Seit in Nature vor kurzem ein neues Paper veröffentlicht wurde, in dem das Ende der Verwandtenselektion erklärt wurde (mehr dazu hier), hat dieses für viele obskure Konzept wieder mehr Aufmerksamkeit bekommen. Dabei wurde es in dem Paper eigentlich nur in einem Satz versteckt angesprochen:

In the fifth and final phase, between-colony selection shapes the life cycle and caste systems of the more advanced eusocial species.

Das Paper hat dann, wie zu erwarten war, Richard Dawkins dazu gebracht, Gruppenselektion erneut zu kritisieren. Das wiederum hat David Sloan Wilson, dem geistigen Vater der modernen Gruppenselektion, zurück zu seinen ScienceBlogs geführt, auf denen er seitdem erneut seine Fehde mit Mr. Dawkins aufrecht hält und in mehreren Artikeln die theoretischen Hintergründe zu besagtem Paper diskutiert. Und dazu gehört selbstverständlich seine Gruppenselektion.

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Ich sage gleich, dass ich das Konzept der Gruppenselektion nicht gerade umarme und mit ihm abends etwas trinken gehen würde. Gruppenselektion und ich sind keine guten Freunde. Das liegt aber weniger daran, dass ich es für falsch halte (Selektionsdruck kann auch auf Gruppen wirken, das bestreite ich nicht), als daran, dass ich seinen Wert in Frage stelle. Gruppenselektion ist für mich ein eher philosophisches Konzept, welches u.a. dazu dient, Mr. Wilson und Mr. Dawkins zu Meinungsverschiedenheiten zu animieren. Es erklärt aber – meiner Meinung nach – sehr wenig Konkretes in der Biologie.

Und damit wären wir beim Thema: Was ist eigentlich Gruppenselektion?

Vero Wynne-Edwards, ein britischer Zoologe, entwickelte das Konzept 1962. Danach verhalten sich Tiere so, dass sie ihrer Gruppe zum Überleben verhelfen. Genauer gesagt, sie reduzieren Nahrungskonsum und Anzahl der Nachkommen um die verfügbaren Ressourcen nicht auszuschöpfen und so das Überleben ihrer Population gefährden. „Zum Wohle der Gruppe” ist dabei eine ähnliche Floskel wie „zur Erhaltung der Art”. Beides sind Ideen, die in der Natur so nicht nachgewiesen werden konnten. Ein Verhalten dient nie der Erhaltung der Art. Der kürzlich verstorbene George C. Williams klärte das in seinem Buch „Adaptation and Natural Selection” (1966); Richard Dawkins baute darauf in seinem Buch „Das egoistische Gen” (1979) auf und erläuterte, das Ziel eines Individuums ist allein die Erhaltung und das Wohl des Individuums, und zwar so weit bis es seine Gene an die nächste Generation weiter geben konnte. Auch ohne von DNA und Genen zu wissen, war das schon Charles Darwins Definition von „Fitness”.

Nun, auch wenn das „egoistische Gen” der Hauptangelpunkt für Evolution sein mag, bedeutet das nicht dass das Gen das einzige Objekt ist, das Selektion unterliegt. Das Individuum (oder genauer gesagt: der Phänotyp des Individuums) wird in erster Linie selektiert: Ist das Verhalten und Erscheinungsbild eines Tieres gut an seine Umgebung angepasst, überlebt es lange genug um Nachkommen zu produzieren. Gleiches gilt für Gruppen – Individuen aus Populationen, die besser an ihre Umwelt angepasst sind und in der direkten Konkurrenz mit anderen Gruppen Vorteile haben, werden eher ihre Gene weiter geben als andere. Auch das hat Charles Darwin schon erkannt:

