Evolution ist ein Begriff der auf die verschiedensten Bereiche angewandt werden kann. Ich habe mich lange davor gesträubt ihn außerhalb der Biologie zu akzeptieren, da er meiner Meinung nach einen ganz speziellen Prozess, nämlich die Veränderung und Anpassung von Lebewesen über Zeit, beschreibt. Aber wenn man ihn ganz generell definiert als „Veränderung und Anpassung von … über Zeit”, dann trifft er auch auf Technologien, kulinarischen Eigenarten, das Wetter, und auf Plastikverpackungen (die, die man nie auf kriegt) zu. Wie sonst könnte man den Erfolg des iPhones erklären, bei dem immer die neuesten Ressourcen genutzt werden um den Wünschen der Kunden, also dem Lebensraum des Telefons, gerecht zu werden?

Wie weit der Prozess der Evolution allerdings auch innerhalb der Biologie reicht, und wie komplex die Zusammenhänge dabei sein können, hat in der letzten Woche ein Artikel im Journal Science gezeigt.

John Jaenike von der University of Rochester, New York, hat in Kollaboration mit Kollegen der Universität von Victoria, Kanada, entdeckt dass unsere bekannte Lieblingsfliege, Drosophila, angefangen hat Waffen in ihrem Kampf gegen Feinde zu benutzen. Und dieses „Wissen” gibt sie an die nächste Generation weiter.

i-91a50a4242fa436ce7a7da7feee81df3-drosophila.pngIn diesem Absatz habe ich die Sache doch stark vermenschlicht, aber im Kern stimmt der Prozess. Der Feind ist in diesem Fall ist ein Nematod, oder ein Fadenwurm, namens Howardula, der in weibliche Fliegenlarven eindringt und sie unfruchtbar macht. Die Waffen sind Bakterien der Gattung Spiroplasma. Fliegen, die mit diesen Bakterien infiziert waren, waren weniger anfällig für den Angriff durch Howardula. Die Nematoden in solchen Fliegen erreichten grundsätzlich geringere Größen als die aus uninfizierten Fliegen. Es wird daher angenommen, dass der Wurm sich nicht richtig entwickelt, wenn sein Lebensraum, also der Körper der Fliege, mit Spiroplasma „verseucht” ist.

Das Spannendste ist jedoch der Prozess, durch den diese Waffen weiter gegeben werden. Er ist dem der natürlichen Selektion sehr ähnlich. Da sich der Nematod dermaßen fatal auf die Fortpflanzungsfähigkeit und auch auf die Lebensdauer seines Wirtes auswirkt, könnte man annehmen, dass Fliegen mit der Zeit immun gegen Howardula werden. Doch statt genetischer Anpassungen haben sie den Vorteil der Bakterien genutzt. Wie ein Gen wird das Bakterium an die nächste Generation weiter gegeben. Da es den Fliegen hilft, taucht es häufiger in der Population auf. Genauso funktioniert natürliche Selektion an Genen, nur sind es hier Symbionten.

Ganz ähnlich hat sich auch der Mensch den Hammer zu Nutzen gemacht. Und da er uns noch heute hilft, die Dübel in die Wand zu kriegen, wenn das Loch einfach nicht groß genug ist, hat sich der Hammer in unserer Gesellschaft verbreitet.

Der ganze Prozess ist nicht wirklich neu. Anpassungen finden seit jeher auf die verschiedensten Weisen statt, und Schutz durch Parasiten wurde auch schon häufig untersucht. Ein Bakterium namens Hamiltonella defensa hilft Blattläusen gegen parasitierende Wespen; Wolbachia-Bakterien schützen Drosophila gegen bestimmte Viren. Bei Drosophila neotestacea ist dies nur deswegen so spannend, da es zum ersten Mal in der Natur entdeckt und die Evolution beobachtet werden konnte. Denn während 1980 gerade mal 10% aller nordamerikanischen Fliegen mit Spiroplasma infiziert waren, sind es mittlerweile 80%. Gleichzeitig ist die Anzahl der unfruchtbaren Fliegen in dieser Zeit zurück gegangen. Diese Form von Evolution findet in unglaublich schneller Geschwindigkeit statt (gerade mal 30 Jahre!). Ich denke es gibt uns die Möglichkeit zu verstehen wie z.B. auch der Mensch sich in ein paar Millionen Jahren dermaßen erfolgreich durchgesetzt hat, indem er in der Lage war, auch ohne genetische Selektion sich zu verändern und anzupassen.

UPDATE: Laut Dr. Jaenike findet die Transmission der Bakterien tatsächlich durch die Eier statt. Es konnten Spiroplasma-Bakterien in den Oocyten von Drosophila nachgewiesen werden.
Quelle: Science 329 (5988): 212-215

Kommentare (61)

  1. #1 Ender
    Juli 20, 2010

    Das ist wirklich mal schnell und ein Glück für uns, dass wir das live miterleben können. Sind noch mehr solcher Schnellmutationen bekannt?

  2. #2 Ender
    Juli 20, 2010

    Berichtigung: Nicht “Schnellmutationen” sondern “Schnellevolution”. Mutationen sind ja sowieso schnell (‘instantan’?), aber ob sie sich durchsetzen ist eine andere Frage.

  3. #3 JV
    Juli 20, 2010

    Passt nirgends so ganz rein, deswegen hier: Geht es nur mir so, oder sind die Standard-Trolle und Cranks zu diesem Thema (“Evolution ist nur eine Theorie!” etc.) irgendwie seltener geworden?
    Hier bei Scienceblogs tummeln sich anscheinend eher die Homöopathen.

  4. #4 Ender
    Juli 20, 2010

    @JV: Psst, deine Buzz-Wörter könnten den GoogleAlert aufschrecken. 😉
    Sein wir doch froh. Dann können wir ungestört Fragen über Evolution erörtern. Es könnte auch sein, dass sich dieser junge Blog noch nicht rumgesprochen hat.

  5. #5 Christian A.
    Juli 20, 2010

    Ah, jetzt weiß ich wieder, was mir an dem Artikel fehlte: Auf welche Weise werden die Bakterien denn an die Folgegeneration weitergegeben? Sind die gleich mit in den Eiern drin, sind also die Eier schon von vornherein infiziert? Ein anderer Prozess kommt ja eigentlich nicht in Frage, weil die Fliegen eigentlich nicht für ihre Brutpflege bekannt sind, oder?

  6. #6 Redfox
    Juli 20, 2010

    … und auf Plastikverpackungen (die, die man nie auf kriegt) …

    Bei den dürren Ärmchen wundert das nicht… *duckundweg*

    😉

    P.S.:
    Evolution auf dem Planeten Kusmet.

  7. #7 Nils
    Juli 20, 2010

    @Ender:
    Mir sind da keine direkten Fälle bekannt. Bei Bakterien hat man natürlich im Labor schon viele genetische Veränderung in sogar noch kürzerer Zeit nachgewiesen, aber das ist was anderes. Bei kurzer Generationszeit verwundert das nicht. Sowas wie hier ist meines Wissens zum ersten Mal in der Natur dokumentiert. Daher war es wohl auch eine Publikation bei Science wert.

    @Christian:
    Du hast Recht. Diese Kleinigkeit fehlt. Ich hatte den gesamten Artikel gelesen und danach durchsucht, aber da halten sich auch die Autoren bewusst vage. (Auch wie genau der Nematod an seiner Entwicklung gehindert wird, können sie nicht erklären.) Doch die Verbreitung der Bakterien in den Population über den untersuchten Zeitraum lässt darauf schließen dass sie weiter gegeben wurden. Ich nehme an es findet tatsächlich über die Eier statt.

  8. #8 Geoman
    Juli 21, 2010

    Da im Prinzip beide Partner der ‘Symbiose’ zwischen Fliegen und Bakterien noch ohne einander leben können und keine Gene zwischen ihnen ausgetauscht sind, hat die Geschichte nach meinem Geschmack mit Evolution wenig zu tun, erinnert mich eher an eine Art Impfung.

  9. #9 Nils
    Juli 21, 2010

    Ja, aber die Bakterien breiten sich in der Population nur aus, weil sie den Fliegen nützen. Das würden sie nicht tun, wenn es keinen selektiven Druck dafür gäbe. Evolution … aber ohne Gene.

