Neulich las ich in dem Buch „The Earwig’s Tale” von May Berenbaum, einem äußerst unterhaltsamen Kompendium moderner Sagen aus der Insektenwelt. Und in Kapitel „J”, einem Nachdruck ihres Artikels aus dem American Entomologist, ging es dann unter anderem um Tiere mit Gesichtern auf dem Körper. Da gibt es bekannte Beispiele: Feuerwanzen mit ihren Totem-ähnlichen Flügeln, Totenkopfschwärmer, -schaben und -schwebfliegen, den Nachtfalter Acherontia lachesis (siehe Foto) und mein Favorit: die Happy Face Spinne.

Acherontia lachesis
Der Nachtfalter Acherontia lachesis mit “Totenkopf” auf dem Rücken. (Foto: Trevor Hartsell, Wikipedia)

Am Ende des Kapitels lernte ich von einem Wissenschaftler, dessen Schaffen mir gänzlich unbekannt war. Seine Beiträge zur Evolutionsforschung fanden zwar in erster Linie vor über 30 Jahren statt, aber ab und zu scheint er immer wieder aufzutauchen. So z.B. 1996, als er für seine Arbeit ausgezeichnet wurde. Und zwar mit dem Ig Nobel Preis für Biodiversität.

Während viele der Ig Nobel-Preise für Forschung überreicht werden, die zuerst ganz absurd erscheint, später jedoch irgendwie interessant wird, handelt es sich in diesem Fall wohl eher um die Kategorie „einfach nur absurd”.

Chonosuke Okamura war eigentlich ein Paläontologe der sich auf Fossilien von Invertebraten und Algen spezialisierte. Doch Ende der 1970er Jahre entdeckte er ein Fossil, welches ihm die Sprache verschlug: Eine ca. 430 Millionen Jahre alte Ente von der Größe eines 1-cent-Stückes. Er suchte weiter und fand weitere Kreaturen in der gleichen Größe; Mini-Hunde, Mini-Gorillas, einen Mini-Pterodaktylus, einen Brontosaurier von der gleichen Größe der Ente, und letztendlich einen Minimenschen. Er fand sie unter einem gewöhnlichen Mikroskop in Steinschichten aus dem Silur. Am Interessantesten fand er dass sich die Tiere, und vor allem auch der Mensch, in dieser Zeit äußerlich kaum verändert haben. „Es gab keinerlei Veränderungen des Menschen seit dem Silur … außer in der Größenänderung von 3,5 mm zu 1700 mm,” schrieb Okamura in seinem Artikel.

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Okamuras Minimenschen; tatsächlich kann man erkennen dass es sich nur um kreativ ausgelegte Steinformen handelt und nicht um einen Mensch mit Baby im Arm (A) und einen Schädel (B links, rechts ist ein tatsächlicher Schädel) (Quelle: Improbable Research)

Man könnte meinen das Ganze wäre ein großer Scherz, aber Okamura verbrachte viele Jahre mit diesem Hobby. 1980 veröffentlichte er dann die „Period of the Far Eastern Minicreatures” im Journal seines eigenen Okamura Fossil Laboratory. Er identifizierte sämtliche Funde und gab ihnen neue Namen. Der Mini-Hund hieß da Canis familiaris minilorientalis, der Mini-Mensch Homo sapiens minilorientales und der Mini-Drache, den er ausgegraben hatte, wurde letztendlich Fightingdraconus miniorientalis genannt.

Seit 1987 ist das Okamura Fossil Laboratory geschlossen. Die Bücher existieren aber noch heute, und sind von Sammlern z.T. stark begehrt (ich selbst würde auch gerne mal ein Exemplare davon, mit allen 200 Seiten, in meine Hände kriegen). Trotz ihrer Absurdität erfüllen sie dennoch einen ganz wichtigen Zweck: sie machen deutlich wie gefährlich es ist, wenn man versucht, Fossilien in heutige Schemata zu stecken. Die Fossilien, die in uralten Steinen gefunden werden, sind von Tieren die es heute meist nicht mehr gibt. Und nur weil sie so aussehen wie ein Schlammspringer, müssen es nicht mal Vorfahren von Schlammspringern sein. Pareidolie nennt sich das Phänomen, nach dem wir versuchen spezielle Formen in zufälligen Strukturen zu erkennen. Es gibt genügend ähnliche Beispiele: ein Gesicht auf dem Mars, die Jungfrau Maria auf Toast oder in einem Gehirn, oder dutzende von Gesichtern auf Felsen und Bäumen draußen vor der Tür. Schaut nach! Findet man die Form einer Mini-Ente in einem Stein, und sucht man weiter, dann dauert es nicht lange bis auch der Mini-Mensch auftaucht.