darwin1875.png
Aus: Die Abstammung des Menschen, C. Darwin, 1875

Die Gruppe als Selektionsniveau – aus diesem Gedanken formte David Sloan Wilson eine neue Form der Gruppenselektion. Während es klare Parallelen zu Wynne-Edwards Konzept gibt, unterscheidet Wilson ganz deutlich zwischen dem Selektionsdruck „innerhalb” der Gruppe und „zwischen” den Gruppen. Der Hauptantrieb für diesen Gedanken entstand aus dem Wunsch, Altruismus zu erklären. Laut Wilson kann altruistische Verhaltensweise in der Gruppe nur evolutionär stabil sein wenn der Selektionsdruck, der auf die Gruppe wirkt, stärker ist als der, der auf das Individuum wirkt. Die Individuen haben das Interesse, ihren eigenen Erfolg zu maximieren, aber sie können durch dieses egoistische Verhalten den Erfolg der Gruppe gefährden. Sozialverhalten kann vor diesem Hintergrund nur entstehen, wenn das „Wohl der Gruppe” größeren Wert für das Überleben der Individuen hat, als das Wohl des Individuums. Deshalb argumentiert Wilson, dass eine Individuums-zentrische Sicht der Evolution nicht ausreicht um Sozialverhalten zu erklären. Dies war die Geburtsstunde der Multi-Level Selektion („Selektion wirkt auf mehrere Ebenen, inklusive Gruppe und sogar Art.”) – die moderne Gruppenselektion ist davon nur ein Bestandteil.

Jingle-Jangle

Der Sozialpsychologe Sam Gosling hat letztens auf einer Konferenz das hierbei bestehende Problem schön auf den Punkt gebracht, und dabei hat er gar nicht von Gruppenselektion geredet. Laut ihm gibt es in der Wissenschaft die Jingle Fallacy (verschiedene Wissenschaftler verstehen unter dem gleichen Namen verschiedene Sachen), und die Jangle Fallacy (das gleiche Konzept wird von verschiedenen Wissenschaftlern unterschiedlich benannt). Im Falle der Gruppenselektion ist es meiner Meinung nach ein Jingle-Jangle, mit Hang zum Jingle.

Der Begriff der Gruppenselektion ist mittlerweile so missverstanden dass seine Benutzung zwangsläufig zu Problemen führt. Häufig werden Wynne-Edwards und Wilsons Begriffe durcheinander geschmissen, nicht zuletzt von Wilson selbst. Außerdem wird Gruppenselektion gerne Verwandtenselektion gegenüber gestellt, als ob es bei beiden „Modellen” um verschiedene Sachen ginge. In Wirklichkeit ist Gruppenselektion nichts weiter als eine ganz spezielle Form der Verwandtenselektion, da genetische Korrelationen zwischen sozialen Partnern aus den verschiedensten Gründen auftreten können. Tatsächlich ist es in den meisten Fällen so, dass Gruppen im Tierreich stärkere Verwandtschaft untereinander aufweisen als mit geographisch getrennten, anderen Gruppen. Interessanterweise war Wilsons erstes Modell daher auch nur signifikant, wenn die untersuchten Gruppenmitglieder untereinander verwandt waren.

Auch andere Definitionen sind in diesem Disput von Bedeutung: Was ist eine Adaption, und auf welchem Niveau prägt sie sich aus? Was ist eigentlich Altruismus, direkte Fitness und wie unterscheiden sich Kosten und Einschränkungen bei Verhalten? Ab diesem Punkt nimmt ein großer Teil der semantischen Meinungsverschiedenheiten philosophische Ausmaße an und hat letztendlich auch nur noch einen philosophischen Wert. Die Stanford University hat dazu einen umfangreichen Artikel in ihrer Encyclopedia of Philosophy: Units and Levels of Selection.

In einem empfehlenswerten Mini-Review (PDF) haben sich die Autoren West, Griffin & Gardner von der University of Edinburgh mit den Problemen der Semantik in der Soziobiologie auseinandergesetzt.

Welchen Beitrag leistet Gruppenselektion?

Die Frage, die Biologen in erster Linie interessiert, ist eine ganz andere als die der Philosophen. Es ist egal wer Recht hat, und wer was missversteht; entscheidend ist wie gut Gruppenselektion als Modell funktioniert. Und genau da ist sie bisher gescheitert. Als Modell ist sie zu kompliziert um mit Verwandtenselektion mit zu halten. Verwandtenselektion ist ein ultimates Modell (im Gegensatz zu proximat), das beschreibt, ob ein soziales Allel sich in der Population ausbreitet. Es ist kein Mechanismus, der Sozialität fördert, sondern nichts weiter als eine Form der evolutionären Kontoführung, wie Mr. Wilson hier sehr schön erklärt. Als solches ist Verwandtenselektion einfach besser anwendbar[*] als Gruppenselektion, besonders da Wilson eingestanden hat, dass Gruppenselektion bisher nicht mit statistischen Modellen vereinbar ist.