    PS: Du meinst übrigens Mutualismus, eine spezielle Form der Symbiose. Nur da ist es zwingend, dass beide Partner fest aufeinander angewiesen sind.

  10. #10 Geoman
    Juli 21, 2010

    Wäre Evolution so allgemein definiert nicht auch jede sich ausbreitende Epedemie ein Form von Evolution?

  11. #11 Nils Cordes
    Juli 21, 2010

    Na ja, Epidemien sind ja kurzzeitige Ausbreitungen, quasi eine horizontale Verbreitung im Raum ohne eine große zeitliche Komponente. In diesem Beispiel ist das aber eben der Knackpunkt: mehrere Generationen können deswegen immer besser überleben weil sie eine Methode angenommen haben, die ihnen das Überleben erleichtert. Der Selektionsdruck macht meines Erachtens den Unterschied …

  12. #12 Geoman
    Juli 21, 2010

    Üben nicht gerade Epedemien einen erheblichen Selektionsdruck aus?!

  13. #13 Nils Cordes
    Juli 21, 2010

    Klar. Aber auf den Wirt, also das Tier das dadurch beeinflusst wird. Dieses kann dann evolvieren um sich an die Krankheit anzupassen und sich eventuell gegen sie wehren. Das passiert über viele Generationen und ist daher auch … Evolution. In der Ausbreitung der Epidemie selbst allerdings sehe ich keine Evolution.

  14. #14 Geoman
    Juli 21, 2010

    Nunja, da beißt sich die Argumentation in den Schwanz und führt nicht wirklich weiter, denn wenn der Wirt bei einer Epidemie Resistenzen entwickelt, erhöht sich umgekehrt der Selektionsdruck auf den Parasiten. Der Selektionsdruck kann der Unterschied also nicht sein.

    Aber fangen wir noch mal von vorne an, Du oder wir wissen nicht genau,wie die Infektion mit Bakterien von einer Fliegengeneration an die nächste weiter gegeben wird. Du vermutest, sie erfolgt über die Eier. Sicherlich oder auch in jedem Fall gibt es aber auch Neuinfektionen bisher uninfizierter Fliegenpopulationen.

    Die durch die Infektion erfolgte erhöhte Resistenz gegen Nematoden ist dann so etwas wie eine erworbene Eigenschaft, die in jeder Generation neu erfolgen müsste. So etwas nennt man gemeinhin nicht Evolution. Und wenn die Infektion tatsächlich über die Eier erfolgen sollte, vermute ich auch, dass man eher nicht von Evolution spricht, also zumindest solange sich im Fliegengenom nichts tut.Und ob man das Bakteriengenom in diesem Fall schon zum Fliegengenom zählen sollte, nur weil die Infektion nützlich ist oder sein kann, halte ich doch für sehr fraglich.

  15. #15 Nils
    Juli 21, 2010

    Ich glaube wir reden ein bisschen aneinander vorbei. Natürlich ist Evolution auch bei Epidemien ein wesentlicher Faktor. Das ist das klassische Wettrüsten von Wirt und Krankheit (oder Räuber und Beutetier). Ich hatte den Eindruck du würdest die geografische Ausbreitung einer Epidemie dem Beispiel oben gleichsetzen.
    Ich denke dennoch dass Evolution ein Begriff ist, der weiter ausgebreitet werden kann als ich es bisher auch getan habe. Ich hatte es auf natürliche Selektion (oder das Prinzip des egoistischen Gens) reduziert. Aber dadurch werden sexuelle Selektion, Gendrift, Epigenetik und andere Mechanismen nicht berücksichtigt. Genauso denke ich dass ein Fall wie der von Spiroplasma und Drosophila auch ein Teil von Evolution ist. Ich hätte es wahrscheinlich einfach nur als Adaption bezeichnen sollen …
    Du hast Recht, die Bakterien sind erworbene Eigenschaften. Und bevor wir hier am Ende Lamarck Recht geben, sind wir uns wohl einig dass diese nicht weiter vererbt werden können. Aber wahrscheinlich ist es eine Auslegungssache. Im engen Sinn gebe ich dir Recht. Es ist keine Evolution. Aber es ist, wie ich am Anfang sagte, eine Veränderung und Anpassung und ich finde das sind ganz wesentliche Bestandtteile der Prozesse, die wir letztendlich Evolution nennen. Die Fliegen haben einen schnellen, ganz natürlichen Weg gefunden ihr Überleben zu sichern.

  16. #16 Balanus
    Juli 21, 2010

    Evolution ohne Gene—ja, das gibt es. Wir kennen die atomare, chemische, kosmische, technische und kulturelle Evolution. Diese Formen der “Evolution” kommen alle ohne Gene aus.

    Aber es gibt auch Mischformen wie die Gen-Kultur-Koevolution bzw. biokulturelle Evolution. Das geht dann zum Teil in Richtung teleologische Evolution und weicht somit auch von der reinen Lehre ab.

    Im Bereich der Biologie sollten wir den Begriff Evolution also schon enger fassen und nur solche Prozesse Evolution nennen, bei denen sich in einer Population Gen- bzw. Allelfrequenzen ändern. Alles andere verwirrt nur, und im Bereich der Evolutionslehre ist die allgemeine Verwirrung ohnehin schon viel zu groß (“Herr Lehrer, ich habe gelesen, Evolution geht auch ohne Gene…” — wollen wir das? Ich denke, nein).

    Beim ersten Lesen des Blogs habe ich sowieso gerätselt, welcher der drei beteiligten Organismen denn nun eine evolutive Veränderung erfahren haben soll. Gemeint waren also die Fliegen, weil bei Nematoden-Befall eine Spiroplasma-Infektion die Fertilität der Fliegen sichert.

    Wenn es hier einen Evolutionsschritt bzw. eine Anpassungsleistung gab, dann dürfte er bzw. sie wohl in der Tolerierung dieser Infektion gelegen haben. Aber das ist nur eine Vermutung, über Spiroplasma-infizierte Insekten weiß ich nichts Näheres.

  17. #17 jitpleecheep
    Juli 21, 2010

    @Balanus: “Im Bereich der Biologie sollten wir den Begriff Evolution also schon enger fassen und nur solche Prozesse Evolution nennen, bei denen sich in einer Population Gen- bzw. Allelfrequenzen ändern.”

    Warum dies? Wenn ich das richtig verstehe, ist das was hier passiert der erste Schritt in Richtung Endosymbiont. Und die Einlagerung von Chloroplasten möchte ich schon als Evolution bezeichnen, sonst wäre die Existenz all der hübschen Plümchen nämlich keine. 😉

    https://de.wikipedia.org/wiki/Chloroplast#Herkunft_der_Chloroplasten_-_Endosymbiontentheorie

  18. #18 Geoman
    Juli 22, 2010

    @ jitpleecheep

    Dass wir es hier mit ersten Schritten in Richtung in Endosymbiose zu tun haben, halte ich für höchst spekulativ. Wie bereits erwähnt, kennen wir ja nicht einmal den Mechanismus der Infektion. Und wenn jede Infektion mit einem Bakterium, die zu irgendetwas nütze ist, zu einer Endosymbiose verklärt wird, besteht die Lebewelt wohl fast nur noch aus Endosymbiosen.

  19. #19 Christian A.
    Juli 22, 2010

    @Balanus: Na ja, so eng würde ich das nicht sehen. An dem Beispiel der Fliege sehen wir ja die zwei Mechanismen der Evolution am Werke
    1. Weitergabe einer Eigenschaft von den Eltern (genauer: der Mutterfliege) an die Nachkommen, und
    2. Selektion dieser Eigenschaft durch erhöhte Nachkommenzahl der Träger dieser Eigenschaft.
    Da würde ich behaupten, man kann mit Fug und Recht von biologischer Evolution sprechen.
    (Ich sehe grad, dass ich mit diesen Aussagen konträr zu Nils ( 21.07.10 · 19:29 Uhr) stehe. Kannst du mir verzeihen? 😉 )

  20. #20 hape
    Juli 22, 2010

    Was ist eigentlich mit den ganzen Bakterien im menschlichen Verdauungstrakt. Die sind doch auch wichtig für Verdauung und Immunsystem, wie kommen die denn dahin? Werden die auch irgendwie vererbt oder siedeln sie sich im Laufe der Kindheit dort an?

