Es gibt so ein paar Artikel, die in wissenschaftlichen Journalen auftauchen, die drehen die wissenschaftliche Welt auf den Kopf. Solche „Paper” erscheinen irgendwie alle 10-20 Jahre. Da war Francis Cricks “The Origin of the Genetic Code” (1968), oder die frühen Paper über Drosophila (Coyne & Orrs “Patterns of Speciation in Drosophila” (1989) fällt da spontan ein). Jetzt erschien in Nature ein Artikel, der ein ähnlich historisches Schwergewicht werden könnte. In der Zukunft wird dieses Paper einfach Nowak, Tarnita & Wilson 2010 heißen. Und es versucht, die Evolution von Sozialität neu zu schreiben.
Die Autoren gaben ihrer Abhandlung den nicht gerade bescheidenen Titel “The evolution of eusociality”. Bei den Autoren handelt es sich um die Mathematiker Martin Nowak und Corina Tarnita, sowie Edward O. Wilson, dem Begründer des Konzepts der Soziobiologie. E. O. Wilson ist mittlerweile 81 Jahre alt und hat für unser Wissen über soziale Insekten wahrscheinlich mehr geleistet als irgendwer sonst. Dazu kommt, dass er ein unterhaltsamer Redner und großartiger Autor ist, was den Text dieses neuen Artikels in großen Teilen zu einem Genuss werden lässt.
Was den Inhalt des Textes aber angeht, da würde ich – sagen wir mal – gerne eine kleine Zeitreise in die Zukunft wagen um zu sehen ob die vertretenen Thesen sich gehalten haben.
Das Ende der Verwandtenselektion
Kurz gesagt: Nowak, Tarnita & Wilson (2010) erklären, dass Verwandtenselektion und damit das Modell der inklusiven Fitness nicht mehr haltbar sind um Eusozialität zu erklären. Stattdessen schlagen sie ein neues Modell vor.
Eusozialität ist ein ganz spezifischer Begriff, der sich auf relativ wenige Tiergruppen anwenden lässt, denn es müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein: 1) Zusammenleben mehrerer Generationen, 2) kooperative Brutpflege, und 3) Arbeitsteilung der Individuen. Das trifft in erster Linie auf die sozialen Insekten der Hymenopteren (Hautflüglern) wie Bienen und Ameisen zu, findet sich aber auch bei Termiten, Garnelen und Nacktmullen. Entscheidend war bei diesen extremen Fällen von Eusozialität, dass ein Großteil der Nachkommen ihre eigene Reproduktionsfähigkeit komplett zugunsten der Eltern aufgibt. “Nur die Bienenkönigin legt Eier.”
Das Konzept der Verwandtenselektion wurde dabei entwickelt, weil es erklären konnte, warum ein Individuum sich eher um Koloniemitglieder anstatt um sich selbst kümmert. Bei den Hymenopteren sind nämlich die Schwestern näher miteinander verwandt als mit ihren Eltern (und dementsprechend auch mit ihren Nachkommen, siehe Haplodiploidie). Aus Sicht des egoistischen Gens ist es daher vorteilhafter, sich um den Erhalt der Gene seiner Familie zu kümmern, als durch eigene Paarung die Vermischung von Genen zu riskieren. Die Fitness, die dem Individuum so durch seine Geschwister beschert wird, wurde bislang inklusive Fitness genannt.
Nun soll das alles nicht mehr gelten. Inklusive Fitness ist ein Konzept, das mathematisch viel zu komplex sei als dass es realistisch auf eusoziale Tiere anwendbar ist. Das Problem ist dabei schon sehr alt. E. O. Wilson hat mehrfach seine Bedenken bezüglich der Theorie geäußert. Hohe Verwandschaft kann kein Grund für Sozialität sein, da es viel zu selten in der Natur auftaucht. Tiere die durch Haplodiploidie oder sogar durch Klonen Nachkommen schaffen, sollten dem Gedanken nach größeres Potential für Sozialität haben. Aber viele haplodiploide parasitäre Wespen sind Einzelgänger, und abgesehen von Blattläusen konnten bisher keine sozialen Klone entdeckt werden. Es kommt noch schlimmer: Termiten sind eusozial und nicht näher mit ihren Geschwistern verwandt als mit ihren Eltern; und manche Ameisen unterstützen sogar genetische Vielfalt als Schutz vor Krankheiten. Nein, die nahe Verwandtschaft ließ sich nie als Grund für Eusozialität nutzen, und dennoch hatte die Verwandtenselektion Jahrzehnte Bestand.
Altruismus durch natürliche Selektion
Ist Verwandtenselektion eigentlich eine Theorie? „Nein,” argumentieren Nowak et al. „Sie beschreibt weder evolutionäre Dynamik noch die Verteilung von Genfrequenzen.” Sie kritisieren, dass sie aber bislang als solche benutzt wurde. Bisherige Studien haben einfach eine Korrelation zwischen genetischer Verwandtschaft und Sozialverhalten gefunden, aber das reicht nach den neuen Ergebnissen nicht aus. Inklusive Fitness muss das Netzwerk der verwandten Individuen berücksichtigen, welches um Vieles komplizierter ist als das des Einzelnen. Es müssen alle kompetitiven Interaktionen berücksichtigt werden.