Group selection … is unimportant for the origin and maintenance of adaptation.

Aus: A defense of reductionism in evolutionary biology, G. C. Williams, 1985

Was mich aber vielmehr interessiert, ist, ob Gruppenselektion überhaupt hilfreich ist. Ich bewege mich damit inhaltlich auf der gleichen Ebene wie Nowak et al. – nur frage ich nach einem anderen Modell: ist Gruppenselektion nötig, um Adaptionen und soziale Verhaltensweisen zu erklären? Oberflächlich macht Gruppenselektion Sinn, doch betrachtet man einzelne Fälle, findet man, dass viele allein mit Selektion auf das Individuum zu erklären sind. Das heißt: Oft ist nicht mal Verwandtenselektion nötig um gesteigerte Fitness in einem Fall zu finden. Erfolgreichere Gruppen sind in erster Linie deswegen besser angepasst, weil die Individuen dieser Gruppe besser angepasst sind. Die Aufteilung in „innerhalb der Gruppe” und „zwischen den Gruppen” ist völlig willkürlich, denn Selektionsdruck wirkt zwangsläufig auf beide. Es wäre Schwarz-weiß-Malerei, eine Eigenschaft zu wählen (oder vielleicht ein Gen für Altruismus) und zu fragen, ob der Selektionsdruck auf die Gruppe in diesem Fall stärker ist als der auf das Individuum. Die Interaktion in der Gruppe sowie mit Individuen außerhalb der Gruppe formt das Verhalten der Individuen völlig unabhängig vom Selektionsdruck auf die Gruppe.

Solange wir nicht die einzelnen Schritte in der Entstehung von komplexem Sozialverhalten kennen, hilft uns Gruppenselektion nicht weiter, da sie die individuelle Komponente ausschließt. Verwandtenselektion ist dabei meines Erachtens ein hilfreiches Modell, welches Fragen beantworten kann, zu denen Gruppenselektion nicht in der Lage ist. Durch die oben beschriebenen, semantischen Missverständnisse bewirkt Gruppenselektion aber vor allem eines: sie gibt Mr. Wilson und Mr. Dawkins die Gelegenheit, sich öffentlich zu streiten.

Womit wir wieder beim Anfang wären – so ungefähr läuft die Gruppenselektionsdiskussion seit über 20 Jahren.

[*] Zumindest war sie das bisher in jahrzehntelanger Forschung. Nowak et al. argumentieren z.T. recht erfolgreich, dass selbst sie als Modell gar nicht nötig ist.

Kommentare (10)

  1. #1 Jörg
    September 17, 2010

    Sehr schöne Übersicht!
    Wilson war mir bislang vor allem dafür bekannt, in seinem Blog als erstes eine Telenovela-ähnlich lange Abhandlung darüber verfasst zu haben, warum Atheismus eine Religion ist. Aber Dawkins erwähnt ihn auch schon am Rande in seinen Büchern.

  2. #2 Ulrich Berger
    September 17, 2010

    Eine schöne Übersicht. Aber ich fürchte, du trägst damit teilweise selbst zur “semantischen Konfusion” bei. Du verwendest “Verwandtenselektion” sowohl in seiner Buchhaltungsbedeutung (inclusive fitness bei DS Wilson) als auch in seiner ursprünglichen Bedeutung als Mechanismus, der auf Verwandtschaft i.S.v. gemeinsamer Abstammung beruht.

    Wenn du einerseits sagst: Verwandtenselektion ist … eine Form der evolutionären Kontoführung und andererseits behauptest, In Wirklichkeit ist Gruppenselektion nichts weiter als eine ganz spezielle Form der Verwandtenselektion, dann implizierst du damit, Gruppenselektion sei nur eine spezielle Form der evolutionären Buchführung. Damit kann ich dann aber rein gar nichts mehr anfangen. Und bei Oft ist nicht mal Verwandtenselektion nötig um gesteigerte Fitness in einem Fall zu finden, weiß ich nicht einmal mehr, was du damit eigentlich meinen könntest?