  21. #21 Balanus
    Juli 22, 2010

    @ jitpleecheep
    @ Christian A

    Mir scheint, hier werden Ereignisse, die die Evolution beeinflussen können, mit der Evolution als solcher verwechselt.

    Für die biologische Evolution gibt es nun mal bereits eine einigermaßen klare Definition, und bei der ist eine Endosymbiose eine Endosymbiose und eine Infektion eine Infektion. Und von den Eigenschaften, die an die nächste Generation weitergegeben werden, interessieren nur solche, die im Genom verankert sind (was nicht ausschließt, dass erworbene Eigenschaften und Traditionen evolutionsbiologisch von Bedeutung sind oder sein können).

  22. #22 chlorobium
    Juli 22, 2010

    Eine Übertragung von Bakterien von der Eltern- auf die Nachwuchsgeneration gibt es auch bei Asseln. Hier muß der Nachwuchs den Kot der Eltern aufnehmen, um an die für den Zelluloseaufschluß wichtigen Bakterien zu kommen. Bei einigen Arten (Namen habe ich jetzt vergessen) erfolgt sogar durch die Eltern eine ganz aktive Fütterung.

    Im hier vorliegenden Fall würde ich davon ausgehen, daß das Bakterium sich verändert hat und dadurch eine weitere Verbreitung in der Drosophilapopulation erzielt hat. Drosophila bezahlt dies mit einer erhöhten Resistenz gegen einen Nematod.

    Wolbachia-Arten leben intrazellulär in den Vorpflanzungsorganen ihrer Wirte. Von daher ist es nicht notwendig, daß die Fliegen einen Übertragungsmechanismus extra entwickeln mußten … er war schon immer da.

  23. #23 Geoman
    Juli 22, 2010

    @ hape

    Der Verdauungstrakt eines Embryos ist steril. Es kann sich also nur um geburtliche oder nachgeburtliche gutartige Infektionen handeln.

  24. #24 Nils
    Juli 22, 2010

    @Christian:
    Klar verzeih ich. 😉 Aber ehrlich gesagt, du widersprichst mir gar nicht. Ich sehe es ganz genauso, dass die Mechanismen bei der Verbreitung der Bakterien in den Fliegenpopulationen völlig analog sind zu denen von natürlicher Selektion. Der Prozess, den wir aber als Evolution bezeichnen, wird in der Biologie nun mal häufig auf die Veränderung im Genom reduziert. Das fehlt hier. Ich kann also verstehen warum man sich schwer tut es wirklich als Evolution zu bezeichnen.

    @Balanus:
    Ich gebe zu, mit diesem Beitrag habe ich schon eine “Dose Würmer” geöffnet (wie man im Englischen so schön sagt). Du hast Recht; wenn man über Evolution redet kann man leicht missverstanden werden und es könnte sein, dass so ein Beitrag mehr Verwirrung stiftet als dass er informiert. Ich wollte aber zeigen in wie weit die Prozesse der Evolution reichen. Es gibt nun mal auch technologische und kulturelle Evolution. Das hier ist (denke ich) ein Beispiel von “kultureller” Evolution bei Fliegen. Wie sehr der Prozess dem der natürlichen Selektion dennoch ähnelt, hat Christian oben schön zusammengefasst.

  25. #25 optimus.prime
    Juli 22, 2010

    Sind noch mehr solcher Schnellmutationen bekannt?

    Es gibt eine Reihe von Veröffentlichungen die erstaunlich schnelle genetische Veränderungen in Populationen ‘vorstellen’. Spontan fallen mir Beispiele von Echsen ein; zum einen Eidechsen auf einer kleinen Insel in der Ägäis, zum anderen gibts vermutlich einiges zu Leguanen(Anolis) auf den Keys und den ganzen anderen Inseln in der Ecke.

  26. #26 jitpleecheep
    Juli 22, 2010

    @hape: “Was ist eigentlich mit den ganzen Bakterien im menschlichen Verdauungstrakt.”
    Wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, wird man perinatal (bei der Geburt) durch die Mutter damit geimpft. Also eine etwas unsaubere Sache, das ganze… 😉

    Jedenfalls sehe ich immer noch nicht, warum hier keine Evolution stattfindet.
    Man spricht bei Symbionten ja nicht umsonst von Koevolution. Das diese hier grade erst durch Selektion _beginnt_, tut der ganzen Sache doch keinen Abbruch.

    Und das die Drosophila-Gene der Infizierten daran im Moment nicht _direkt_ beteiligt sind, sondern nur von äußeren Umständen profitieren, ist nicht wichtig: Hier profitiert ein Teil der Population von einem völlig zufälligen Selektionsvorteil. Das heißt, dass deren Gene weiterkommen, die der anderen nicht. Und das ist alles woran Gene interessiert sind. Warum das so ist, ficht die doch gar nicht.

    Das _ist_ natürliche Selektion, nix kulturelles.

  27. #27 Der Webbaer
    Juli 22, 2010

    Ich denke es gibt uns die Möglichkeit zu verstehen wie z.B. auch der Mensch sich in ein paar Millionen Jahren dermaßen erfolgreich durchgesetzt hat, indem er in der Lage war, auch ohne genetische Selektion sich zu verändern und anzupassen.

    Klingt hier etwa durch, dass es humanerseits keine Selektion mehr gibt?

    MFG
    Wb

  28. #28 Nils
    Juli 22, 2010

    Ich hab mal nachgefragt. Die Bakterien werden tatsächlich über die Eier übertragen. Daher das kurze Update am Ende des Artikels.

    Nochmal generell (da hier ein paar Missverständnisse auftauchen): Evolution findet andauernd statt. Ob etwas momentan als Evolution verstanden werden kann oder nicht, entscheidet sich nach vielen Generationen und durch deren Anpassung an ihre Umwelt. Das Beispiel der Fliegen hier ist Teil der Evolution, ohne Frage. In seiner jetzigen Form ist es jedoch nicht zu vergleichen mit dem klassischen Prozess der natürlichen Selektion, da bisher keine Allele aufgetaucht sind, die besonders bevorzugt werden. Aber sprechen wir uns in ein paar hundert Jahren nochmal … 😉

    @Webbaer:
    Nein, das sollte so ganz sicher nicht verstanden werden. Siehe meinen Kommentar dazu hier, oder Jürgens Hinweis drüben bei GeoGraffitico.

  29. #29 Der Webbaer
    Juli 22, 2010

    @NIls
    OK. – Aber der zitierte Satz ist dann wohl – dezent formuliert – problematisch. Wir wollen uns ja nicht an sekundären Erbgutträgern bemessen (die zudem letztlich auf Grund erbspezifischer Eigenarten des Wirts präsent sind) lassen, gell.

    Ist ja ohnehin ein Politikum, “Sozialdarwinismus” und so darf es ja nicht geben.

    MFG
    Wb

    PS: “Evolution findet andauernd statt.”

  30. #30 jitpleecheep
    Juli 22, 2010

    @Nils: “In seiner jetzigen Form ist es jedoch nicht zu vergleichen mit dem klassischen Prozess der natürlichen Selektion, da bisher keine Allele aufgetaucht sind, die besonders bevorzugt werden.”

    Und an dieser Stelle bin ich nicht so wirklich deiner/eurer Meinung: Hier liegt sicherlich kein Selektionsdruck in dem Sinne vor, dass durch ein bestimmtes Ereignis ein (oder auch mehrere) _bestimmtes_ Gen bevorzugt wird.
    Aber durch die erhöhte Mortalitätsrate der nicht infizierten Teilpopulation verschieben sich die Wahrscheinlichkeiten für die Weitergabe (hier noch unbekannter) diverser Gene. In diesem Fall ist das halt unabhängig von ihrer Fitness, die werden hier eben zufällig selektiert.

    Da der Prozess nur 30 Jahre gedauert hat, und bei einer Teilpopulation von nur 10% (und wahrscheinlich noch kleiner) begonnen hat, gehe ich mal davon aus, dass der Genpool sich hier ganz kräftig verändert hat.

