einer der niedrigsten überhaupt ist, möchte die Bild ihren Lesern hingegen nicht mitteilen. Enttäuschend, da ich die Bild bisher in der Berichterstattung über den Klimawandel eigentlich ganz gut fand.
Ins gleiche Klo greifen auch die BZ Berlin (die dem Zuwachs einen ganzen Artikel widmete), die Daily Mail (“And now it’s global COOLING! Return of Arctic ice cap as it grows by 29% in a year”) und Fox News (“Arctic Sea Ice up 60 percent in 2013”). Vermutlich gab es noch viel mehr, das sind nur ein paar, die ich auf die Schnelle ergoogelt habe. Die genauen Prozentzahlen weichen ein bisschen voneinander ab, je nachdem mit welcher Definition von Meereis man arbeitet und ob man die Minimalbedeckung oder die Durchschnittsbedeckung nimmt.
Für den September 2014 gibt es übrigens noch keine Daten, aber für den August, was dann auch unsere Grafik von oben vervollständigt:
Wie manche das wohl drehen werden? Ich glaube diesmal nicht, dass jemand daraus eine Schlagzeile machen wird. Schließlich wird der prozentuale Zuwachs von 2013 auf 2014 nur minimal sein. Dass man aus der Entwicklung der Eisbedeckung von einem Jahr zum nächsten genauso wenig eine Aussage treffen kann, wie aus zwei am Strand auslaufenden Wellen das Eintreffen von Ebbe oder Flut bestimmen zu wollen, sei dahin gestellt.
Der Zeitpunkt des völligen Abschmelzens lässt sich nur sehr grob abschätzen, nach meinem Eindruck gehen die meisten Klimawissenschaftler von etwa 10-50 Jahren aus – auf jeden Fall viel schneller, als noch zu Beginn der Satellitenmessungen vermutet wurde. Wenn wir die obige Grafik als Richtwert nehmen, erkennen wir ein Abfallen von etwa 0,75 Mio. km² pro Jahrzehnt mit einer Schwankungsbreite von etwa 1,5 Mio. km² von Jahr zu Jahr.
Irgendwann werden wir möglicherweise vor der Situation stehen, dass ein Outlier nach unten nur noch wenige zehntausend Quadratkilometer übrig lässt und die Regression zur Mitte im nächsten Jahr wieder zur mehr als 1 Mio. km² führt.
Dann würde die Schlagzeile im Titel tatsächlich stimmen.
Den Kansas Jayhawks ging es in den letzten Jahren übrigens verdammt schlecht, zwischen 2011 und 2013 verloren sie 27 Spiele in Folge. Im November 2013 konnten die Jayhawks schließlich einen fantastischen Sieg gegen West Virginia einfahren und ihre Pechsträhne beenden. Auf dem Cover der Sports Illustrated standen sie während dieser Zeit nie.
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