  3. #3 Nils
    September 17, 2010

    @Ulrich:
    Ich fürchte bei diesem Thema ist es schwer, nicht zu verwirren. Das Hauptproblem dabei ist meiner Meinung nach aber, dass es nun mal mehrere Definitionen von Gruppenselektion gibt: die alte mechanistische, und die neue Kontoführungs-Definition. Denn Wilsons Gruppenselektion ist nichts weiter als ein Fitness-Modell mit Berücksichtigung von Gruppen. So gesehen impliziere ich bewusst dass Gruppenselektion auch eine Form der Kontoführung ist. Ich denke dadurch verwirrt auch Wilson letztendlich, da er unbedingt die Verbindung zu Wynne-Edwards herstellen möchte. Ich meine aber es sind zwei völlig verschiedene Herangehensweisen.

    Mit Oft ist nicht mal Verwandtenselektion nötig um gesteigerte Fitness in einem Fall zu finden meine ich lediglich das Gleiche wie Nowak et al. – die direkte Fitness erklärt Sozialverhalten in vielen Fällen alleine, ohne das inklusive Fitness oder Gruppenselektion beschwört werden müssen.

    All diese Modelle sind ja eigentlich am Stärksten wenn sie nicht die evolutionäre Entwicklung erklären wollen, sondern darstellen, warum Allele in einer Population erhalten wurden. Leider werden diese Modelle dann, so wie Hamilton’s Regel, zu oft für die Erklärung eines Mechanismus missbraucht.

    Du hast aber Recht, ich habe absichtlich Verwandtenselektion und inklusive Fitness gleichgesetzt. Ich hatte die Sorge damit nur noch mehr zu verwirren, und ich tue mich selber schwer, die beiden inhaltlich zu trennen. Gibt es eine Diskussion über Verwandtenselektion, ohne auch inklusive Fitness ins Gespräch zu bringen?

  4. #4 Ulrich Berger
    September 17, 2010

    @ Nils:

    Gruppenselektion als Form der Fitness-Buchhaltung (Kontoführung), das halte ich nicht für sinnvoll. Was ist, wenn es gar keine Gruppen gibt?

    Ich finde die Unterscheidung von Nowak et al am sinnvollsten:

    1) “Inklusive Fitness” (IF) und “Direkte Fitness” (DF) sind zwei verschiedene Formen der Buchhaltung. Die Biologen sagen, IF sei die “natürliche” Form, weil Individuen so handeln, als ob sie ihre IF maximieren. Nowak sagt, DF sei aber die “bessere” Form, weil sie immer funktioniert, ohne dass man wie bei IF einschränkende Annahmen treffen muss.

    2) “Verwandtenselektion”, “Direkte Reziprozität”, “Indirekte Reziprozität”, “Gruppenselektion”, “green beard” etc. sind alles evolutionäre Mechanismen, die dazu führen können, dass Kooperation oder Altruismus sich durchsetzen. Verwandtenselektion im engeren Sinn (“relatedness by recent common ancestor”) nimmt eine Sonderstellung ein, weil sie die meisten realen Kooperations-Phänomene gut erklärt. Verwandtenselektion ist außerdem ein Mechanismus, bei dem IF wunderbar einfach funktioniert und sehr anschaulich ist. Man sollte die beiden aber deshalb nicht gleichsetzen.