    Im Prinzip kann man das mit dem Flaschenhalseffekt vergleichen: Durch das abspalten einer Teilpopulation ändert sich der Genpool, wodurch sich bislang “unfitte” Gene ganz ohne Veränderungen oder direktem Selektionsdruck durchsetzen können, einfach weil sie jetzt nicht mehr von den fitteren in Schach gehalten werden.

    So versteh ich das jedenfalls. 🙂

  31. #31 Der Webbaer
    Juli 22, 2010

    Eigenschaften auf bestimmte Merkmalsausprägungen zu reduzieren ist, jedenfalls bei einer weitgehend unverstandenen Datenhaltung wie bei der DNS, in Form sogenannter Allele, jedenfalls sehr mutig.

    Man darf sicherlich unwidersprochen die o.g. Datenhaltung als weitgehend unverstanden und unabstrahiert (im Sinne der Informationsfeststellung) annehmen. So zu sagen eine große graue Zone, in der sich zwar viele abmühen, aber oft eher selbst grau werden als sinnhaft beitragen zu können.

    Aber gut, besser als nüscht.

    MFG
    Wb

    PS: Inhaltemeister darf sich auch äußern, wenn es konvenieren tut.

  32. #32 Monod
    Juli 22, 2010

    Ich bin da doch noch skeptisch, ob es sich hier um einen evolutionären Schritt handelt. Es ist zwar richtig, dass die infizierten Fliegen die nicht infizierten aufgrund der höheren Fitness verdrängen werden, so dass am Ende nur noch infizierte übrig bleiben, aber was bewirkt denn bei der einen Population, dass sie infiziert werden und bei der anderen, dass sie es nicht werden? An dieser Stelle müsste doch der Selektionsdruck auf das Genom der Fliege einwirken. Wenn es keine genetische Prädisposition gibt, die sich auf die Fähigkeit, sich zu infizieren, auswirkt, findet auch keine Gendrift statt. Evolution im Sinne von Artwandel verläuft aber über Selektion aus Variationen von Phänotypen, die sich wiederum auf Variationen im Genotyp zurückführen lassen. Wenn die Fliegen sich der Bakterien als Waffe gegen Fadenwürmer “bedienen” (sie bedienen sich ihrer ja nicht wirklich, sondern nur im übertragenen Sinne!), dann ist das zugegebenermaßen eine wirksame Methode der Anpassung via Symbiose, aber m.E. kein evolutionärer Schritt, der langfristig zu einer veränderten Fliegenart führt. Etwas anderes wäre es, wenn es im Genom der Fliege etwas gibt, das die Infektion begünstigt bzw. im Genom der anderen Population etwas gibt, das die Fliege gegen die Infektion immunisiert. Aber das scheint ja nicht vorzuliegen.

  33. #33 optimus.prime
    Juli 23, 2010

    Vielleicht bin ich noch nicht ganz wach, aber ich halte es für selbstverständlich dass hier bestimmte Gene gegenüber anderen einen Vorteil haben – und zwar indem sie Besiedlung und Verbreitung der Bakterien begünstigen. Sei es durch reduzierte Abwehr gegen genau diese Bakterien, verbesserte Lebensbedingungen durch eine Veränderung des inneren Milieus oder Veränderungen in/auf den Eiern.

  34. #34 Balanus
    Juli 23, 2010

    @Nils

    Es gibt nun mal auch technologische und kulturelle Evolution. Das hier ist (denke ich) ein Beispiel von “kultureller” Evolution bei Fliegen.

    “Evolution” in welchem Sinne? Mir scheint, Evolution wird hier nur synonym zu “Entwicklung” oder “Entfaltung” gebraucht. Dass es also technologische und kulturelle Entwicklungen gibt, ist ja klar, aber die verlaufen nach völlig anderen Prinzipien als die biologische Evolution. Tatsächlich sind Kultur und Technik stets nur Produkte einer der Evolution unterliegenden Spezies und können als solche niemals selbst evolvieren.

    Das heißt, die Verwirrung wird nochmals um einiges größer, wenn von einer Art “kulturellen” Evolution bei Fliegen gesprochen wird.

    Derartige Verwirrungen und Unklarheiten können vermieden werden, wenn man auf Grundlage oder im Rahmen einer umfassenden, einheitlichen Evolutionstheorie argumentiert. Innerhalb dieser gibt es nämlich keine separate technologische oder kulturelle “Evolution”.

    Wenn ich mir so die bisherigen Kommentare hier anschaue, so widersprechen die meisten der These von einer Evolution ohne Gene bei Drosophila neotestacea . Wenn bei einem Teil der Fliegenpopulation bereits begünstigende Gene/Allele für eine Besiedelung mit Spiroplasma vorlagen, ist die Sache ohnehin klar (Evolution mit Genen). Wenn nicht, dann könnte die Infektion mit der Zeit immerhin zu einer Veränderung im Genpool der Fliegen führen (Evolution mit Genen). Wenn das aber nicht passiert, wenn sich genetisch bei den Fliegen nichts ändert, dann beobachten wir auch keinen evolutionären Wandel und mithin keine Evolution ohne Gene.

  35. #35 Nils
    Juli 23, 2010

    @Balanus:
    Im Grunde gebe ich dir ja völlig recht. Ich will auch versuchen, in Zukunft biologische Evolution (also mit Genen 😉 im Vordergrund zu halten. Ich denke aber es sollte nicht schaden, zu zeigen in wie weit Prozesse, über die man generell nicht im Schulbuch liest, Teil der Evolution sind. Genauso haben es Jaenicke und Co. hier gemacht und ich denke es ist ein gutes Beispiel.
    Laut dem Oxford English Dictionary wird Evolution auch in vielen anderen Zusammenhängen benutzt, und zwar schon lange bevor Darwin die natürlicher Selektion mit ins Spiel brachte. “Kulturelle Evolution” ist ein fester Bestandteil in der Entwicklung des Menschen, und ich sehe da Analogien in dem Fall der Drosophila hier (wenngleich es etwas weit gegriffen ist, diese als “kulturell” zu bezeichnen). Natürlich haben wir hier ein kleines Zeitfenster, zu klein um genetische Veränderungen zu dokumentieren. Das heißt natürlich nicht, dass Gene hier keine Rolle spielen.
    Wahrscheinlich, und auch da hast du Recht, sollte ich nicht sagen hier findet “Evolution ohne Gene” statt, sondern dass dieser Prozess hier ein wesentlicher Bestandteil der Evolution ist, in dem Gene bislang nicht verändert wurden. Aber dass das, was bei nordamerikanischen Drosophila momentan statt findet, Teil deren Evolution ist, denke ich ist unbestreitbar.

  36. #36 Balanus
    Juli 23, 2010

    Klar, @Nils,

    wie Du schon sagtest, Evolution findet andauernd statt, (fast) alles, was lebende Systeme betrifft, ist auch Teil der Evolution. Und eine Diskussion anzustoßen finde ich ohnehin gut.

    Und mir ist auch klar, dass die Biologen den Begriff Evolution nicht erfunden haben und alleine berechtigt wären, mit diesem Begriff zu operieren.

    Aber ich sehe auch die Gefahr, dass das ohnehin geringe Verständnis für das, was (biologische) Evolution wirklich ist (nämlich ziel- und richtungslos), durch den inflationären Gebrauch dieses Begriffs noch weiter abnimmt.

    Beste Grüße

  37. #37 jitpleecheep
    Juli 23, 2010

    (irgendwie fühle ich mich hier grad ignoriert 😉 )

    @Balanus: Aber genau das hier ist doch ein gutes Beispiel _gegen_ deine Bedenken.

    Ich finde es nicht gut, wenn man den Begriff Evolution nur auf Mutation und Selektion beschränkt, so funktioniert sie nämlich nicht (nur). Und das ist inzwischen ja auch die allgemeine Lehrmeinung. Mit dieser starken Einengung des Begriffes zieht man eben diese Spinner an, die dann sagen “das alles kann nicht nur durch Mutation & Selektion entstehen”. Und dann muss man wieder ausholen und erklären, richtig, Evolution ist mehr, blahblah.

    Ausserdem finde ich, dass gerade hier ein hervorragendes Beispiel für ziel- und richtungslose Evolution vorliegt, denn es gibt ja anscheinend (zumindest ist es noch nicht entdeckt, aber siehe optimus.prime oben) keinen Grund, keine Fitness, warum ein Teil des Genpools dem anderen bevorzugt wird.