Nowak, Tarnita und Wilson zeigen jetzt aber dass dies gar nicht nötig wäre, da sich die Sozialität auch durch natürliche Selektion erklären lässt. Laut den Autoren könnte Evolution von Eusozialität demnach eine Abfolge von mehreren Schritten sein, bei denen Verwandtenselektion gar keine Rolle spielen muss. Zuerst formen sich Gruppen in einer vielfältigen Population, die Eigenschaften haben, die das Zusammenleben fördern. Dies wurde schon häufig beobachtet; z.B. verhalten sich solitäre Bienen wie eusoziale, wenn sie experimentell zusammengebracht werden (sie führen ihre Arbeiten in Sequenz aus, was eine evolutionär spätere Kastenaufteilung fördern könnte). Als nächster Schritt erscheinen Mutationen (oder Gene werden stillgelegt), die z.B. das Abwandern reduzieren. Letztendlich entstehen neue Eigenschaften in der Gruppe; hier – und jetzt wird es knifflig – wirkt Selektion jetzt nicht mehr auf das Individuum sondern auf die Gruppe. Wilson befürwortet seit einiger Zeit das Konzept der Gruppenselektion. Im Paper erhält es jedoch nur einen Satz, wer mehr darüber lesen möchte muss schon andere Texte des Wissenschaftlers zu Rate ziehen (z.B. diesen Artikel aus dem Quarterly Review of Biology (PDF)).
Präadaptionen wie die sequenzielle Arbeitsabfolge der Bienen werden ständig bei sozialen Insekten gefunden. Und natürliche Selektion dieser Adaptionen können das Zusammenleben gefördert haben. Aus mathematischer Sicht (soweit ich das mit meinem beschränkten mathematischen Verständnis beurteilen kann) würde es Sinn machen, dass die hier angegebenen Hypothesen funktionieren. Doch ich denke nicht dass sich Eusozialität, die sich bewiesenermaßen mehrfach, separat in den verschiedensten Tiergruppen entwickelt hat, auf ein einfaches Konzept reduzieren lässt. Dazu meinen jedoch Nowak, Tarnita & Wilson:
Sie argumentieren dass die generelle Theorie der speziellen vorzuziehen sei. Ich würde darauf antworten, dass dies ganz stark von der Situation abhängt. Kann es nicht sein, dass Verwandtenselektion die Eusozialität von Hymenopteren erklärt, nicht aber von Termiten? Die Autoren geben mir im gleichen Absatz in gewisser Weise Recht:
Die Kontroverse
Natürlich tritt ein solches Paper erst mal viel los. Nature zitiert mehrere Wissenschaftler, darunter auch David Sloan Wilson, die nicht überzeugt sind, dass das neue Modell das Konzept der inklusiven Fitness völlig verdrängen kann.
Ich muss zugeben, dass ich jegliche Versuchserklärung für das Phänomen, dass Tiere ihre Reproduktionsfähigkeit komplett aufgeben, zu schätzen weiß. Darwin bereitete es schon Kopfzerbrechen, die Arbeiterkasten der sozialen Insekten zu erklären. Allerdings bin ich von diesem Paper enttäuscht. Nirgends gehen die Autoren darauf ein, dass Individuen ihre Reproduktionsfähigkeit aufgeben. Ihr vorgestelltes Modell erklärt nicht Eusozialität, sondern soziales Verhalten in der Gruppe. Die von E. O. Wilson selbst aufgestellten drei Voraussetzungen von Eusozialität (s.o.) werden durch das Modell nur teilweise erklärt.
Verwandtenselektion betrifft nicht nur den Altruismus, den Geschwister einander aufbringen. Auch elterliche Fürsorge fällt in die Kategorie. Wie erklärt ihr Modell warum sich Eltern bei vielen Tierarten um ihre Nachkommen kümmern?
Außerdem werfen sie mit dem Begriff „Theorie” für ein Nature-Paper sehr stark um sich. Klar und deutlich argumentieren sie, dass Inklusive Fitness keine Theorie darstellt, nur um sich selbst auf der gleichen Seite zu widersprechen indem sie es als alternative Theorie mit natürlicher Selektion vergleichen. Nowak, Tarnita und Wilson machen das Gleiche, was sie den Anhängern der Verwandtenselektion vorwerfen: Sie verallgemeinern und behaupten ihr neues Modell sei auf alle Bereiche anwendbar.
Ich denke aber so einfach ist das Thema nicht vom Tisch. Ihr Modell erklärt nicht wieso bei Bienen, Ameisen und Hummeln, Weibchen zu Arbeitern werden, aber nicht die Männchen. Ihrer Argumentation nach müssten beide Gruppen gleichermaßen in die Arbeiterkaste gebunden sein. Wie etwa bei den Termiten. Ich bin nicht überzeugt, dass ihre Theorie – genau wie Inklusive Fitness – nicht auch nur auf ein Subset of evolutionary models anzuwenden ist.
Verwandtenselektion mag keine große Rolle bei der Aufrechthaltung von sozialen Systemen spielen, aber das heißt nicht, dass sie nicht maßgeblich zu der Entwicklung von Eusozialität bei manchen Gruppen geführt haben kann.
Hiermit erkläre ich die Diskussion zum Thema für eröffnet.
Nowak, M., Tarnita, C., & Wilson, E. (2010). The evolution of eusociality Nature, 466 (7310), 1057-1062 DOI: 10.1038/nature09205
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