    3) Verwandtenselektion im WEITEREN Sinn umfasst alle Mechanismen, bei denen der “Grad der Verwandtschaft” R nicht mehr nur echte Verwandtschaft im Sinne gemeinsamer Abstammung meint, sondern einfach eine Korrelation zwischen dem Auftreten eines Gens bei einem Individuum und bei seinen Interaktionspartnern. (Manchmal auch assortativity genannt.) Aber dann wird m.E. trivialerweise ALLES zu “Verwandtenselektion”: Nehmen wir z.B. wie üblich ein Gefangenendilemma, dann ist völlig klar, dass das Kooperationsgen C nur dann überleben kann, wenn die C-Träger aufgrund irgendeines Mechanismus öfter mit anderen C-Trägern interagieren, als die D-Träger das tun – also wenn es in der Menge aller Interaktionen eine positive C-C-Korrelation gibt. Und zwar muss der Korrelationskoeffizient R größer sein als das cost-benefit-Verhältnis, womit man rein formal Hamilton’s rule hat. Wenn man diese Korrelation jetzt “Verwandtschaft” nennt und den Korrelationskoeffizienten R den “Grad der Verwandtschaft”, dann wird JEDER evolutionäre Mechanismus automatisch zur “Verwandtenselektion”. Das ist dann aber für mich ein inhaltsleerer Begriff. Deshalb finde ich, man sollte nur von Verwandtschaft sprechen, wenn man auch Verwandtschaft im engeren Sinne meint.

  5. #5 Nils
    September 17, 2010

    @Ulrich:
    Ich stimme dir da voll und ganz zu. Du hast die unterschiedlichen Definitionen sehr schön dargestellt. Das Durcheinanderwerfen von inklusiver Fitness und Verwandtenselektion macht die ganze Situation eher komplizierter als einfacher. Du scheinst die Begriffe auch besser zu trennen, weil das zum mathematischen Modellieren notwendig ist. Strenggenommen ist Verwandtenselektion also keine Kontoführung, daher auch nicht Gruppenselektion – mit Verwandtenselektion lässt sich jedoch (dank inklusiver Fitness) das Konto rekonstruieren.

    Du hast auch Recht, dass ich zur semantischen Konfusion weiter beitrage – deshalb setze ich jetzt noch einen drauf, indem ich die Jingle Fallacy des Begriffes Verwandtenselektion noch etwas ausführe:

    Was ich meine ist dass Gruppenselektion wie Verwandtenselektion Modelle sind, die erklären sollen wie eine Verteilung von Allelen in Populationen zu Stande kommen. Im Gegensatz zu dir sehe ich daher Verwandtenselektion tatsächlich im weiteren (genetischen) Sinne – aber als Modell, nicht als Mechanismus: Individuen, die ein bestimmtes Allel teilen, werden dadurch zu “kins”. Das ist ein weiter Schritt von dem ursprünglichen Gedanken der Verwandtenselektion, aber nur so funktioniert sie meiner Meinung nach als erfolgreiches Modell. (Und in genau dieser Hinsicht funktioniert Gruppenselektion eben nicht.) Ich kann dein Problem mit dieser Ausdehnung des Begriffs verstehen, denke aber nicht dass er dadurch inhaltsleer ist, sondern vielmehr, dass er gerade so zu einem mächtigen Modell wird. Du hast Recht, wäre Verwandtenselektion (im weiteren Sinne) ein Mechanismus, dann wäre ALLES Verwandtenselektion; als Modell ist es aber nur eine Methode um nachzuhalten, warum ein Allel in einer Population Bestand hat.

    Vielleicht kann jemand anderes die Rolle von Kin Selection in der Ökologie & Evolutionsbiologie besser beschreiben. Hier ist ein interessanter Kommentar auf myrmecos.net zum Paper von Nowak et al., in dem Alex auch diese Missverständnisse bezüglich Kin Selection diskutiert …

  6. #6 Sam
    September 19, 2010

    Könnte mir bitte jemand ein Artenbeispiel nennen bei dem diese Fragestellung überhaupt aufaucht? Bei Ameisenstaaten stellt sich die Frage nach der Gruppenselektion doch erst gar nicht: Bei Phylogenetisch ursprüngliche Arten sind oft viele Individuen fortpflanzungsfähig, was oft in tödlichen Kämpfen eskaliert.
    Wenn sich die Reproduktionsfähigkeit auf die Königin reduziert, handelt es sich bei dem gesamten Staat mehr oder weniger um eine genetische Einheit. Also Arbeiterinnen/Kämpferinnen pflanzen sich zwar nicht selbst fort, jedoch lassen sie ihr Leben für den Fortbestand des Staates und seine Gene. Wohlgemerkt handelt es sich dabei um das selbe Genom, welches die Arbeiterin zu diesem Verhalten treiben, nur sind die phäenotypischen Ausprägnungen anders. Also warum sollte Altruismus nicht stabil sein und muss mit Gruppenselektion erklärt werden? Oder was übersehe ich ?