    Ansonsten bleibe ich bei meiner Meinung, dass auch Gendrift, Kooperation, Altruismus (auch alles Dinge, die ohne Änderungen des Genoms auskommen) und wie hier beginnender Endosymbiontismus (gibt es dieses Wort so?) selbstverständlich Evolution sind und selbstverständlich auch “biologische” Evolution.

    In einer Sache muss ich mich aber selber korrigieren: natürlich ist der Flaschenhalseffekt (also Gendrift) keine Selektion (im eigtl Sinne), insofern liegt hier auch keine wirkliche Selektion vor. Insofern frage ich mich dann, unter welchem Begriff man das hier einordnen soll. Ist das dann auch Gendrift, was hier passiert (das der Genpool massiv verändert wird durch die Bakterien ist ja wohl unbestritten)?

  38. #38 Balanus
    Juli 23, 2010

    @ jitpleecheep

    Nun, das Szenario im Gefolge der Infektion, welches Du weiter oben beschrieben hast, ist so ziemlich genau das, was ich meine, wenn ich sage, Evolution ohne Gene gibt es nicht (in der Biologie). Mag sein, dass die Infektion (oder die neu erworbene Endosymbiose) irgendwann einmal zu merklichen evolutionären (also genetischen) Veränderungen bei Drosophila neotestacea führt, aber bislang ist es wohl noch nicht so weit (oder eben noch nicht entdeckt).

    Es wurde ja schon mehrfach gesagt und da gibt es auch keine Dissens: Evolution findet kontinuierlich statt. Jede Lebensäußerung der Organismen kann nur im Rahmen des Evolutionsgeschehens stattfinden. Außerhalb der Evolution existiert kein uns bekanntes Leben.

    Andererseits merken wir im Alltag nichts davon, dass wir uns in einem Evolutionsprozess befinden. Alle Nachkommen sind von der gleichen Art wie die Eltern. Kein Wunder, dass man lange von der Konstanz der Arten ausging.

    Das interessante an der Evolution sind also die Änderungen, der Wandel der Arten, und da müssen wir immer irgendwo einen willkürlichen Schnitt machen, wenn wir von einen “Evolutionsschritt” sprechen—wie es z.B.oben @Monod getan hat. Evolution meint eben Veränderung, ein Unterschied zwischen früher und später.

    Nun gibt es auch Unterschiede im Verhalten, die nicht vererbt, sondern durch Lernen weitergegeben werden. Jetzt ist die Frage, sollen wir eine solche nichterbliche Verhaltensänderung als einen Evolutionsschritt bezeichnen? Nach mehrheitlicher Auffassung der Biologen: Nein.

    Wenn der Mensch also früher mit den Fingern gegessen hat und heute Messer und Gabel benutzt, so ist das keine evolutionäre Änderung, sondern eine kulturelle Entwicklung. Dass das veränderte Verhalten, Erlerntes und Traditionen, Auswirkungen auf den weiteren Fortgang der Evolution haben können, steht auf einem anderen Blatt. Kulturtechniken sind letztlich nichts weiter als weitere, die Evolution beeinflussende Umweltfaktoren.

    Langer Rede kurzer Sinn: Wir sollten die von Dir genannten Evolutionsmechanismen (Gendrift etc,) und Verhaltensweisen (Kooperation, Altruismus etc.) fein säuberlich von den evolutionären, genetischen Veränderungen, also der Evolution selbst, unterscheiden. Das ist einfach methodisch sinnvoll und sorgt zudem für Klarheit.

    » Ich finde es nicht gut, wenn man den Begriff Evolution nur auf Mutation und Selektion beschränkt…«

    Ich auch nicht. Hattest Du den Eindruck, ich tue das?

    Ich wende mich nur gegen die Verwässerung des Begriffs Evolution und trete für einen starken, umfassenden Evolutionsbegriff ein, der zumindest auf dem Felde der Biologie solchen Ungetümen wie “kulturelle Evolution” oder “technologische Evolution” oder “Gen-Kultur-Koevolution” den Garaus macht ;-).

  39. #39 jitpleecheep
    Juli 23, 2010

    “Ich auch nicht. Hattest Du den Eindruck, ich tue das? ”
    Irgendwie schon… 🙂
    Du sprichst halt die ganze Zeit von genetischen Veränderungen, die nicht stattgefunden haben (sollen).

    Aber das ist ja gerade mein Standpunkt: Durch den massiven Eingriff in den Genpool, der hier ja stattgefunden haben muss, sind natürlich genetische Veränderungen entstanden. Es sind einfach andere Gene weitergegeben worden, als es ohne die Bakterien der Fall gewesen wäre.

    Ebenso ist es bei Kooperation und Altruismus, die sogar Wikipedia übrigens als Selektion bezeichnet, und Gendrift, der bei Wikipedia (sorry, ich hab hier gerade kein besseres Nachschlagewerk zur Hand 🙂 ) als Komplement zur Selektion gesehen wird.
    Evolution findet statt, wenn die Wahrscheinlichkeiten für die Weitergabe von Genen verändert wird. Das _sind_ genetische Veränderungen. Und das ist hier, meiner Meinung nach, sehr der Fall gewesen.

    Ich habe den Eindruck, du beziehst dich in deiner Haltung zu sehr auf die einzelnen Gene und übersiehst dabei den Einfluss, den die Individuen und der gesamte Genpool auf die Gene haben.

    “Nun gibt es auch Unterschiede im Verhalten, die nicht vererbt, sondern durch Lernen weitergegeben werden. Jetzt ist die Frage, sollen wir eine solche nichterbliche Verhaltensänderung als einen Evolutionsschritt bezeichnen?”
    Nein, auf keinen Fall (obwohl es da in der jüngeren Forschung ja lustige Ergebnisse zu gibt). Aber das habe ich ja nicht behauptet.

  40. #40 Balanus
    Juli 24, 2010

    @jitpleecheep

    “Du sprichst halt die ganze Zeit von genetischen Veränderungen, die nicht stattgefunden haben (sollen).”

    Wo tue ich das?

  41. #41 Monod
    Juli 24, 2010

    @jitpleecheep

    “Durch den massiven Eingriff in den Genpool, der hier ja stattgefunden haben muss, sind natürlich genetische Veränderungen entstanden. Es sind einfach andere Gene weitergegeben worden, als es ohne die Bakterien der Fall gewesen wäre.”

    Es sind nach wie vor Fliegengene weitergegeben worden, die – so entnehme ich es dem Eröffnungsbeitrag – in Bezug auf die Infizierung mit den Bakterien keinerlei phänotypische Relevanz haben. Folglich sind hier keine _anderen_ also veränderte Gene weitergegeben worden, sondern die Variationsbreite der Gene der infizierten Fliegen entspricht in etwa der Variationsbreite der nicht infizierten Fliegen bzw. der Variationsbreite des Gesamtgenpools. Natürlich verändert sich der Genpool einer Population ständig, aber die Ausgangsfrage war doch, ob hier eine Evolution stattfindet, die _ohne_ Gene verläuft – mithin also keine Einwirkung auf den Genpool hat, die als Mutation oder Gendrift nachweisbar wäre. Den Ausführungen von @Balanus kann ich vollumfänglich zustimmen. Hier liegt offenbar kein Evolutionsschritt vor, sondern ein Adaptionsmechanismus. Inwiefern zu einem späteren Zeitpunkt das Fliegengenom “nachzieht” und eine fittere Genvariante selektiert wird, die die Symbiose mit dem Bakterium erblich fixiert, steht auf einem anderen Blatt. Das wäre dann ein “echter” Evolutionsschritt.

  42. #42 Geoman
    Juli 24, 2010

    Dieser Blog heißt bekanntlich “evolvismus”. In ‘Über das Blog’ lesen wir:

    “Man kann Biologie nicht studieren, und in der Biologie nicht forschen, ohne dass man auf Evolution stößt, denn es ist der eine Prozess der alles verbindet und mit dem fast jede biologische Frage beantwortet werden kann. Am Besten hat es der Evolutionsgenetiker Theodosius Dobzhansky gesagt: Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution.”

