Wer ein Museum besucht, hat oft das Gefühlt, die Zeit stehe still. Ganz falsch – wer in den Keller steigt, kann vielmehr zusehen, wie sie vergeht. Im Exponatarchiv des Deutschen Museums sedimentiert die Gegenwart Schicht für Schicht zur Geschichte.

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Hinter den gut gesicherten Türen – selbst die meisten Museumsangestellten haben hier keinen Zutritt – wachsen die Zeitflöze, aus denen alle paar Jahrzehnte eine neue Ausstellung geschürft wird.
Die gesamte Lagerfläche ist inzwischen auf rund 30.000 Quadratmeter angewachsen; die etwa 15.000 Schaustücke, um die Tag für Tag Schulklassen toben, ruhen auf einem Fundament von gut 70.000 unsichtbaren Kandidaten.
In einem langsamen Verdauungsprozess reifen Alltagsgegenstände zu Exponaten. Gibt ein Gremium aus Kuratoren und Archivverwaltern sein Plazet, beginnt der wohlgeordnete Prozess der Katalogisierung, an dessen Ende zum Beispiel ein Handy mit einem Inventaranhänger geadelt seinen Platz im Regal findet.
So stieß ich auf ein Nokia 2110 oder seine Zeitgenossen von Siemens oder Motorola. Nun liegen sie wenige Regalböden entfernt von geheimnisvollen Apparaturen, mit denen vor nicht allzu langer Zeit belächelte Tüftler die Radiowellen entdeckten. Das „Alibifon 2000″ dürfte nur noch absoluten Insidern ein Begriff sein: Das klobige Gerät im Holzkasten war als automatischer Anrufbeantworter wohl mal Spitze der Telekommunikationstechnik.

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Wie Konzertflügel glänzen die polierten Lackflächen der Fernseher aus den fünfziger Jahren mit ihren goldenen Drehknöpfen und schreien nach wärmenden Häkeldeckchen im kalten Blechregal, während einige Reihen weiter die spritzgegossenen Plastikgehäuse tragbarer Farbfernseher mit eingestanzten Schriftzügen wie „all Transistor” das Ende der Röhrenzeit bejubeln. Sonys Taschenfernseher „Watchman” kam im Originalkarton in die Ablage, und wann das iPod auftaucht, ist auch nur noch eine Frage der Zeit.
Im Verlauf des letzten Jahres habe ich immer wieder mit der Kamera die verschlungenen Gewölbe auf der Museumsinsel und einige der um die Stadt verteilten Außenlager durchstreifen dürfen.
Hier gelten andere Zeitmaßstäbe. Wer nur eine Schublade aufzuziehen braucht, um eine Originalglühlampe von Edison in der Hand zu halten, meint mit „vor kurzem” meist Ereignisse in den letzten zehn Jahren. Aus dieser Sicht droht alle paar Augenblicke ein Hochwasser auf der Isarinsel oder die Kündigung eines Mietvertrags in den Außenlagern.

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Trotz der vielen Stunden im Archiv war für die fotografische Arbeit die Zeit natürlich immer zu knapp. Immer wieder musste ich mich zwingen, nicht dem allgegenwärtigen Drang zu Systematik und Vollständigkeit zu verfallen und nicht das Staunen zu verlernen über die Motive zu denen gewöhnliche Gebrauchsgegenstände durch den Aufenthalt in diesem merkwürdigen Schwebezustand des Zeitzeugen auf Abruf werden.
Die Lichtverhältnisse sind problematisch bis hoffnungslos. Ein unvorhersehbares Gemisch aus unterschiedlichen Lichtfarben der spärlichen Leuchtstoffröhren und kein Platz zwischen den engen Regalcanyons, um Fotolicht aufzubauen. Die HDR-Technik bot den Ausweg, auch aus den dunkelsten Winkeln noch etwas Helligkeit herauszukitzeln, doch erst in tagelangen Photoshop-Sitzungen gelang es mir, die HDR-typischen Bonbonfarben zu vertreiben und einen fast grafischen Look für die Bildstrecke zu entwickeln.
Eine spannende Entdeckungsreise in die Zukunft von gestern. Wer weiß, welche technische Kuriosität dereinst im Rückblick als Meilenstein gelten darf und welches aktuelle Wundergerät irgendwann Kopfschütteln hervorruft. Angeblich, so die Anekdote, taten sich die Kuratoren am Beginn des 20. Jahrhunderts schwer, das Geschenk eines Carl Benz anzunehmen. Galt das sogenannte Automobil seinerzeit doch als kurzfristige Modeerscheinung. Aber seien wir beruhigt: Das erste Dampfbügeleisen ruht sicher im Schrank.

— Jürgen Scriba

Weitere Bilder auf www.jscriba.com oder viel schöner gedruckt im aktuellen Zeit Wissen Magazin (3/2008).

Kommentare (2)

  1. #1 blugger
    Mai 21, 2008

    Ich will eine Sonderführung! Unbedingt!

  2. #2 katherine sharpe
    Juni 5, 2008

    One summer when I was 19 years old, I was an intern at the National Museum of Natural History in the Smithsonian in Washington, DC. Walking around in the private, off-limits back areas of the museum is still one of the experiences I treasure most. Such a wonderful jumble of things! It sounds like the Deutsches Museum is the same. Thanks for the photos of your meanderings. Wish I could go with you.