Der nächste Ig Nobel-Preis wird übrigens am 30. September vergeben. Wer an diesem einmaligen Erlebnis Teil haben will kann sich ab Sonntag Tickets bestellen. Mehr dazu gibt es hier.

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Kommentare (4)

  1. #1 Geoman
    Juli 30, 2010

    Sehr interessante Geschichte. Das Buch von May Berenbaum mit denen modernen Sagen über die Insektrenwelt werde ich mir wohl zulegen. Bezüglich des Paläontologen Chonosuke Okamura kann ich mir die (zugebenermaßen etwas abgestandene) Bemerkung nicht verkneifen, dass er zeigt, wie nah Wissenschaft und Wahsinn zusammenliegen können…

    Dass wir dazu neigen, spezielle Strukturen in (zufälligen) Phänomen zu erkennen, ist nicht nur eine Manie, sondern hat auch seine positiven Seiten, wie ich in der Einleitung zu meinem Artikel “Theorienstreite um die Rekonstruktion eines fossilen Wundertieres” formuliert habe:

    “Zur Genialität des menschlichen Geistes zählt die Fähigkeit, Unvollständiges zu erkennen und zu vervollständigen. Das klappt im Alltag ganz gut, wenn das Gesamtbild, das wir aus Bruchstücken zusammenfügen, uns vorher schon bekannt ist, etwa wenn schon aus der Ferne von einem typischen Gang oder einer vertrauten Stimme ziemlich sicher auf eine bestimmte Person schließen oder ein nur schemenhaft erkennbares Flugbild eines Vogels ziemlich sicher einer bestimmten Art zuordnen.

    In der Alltagswelt ist das Zusammenfügen von Bruchstücken zu einem Gesamtbild eine Frage der Beobachtungsgabe und Erfahrung (»Man sieht nur was man kennt«), aber auch der Intuition und Stimmung. Dies ist in der wissenschaftlichen Welt nicht anders, nur dass hier die Gegenstände oft nicht unmittelbar sicht- oder greifbar sind, sondern theoretisch konstruiert werden müssen. Man sagt auch, dass sie in hohem Maße theorieinfiziert sind. Das wird immer dann deutlich, wenn sich an der Konstruktion wissenschaftlicher Gegenstände Theorienstreitigkeiten entzünden.”

    vgl.: https://www.kritische-naturgeschichte.de/Seiten/darwinian_evolution.html#XII

  2. #2 Redfox
    August 3, 2010

    Trotz ihrer Absurdität erfüllen sie dennoch einen ganz wichtigen Zweck: sie machen deutlich wie gefährlich es ist, wenn man versucht, Fossilien in heutige Schemata zu stecken. Die Fossilien, die in uralten Steinen gefunden werden, sind von Tieren die es heute meist nicht mehr gibt. Und nur weil sie so aussehen wie ein Schlammspringer, müssen es nicht mal Vorfahren von Schlammspringern sein. Pareidolie nennt sich das Phänomen, nach dem wir versuchen spezielle Formen in zufälligen Strukturen zu erkennen.

    Ein Paradebeispiel dafür ist ‘Atlas Of Creation’ des türkischen Kreationisten Harun Yahya, das Buch ist voll davon. Nicht nur Vergleiche von Fosilien und heute lebenen Tieren, sondern auch mit Fliegenfischködern.
    Richard Dawkins hat sich schon mit dem Buchauseinandergesetzt.

    siehe auch:
    https://blogs.nature.com/mike/2008/10/27/lies-damned-lies-and-the-atlas-of-creation

  3. #3 Redfox
    August 3, 2010

    Oh, und noch was witziges:
    https://cectic.com/188

  4. #4 Nils
    August 3, 2010

    Redfox, danke für die netten Links (auch zum Muppet-Video letztens). Cectic wurde soeben als Lesezeichen gesetzt. 🙂