    Ich habe selten einen Beitrag (und Diskussion) gelesen, in dem das, was man unter Evolution heute so alles versteht, so verwirrend aufzäumt wird wie hier, als der genau das Gegenteil von dem tut, was in “Über das Blog” behauptet wird. Das beginnt mit der etwas reißerischen aber äußerst unglücklich gewählten Überschrift “Evolution ohne Gene (aber mit Fliegen)”.

    Vielleicht sollte man sich erstmal mit Lehrbuchbeispielen für Evolution beschäftigen, bevor man das hier gewählte eher schwierige Beispiel aus evolutionstheoretischer Perspektive betrachtet und analysiert. Kurz: Ich empfehle, einen Grundsatzbeitrag über Evolution/Evolutionstheorien/-mechanismen heute!

  43. #43 Nils
    Juli 24, 2010

    @Geoman:
    Noch ein Zitat aus “Über das Blog”:
    “Das bedeutet aber nicht, dass es hier nur um Biologie geht. Auch in der Technologie, im Kino und beim Sport wird von Evolution gesprochen. Ob das gerechtfertigt ist, und was es mit den verschiedenen Formen der Evolution so auf sich hat, das versuche ich in diesem Blog zu diskutieren.”
    Ich denke dieser Beitrag hat genau für das gesorgt, was ich mir wünschte – eine angeregte Diskussion zum Thema. Wenn sogar Wissenschaftler sich nicht einig sind, wie man dieses Paper zu den Fliegen einzuordnen hat, kann man das hier wohl auch nicht erwarten. Wir sind noch immer im Prozess viele Bestandteile der Evolution zu verstehen. Mittlerweile wissen wir dass es weit mehr ist als natürliche Selektion.
    Aber ich gebe zu, wie Balanus schon sagte, man sollte aufpassen, dass durch solch “reißerische” Ausflüge zu weniger typischen Bereichen der Evolution nicht die Gefahr besteht dass sie völlig missverstanden wird.

  44. #44 Geoman
    Juli 25, 2010

    Hallo Nils,

    Theodosius Dobzhansky berühmter Satz “Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution” wird regelmäßig als Tatsache verstanden. Er jedoch kein Fakt oder keine Realität, sondern ein großer Anspruch, der von Evolutionsbiologen erst eingelöst werden muss. Dies ist nicht einfach und gelingt deshalb auch oft nicht. Dessen sollten wir uns bewusst sein.

    Gruß

    Geoman

  45. #45 sparc
    Juli 25, 2010

    Ich denke es gibt uns die Möglichkeit zu verstehen wie z.B. auch der Mensch sich in ein paar Millionen Jahren dermaßen erfolgreich durchgesetzt hat, indem er in der Lage war, auch ohne genetische Selektion sich zu verändern und anzupassen.

    Wenn sich das auf die gesamte Gattung Homo bezieht, mag man von Millionen von Jahren reden können. Wie die Entwicklung von Homo rudolphensis bis zum rezenten Menschen ohne genetische Veränderungen erfolgt sein soll, bleibt das Geheimnis des Autors. Ist “genetische Selektion” eigentlich ein Begriff der Evolutionsbiologie? Man findet ihn im Zusammenhang mit Eugenik, aber passt er hier? Und wie kann man darauf kommen, dass Evolution ohne Gene möglich sei? Weshalb heißt die Syntheische Theorie wohl so und nicht anders? Und wieso bestimmen die Autoren der Studie mtDNA Haplotypen? Offensichtlich um festzustellen, ob sich Spiroplasma in der Gesamtpopulation ausbreitet oder auf bestimmte Individuen mit einer bestimmten genetischen Ausstattung beschränkt bleibt. Wenn ich das paper richtig verstehe, dann verbreitet sich die Resistenz gegen Nematoden zusammen mit bestimmten Haplotypen. Bezüglich der mtDNA findet also eine Verschiebung der Allelfrequenzen in der D. neotestacea Population statt. Es bedarf dazu keiner kürzlich erfolgten Neu-Mutationen, entsprechende Allele sind offensichtlich schon lange in der Population vorhanden. Man könnte weiter darüber spekulieren, ob bestimmte mtDNAs mit bestimmten Allelen der Kern-DNA gekoppelt sind (wenn nicht, welchen Sinn hääte eine Untersuchung der mtDNA) und welche Rolle Gene von Spiroplasma bei der Geschichte spielen. Wie man aber versuchen kann, aus dem paper eine “Evolution ohne Gene” herzuleiten, bleibt mir ein Rätsel.

  46. #46 jitpleecheep
    Juli 25, 2010

    @Balanus: “Wo tue ich das?”
    Hm, naja, sowas hab ich halt so verstanden: “Wir sollten die von Dir genannten Evolutionsmechanismen (Gendrift etc,) und Verhaltensweisen (Kooperation, Altruismus etc.) fein säuberlich von den evolutionären, genetischen Veränderungen, also der Evolution selbst, unterscheiden.”

    Das impliziert doch, das hier keine genetischen Veränderungen stattgefunden haben.
    Abgesehen davon, dass in diesem Zitat drinsteckt, was mich an deiner Sichtweise so irritiert: Evolution _ist_ Selektion, Kooperation, Altruismus, Gendrift, etc. pp. Diese Mechanismen bewirken ja, das Gene anders als “normal” weitergegeben werden. Das ist Evolution. Deshalb versteh ich das mit dem “säuberlich trennen” einfach nicht. Was soll man da trennen?
    Vielleicht versteh ich dich aber auch einfach die ganze Zeit falsch und wir reden aneinander vorbei. 🙂

    @Monod: “Folglich sind hier keine _anderen_ also veränderte Gene weitergegeben worden, sondern die Variationsbreite der Gene der infizierten Fliegen entspricht in etwa der Variationsbreite der nicht infizierten Fliegen bzw. der Variationsbreite des Gesamtgenpools. Natürlich verändert sich der Genpool einer Population ständig, aber die Ausgangsfrage war doch, ob hier eine Evolution stattfindet, die _ohne_ Gene verläuft – mithin also keine Einwirkung auf den Genpool hat, die als Mutation oder Gendrift nachweisbar wäre.”

    Das ist auch so ein Punkt: Aber natürlich sind hier andere, veränderte Gene weitergeben worden. Ich hab so den Eindruck — wie gesagt, vielleicht versteh ich euch auch einfach nur falsch — dass ihr der Meinung seid, Evolution findet nur statt, wenn sich in einem Individuum ein Gen ändert, und das dann weitergegeben wird.
    Aber Fortpflanzung alleine verändert Gene, dass genau ist ja ihre Aufgabe. Und hier findet auch noch Fortpflanzung unter Druck statt: Wie gesagt hat sich das Bakterium von 10% auf 80% innerhalb von 30 Jahren verteilt. Und da ist das zumindest doch sehr fraglich, ob der Genpool noch “der Variationsbreite der nicht infizierten Fliegen” entspricht. In meinen Augen unterscheidet sich das hier nicht so sehr von einem Vulkanausbruch, einem Meteoriteneinschlag, usw usf. Hier werden also Gene rekombiniert (also verändert), die “normalerweise” so nicht rekombiniert worden wären.

    Und letztlich ist ja auch ernsthaft zu fragen, ob in den 30 Jahren nicht schon tatsächlich direkte Mutationen entstanden sind. Ein Kandidat wäre z. B. Masking: Was ist, wenn die Drosophilas vor 30 Jahren schon irgendeinen rudimentären (offensichtlich nicht so wirklich guten) Schutzmechanismus gegen die Nematoden hatten? Dessen Gene könnten jetzt in aller Ruhe degenerieren, ohne das die Population irgendwas davon mitbekäme, die Funktion wird ja von den Bakterien übernommen. Und was ist eigtl mit den Bakterien selbst? Deren Reproduktionsrate ist ja nochmal um ein vielfaches höher.

    Sei es wie es sei, natürlich sind das alles nur Spekulationen, aber ich bin jedenfalls nicht eurer Meinung, wenn ihr das hier so eindeutig als Nicht-Evolution abtut.
    Und abgesehen davon finde ich die Diskussion hier sehr spannend. Ist doch schön, wie sich Evolutionsexperten und -amateure offensichtlich nicht so wirklich grün sind, womit sie es eigentlich zu tun haben. 🙂

    Cheers,
    jitpleecheep

  47. #47 sparc
    Juli 26, 2010

    Und abgesehen davon finde ich die Diskussion hier sehr spannend. Ist doch schön, wie sich Evolutionsexperten und -amateure offensichtlich nicht so wirklich grün sind, womit sie es eigentlich zu tun haben. 🙂

    Vielleicht sind hier, trotz des Blog-Titels und ohne mich ausnehmen zu wollen, doch eher Evolutionsamateure unter sich.

  48. #48 Nils
    Juli 26, 2010

    Jetzt mal langsam! Welcher Teil meines Blogs lässt darauf schließen dass ich ein Experte bin?! Ich bin Entomologe und Doktorand, der am Verhalten von Insekten arbeitet. Evolutionsbiologische Fragen stehen dabei an der Tagesordnung, aber als Experte würde ich mich deswegen noch nicht bezeichnen. Ich finde die Themen faszinierend, und wie die meisten hier in den Kommentaren, möchte ich sie deshalb gerne diskutieren.
    Aber dass auch Experten, oder zumindest Wissenschaftler aus den verschiedensten Bereichen, zu diesem Artikel unterschiedliche Meinungen haben, kann man in diesem Wired-Artikel sehen.

    Bei Ed Yong’s spannendem Blog ging es übrigens mal um eine ähnliche Thematik – kann Evolution auf etwas wirken das nicht ein Gen ist? Die Wissenschaft maßt sich nicht an, alles über Evolution zu wissen. Es ist also spannend neue Bereiche auszukundschaften. In dem Zusammenhang finde ich John Jaenikes Arbeit sehr interessant. Alles was er zeigt ist eine Analogie zur Evolution. Ob die Fliegen dabei nach Genvarianten ausselektiert werden oder nicht, ist dabei meines Erachtens irrelevant, denn diese Populationen passen sich zumindest über einen relativ kurzen Zeitraum so an ihre Umgebung an. Der Mensch hat dies in vielen Fällen auch schon getan und tut es noch.

  49. #49 Monod
    Juli 26, 2010

    @jitpleecheep

    “Aber natürlich sind hier andere, veränderte Gene weitergeben worden. Ich hab so den Eindruck — wie gesagt, vielleicht versteh ich euch auch einfach nur falsch — dass ihr der Meinung seid, Evolution findet nur statt, wenn sich in einem Individuum ein Gen ändert, und das dann weitergegeben wird.”

    “Aber Fortpflanzung alleine verändert Gene, dass genau ist ja ihre Aufgabe.”

    Fortpflanzung allein ist aber noch keine Evolution, sondern allenfalls die Methode, über die Evolution möglich bzw. wirklich wird. Dass sich der Genpool mit jedem Vermehrungsakt und mit jedem Sterbeereignis verändert, ist ja unbestritten. Aus dem Eröffnungsbeitrag war allerdings zu entnehmen, dass an Stelle einer zu erwartenden Immunisierung gegen den Befall von Fadenwürmern, die via Gendrift in einer veränderten Allelhäufigkeit nachweisbar wäre, diese Rolle durch Bakterien übernommen wird, von denen die Fliegen infiziert sind. Daraus schließe ich, dass die Verteilung der Allele in Bezug auf die Fähigkeit zur Immunisierung gegenüber Fadenwürmern bzw. Bakterien bei infizierten Fliegen nicht signifikant verschieden ist von der Verteilung der nicht infizierten Fliegen. Oder anders: Es hat bislang keine Gendrift in Bezug auf immunisierende Allele stattgefunden.

    Nun kann ich dem Beitrag von @sparc entnehmen:

    “Wenn ich das paper richtig verstehe, dann verbreitet sich die Resistenz gegen Nematoden zusammen mit bestimmten Haplotypen. Bezüglich der mtDNA findet also eine Verschiebung der Allelfrequenzen in der D. neotestacea Population statt. Es bedarf dazu keiner kürzlich erfolgten Neu-Mutationen, entsprechende Allele sind offensichtlich schon lange in der Population vorhanden.”

    Das wiederum weist darauf hin, dass offensichtlich doch eine Gendrift bezüglich hier relevanter Allele stattfindet. Wenn das so ist, dann haben wir hier ein sehr schönes Beispiel für eine Evolution MIT Genen, die über eine Bakterieninfektion induziert wird. Daher ist mir ebenfalls rätselhaft, weshalb hier eine Evolution OHNE Gene vorliegen soll. Insofern halte ich die Blogüberschrift für deplatziert und irreführend.

  50. #50 Monod
    Juli 26, 2010

    @ Nils:

    “Alles was er zeigt ist eine Analogie zur Evolution.”

    Ach so, es ist nur eine Analogie …

    “Ob die Fliegen dabei nach Genvarianten ausselektiert werden oder nicht, ist dabei meines Erachtens irrelevant, …”

    In Bezug auf die Frage, ob hier ein Evolutionsschritt vorliegt oder nicht, ist das allerdings schon relevant.

    “… denn diese Populationen passen sich zumindest über einen relativ kurzen Zeitraum so an ihre Umgebung an.”

    Ja, aber über Symbiose. Wäre es Evolution, müsste sich das als veränderter Genotyp nachweisen lassen. Genau das ist aber der Knackpunkt in dieser Diskussion.

    “Der Mensch hat dies in vielen Fällen auch schon getan und tut es noch.”

    Ist Anpassung via Kultur und Technologie ein Evolutionsmechanismus, der auf den Genotyp rückwirkt?

  51. #51 Nils
    Juli 26, 2010

    @sparc:
    Danke für den Hinweis auf die Ergebnisse aus den mtDNA Haplotypen. Ich muss (zu meiner Schande) zugeben, dass ich diesen Teil des Papers anscheinend überlesen habe. Du hast Recht, die Allelfrequenzen variieren zwischen verschiedenen Haplotypen und Spiroplasma-infizierte Fliegen fallen in ganz spezifische Gruppen.

    Was ich aber ursprünglich mit diesem Beitrag aussagen wollte, und weshalb das gewählte Paper dafür nun vielleicht doch nicht so optimal war, ist dass es Prozesse außerhalb der natürlichen Selektion gibt, die Populationen formen. Gut, wir nennen sie nicht Evolution, wie ich oben ja auch zugegeben habe. Aber selbst eine strikte Symbiose kann doch Populationsformend sein und letztendlich eine wichtige Rolle in der Evolution spielen.

    @Monod:
    Natürlich kann Anpassung via Kultur sich auf den Genotyp zurück wirken (siehe Reisanbau in China), aber mir geht es doch nicht darum ob sie das tut. Deshalb war der genetische Aspekt bei dem Fliegenbeispiel hier auch weniger relevant. Selektion wirkt auf den Phänotyp, und es gibt genug Phänotypen, die nicht genetisch bedingt sein müssen. Die Symbiose hier, wenn wir sie als Phänotyp der Population akzeptieren, bringt einen Vorteil. Und das ist ein Prozess, den ich nicht aus der Evolution ausschließen möchte, weil noch keine genetische Veränderung statt fand.

    Wie gesagt, ihr habt mich erwischt, Evolution ohne Gene ist hier etwas weit her geholt, oder besser (ich sag es jetzt endlich) falsch. Mich würde aber viel mehr interessieren, wie ihr es außerhalb dieses Beispiels seht. Gehört die kulturelle Entiwcklung des Menschen nicht dennoch zur Evolution, auch wenn sich bisher keine neuen Arten bilden? Das sind doch genau die Unterschiede, die Artenbildung in der Vergangenheit erst möglich gemacht haben.

    Oder?

  52. #52 Monod
    Juli 27, 2010

    @Nils:

    “Gehört die kulturelle Entiwcklung des Menschen nicht dennoch zur Evolution, auch wenn sich bisher keine neuen Arten bilden?”

    Ich denke nein. Anderenfalls müssten sich Allele nachweisen lassen, die herausselektiert wurden, um den Menschen für Kultur besonders geeignet sein zu lassen. Die Laktosetoleranz der Indoeuropäer lässt sich hier nicht als Argument ins Feld führen, denn die Laktose-intoleranten Asiaten sind nachweislich ebenfalls in der Lage, eine kulturelle Entwicklung zu vollziehen. Es bestand/besteht somit kein Selektionsdruck hin zu Laktosetoleranz bzw. -intoleranz, allenfalls vielleicht in Teilpopulationen, die auf Milch als Haupt-Nahrung ausweichen mussten. Der übrige Rest hatte andere Nahrungsquellen zur Verfügung, so dass hier die Selektion nicht greifen konnte. Kurz: Der Gesamtgenpool der Menschheit nimmt mit Hilfe kultureller Entwicklungsstände an Variabilität schneller zu als es ohne sie der Fall wäre, aber da die natürliche Selektion zu fast 100 Prozent außer Kraft gesetzt ist, sind Gendriften hin zu sympatrischer Artaufspaltung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Daher sehe ich die Art Homo sapiens als erste an, die sich auf der Basis der biologischen Evolution nicht zu einer weiteren Art weiterentwickelt. Im anderen Thread hatte ich schon einmal geschrieben, dass ich den modernen Menschen als ersten Endpunkt (wohlgemerkt: nicht Zielpunkt!) einer natürlichen Entwicklungslinie sehe. Die Allelfrequenz des Genpools wird zwar nach wie vor innerhalb bestimmter Grenzen fluktuieren, aber die Art Homo sapiens wird nicht abgelöst werden durch eine andere, die aus ihr hervorgeht – zumindest nicht auf natürlichem Weg.

  53. #53 Geoman
    Juli 28, 2010

    @sparc schrieb

    “Bezüglich der mtDNA findet also eine Verschiebung der Allelfrequenzen in der D. neotestacea Population statt. Es bedarf dazu keiner kürzlich erfolgten Neu-Mutationen, entsprechende Allele sind offensichtlich schon lange in der Population vorhanden.”

    Das ist eine ganz wichtige vielfach unterschätzte Feststellung. Sehr oft werden in Evolutions-Lehrbüchern nämlich Beispiele für erfolgreiche Anpassung von Lebewesen an veränderte Umweltbedingungen angeführt, die eben nicht, wie behauptet, auf schnelle Neu-Mutationen, sondern nur auf Verschiebung von Allelfrequenzen beruhen.

  54. #54 chlorobium
    Juli 28, 2010

    Ja und? Ob Neumutation oder Allelverschiebung. In beiden Fällen handelt es sich um evolutionäre Prozesse.

  55. #55 Geoman
    Juli 28, 2010

    @chlorobium

    Das Problem oder die Irreführung ist, dass die Verschiebung von Allelfrequenzen als Beispiel oder Beleg für die Darwinsche Evolution angegeben oder ‘verkauft’ wird, aber die besteht bekanntlich nunmal aus Mutation und Selektion.

    Vielleicht steckt auch dahinter, dass es in der Natur (oder sogar bei Laborexperimenten) gar nicht so einfach ist, definitiv nachzuweisen, ob ein bestimmtes Allel schon vor oder erst nach einer Umweltveränderung da war bzw. entstanden ist.

  56. #56 Ludmila
    Juli 28, 2010

    Hat der Geoman mal wieder nicht begriffen, dass die Evlutionsforschung nicht bei Darwin angehalten hat, sondern seitdem sehr viel mehr herausgefunden hat? Betreibt der Geoman hier wieder mal seinen putzigen kleinen Personenkult und nennt das “Kritik”. Verschweigt der Geoman mal wieder LTE?

    Lasst Euch nicht die Sicht vernebeln. Geoman ist ein Kreationist. Seine Kritik besteht vornehmlich aus: “Ich verstehe das nicht und verkaufe Dinge als Fakt, die gar keine Fakten sind und das nenne ich dann “Kritik””

  57. #57 Geoman
    Juli 28, 2010

    @Ludmila

    Die zwei Fragezeichen in Deinem bissigen Kommentar sind schon ein erster kleiner Fortschritt auf Deinem schwierigen Weg zu einem differenzierten Weltbild. Ich mag es zwar auch bissig, aber – wie Du weißt – gerne noch etwas differenzierter:

    https://www.kritische-naturgeschichte.de/Seiten/uebergroessen.html

  58. #58 Balanus
    Juli 28, 2010

    @Nils

    Gehört die kulturelle Entiwcklung des Menschen nicht dennoch zur Evolution, auch wenn sich bisher keine neuen Arten bilden? Das sind doch genau die Unterschiede, die Artenbildung in der Vergangenheit erst möglich gemacht haben.

    Ich halte Kultur für einen Teil der menschlichen Natur. Kultur gehört zum Menschen wie die Biberburg zum Biber, das Wespennest zur Wespe, der Termitenhügel zur Termite, und so fort.

    Die Kultur beruht auf den besonderen kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die sich logischerweise evolutiv entwickelt haben. Die diversen Kulturprodukte und -techniken sind dazu da, bessere Lebensbedingungen zu schaffen und so die Überlebens- und Reproduktionschancen zu erhöhen oder wenigstens zu sichern. Kultur ist somit Teil der Umwelt und nimmt insofern auch auf die Evolution des Menschen Einfluss.

    Es gibt also einen Zusammenhang zwischen kulturellen Entwicklungen und genetischen Veränderungen des Menschen, und zwar durch die veränderten Umweltbedingungen.

    Dieser Zusammenhang wird—nach meinem Verständnis—mit dem speziell bei Kulturwissenschaftlern beliebten Begriff “Gen-Kultur-Koevolution” nicht adäquat beschrieben.

    Zur Artbildung: Die Menschheit war ja drauf und dran, sich in Unterarten oder Varietäten aufzuspalten. Die unterschiedlichen Phänotypen in Europa, Asien und Afrika werden von manchen sogar schon als solche gesehen (um den belastenden Begriff “Rasse” zu vermeiden). Aber inzwischen dürfte die Erde zu klein geworden sein für eine Aufspaltung in mehrere Menschenarten. Allerdings, für die sehr ferne Zukunft und nach einem Totalzusammenbruch aller Zivilisationen (mit entsprechender Schrumpfung der Population auf wenige Tausend), kann man so etwas nicht ausschließen.

  59. #59 chlorobium
    Juli 28, 2010

    @geoman:
    Es ist keine Irreführung. Die Verschiebung von Allelfrequenzen in einer Population über die Zeit entspricht in modernen Worten genau dem, was Darwin in – The Origin of Species – unter Evolution dem Leser zu vermittlen versuchte. Mutation und Selektion sind hingegen nur die Werkzeuge, derer sich die Evolution bedient. Und Darwin hat auch nie von Mutation gesprochen. Immer nur von Veränderungen von Eigenschaften. Bitte hier nicht alles durcheinander werfen.

  60. #60 Geoman
    Juli 28, 2010

    @ chlorobium

    Was Du hier gerade betreibst, nennt man gemeinhin Wortphilistertum. Wenn man so argumentiert wie Du, müsste unmittelbar 99 % aller Evolutionslehrbücher wegen begrifflich-historischer Ungenauigkeiten aus dem Verkehr ziehen.

    Natürlich hat Darwin nicht von “Genmutation” gesprochen, weil er keine Gene oder Erbfaktoren kannte. (Zumindest letztere hätte er aber bekanntlich kennen können, denn Mendels Untersuchungen waren ihm zugänglich.)

    Der (englische) Begriff “Mutation” im Sinne der Veränderung von Eigenschaften/Merkmalen oder Arten im Laufe der Zeit steht im Übrigen schon x-mal in der ersten Ausgabe von 1859*. Und über nix anderes (und den Ursachen dafür) diskutieren wir (beide) hier.

    *Bekanntlich sprach man sogar von Transmutationstheorie.

  61. #61 sparc
    August 2, 2010

    Das ist eine ganz wichtige vielfach unterschätzte Feststellung. Sehr oft werden in Evolutions-Lehrbüchern nämlich Beispiele für erfolgreiche Anpassung von Lebewesen an veränderte Umweltbedingungen angeführt, die eben nicht, wie behauptet, auf schnelle Neu-Mutationen, sondern nur auf Verschiebung von Allelfrequenzen beruhen.

    D.h. aber sicher nicht, dass ich, wie anscheinend geoman, glaube, dass Allelfrequenzen gottgegeben sind.