  7. #7 Nils
    September 19, 2010

    @Sam:
    Je nachdem wen du fragst, spielt das bei vielen Arten eine Rolle. Das Konzept der Gruppenselektion ist ganz zentral in E.O. Wilson & Bert Hölldoblers “Superorganismus”-Hypothese. Es ist recht kontrovers, sehr interessant und es gibt Studien, die die Gruppe als evolutionäre Einheit zeigen. Damit würden Bienen, Ameisen und andere soziale Insekten ganz stark davon betroffen sein. Wie gesagt, ich weiß noch nicht genau wohin Gruppenselektion führt und was ich davon halte. Bisher hat es nicht viel Produktives zu Tage geführt, und ich bezweifele in wie weit Adaptionen sich auf die Gruppe auswirken können. Aber Selektionsdruck wirkt ganz sicher auch auf Eigenschaften der Gruppe …

    Nebenbei gesagt, meist ist nicht nur die Königin reproduktionsfähig. Bienenarbeiterinnen können Nachkommen produzieren aber tuen es nicht. In manch stachellosen Bienen hingegen produzieren gerade diese die neuen Drohnen.

  8. #8 Sam
    September 20, 2010

    Danke, besonders für die Links 🙂

  9. #9 Wb
    September 21, 2010

    @Nils Cordes
    Gruppenselektion funktioniert jedenfalls recht schön in der Menschheitsgeschichte. Dass mit den Mitteln der Statistik der dbzgl. Nachweis schwieriger ist als der Nachweis individueller Selektion, liegt in der der Natur der Sache, nämlich der Gruppe, die schwierig zu packen ist. Dass die Gruppenselektion, wie Sie Wilson zitieren, mit statistischen Modellen (bisher) unvereinbar ist, überrascht aber doch sehr.

    Durchaus denkbar, dass man die Genetik hier (bei den Gruppen) nicht so einfach festmachen kann, oder?
    Weils komplexer ist? Weil man -salopp formuliert- hier mit ein paar Allelen nicht auskommt?

    MFG
    Wb

  10. #10 Anne
    Mai 19, 2012

    Mich stört u.A. Dawkins Argument der religiösen Selbstmordattentäter als Beweis gegen Gruppenselektion (beschrieben in `Gotteswahn´).

    Vor der Erfindung von Sprengstoffen waren Selbstmordattentäter ihrer eigengen Gruppe wenig nütze – es wird sie kaum gegeben haben.

    Kämpfe unter konkurrierenden Gruppen (siehe z.B. nordamerikanische Indianer) wurden nicht bis zum letzten Mann, überwiegend verm. nicht einmal mit dem Ziel zu töten ausgefochten.
    Es waren seinerzeit wohl eher Prügeleien, wie heute unter Fußballfans. Es wird Tote, vor allem aber Verletzte gegeben haben.

    Da konnte, wer mutig drauf los stürmte, sich der Anerkennung seiner Genossen und vor allem auch weiblicherseits sicher sein. Für die Vermehrung eines solchen, für Religion und deren Motivierung, empfänglichen Mannes war sicher in den überwiegenden Fällen gesorgt.

    Abgesehen von religiösen Gründen, kann auch das einfache Teilen und gegenseitige Helfen eine Gruppenselektion bewirken.

    Z.B.: Jeder Bauer hat mal Pech: der Hof brennt ab, die Ernte verhagelt, das Vieh stirbt etc.
    Bauern, die sich in solchen Situationen helfen, überleben ohne oder mit wenigen Verlusten, Bauern, die den jeweils anderen verhungern lassen, können sich selbst zwar für den Moment besser vermehren, sterben aber willkürlich bei einer sie selbst betreffenden Not.

    Die sich helfenden Bauern sind obendrein eine gefestigte Gruppe, die, wenn es drum geht, der egoistischen Bauerntruppe Land abzujagen, erfolgreicher sein werden, einfach weil sie zusammenarbeiten und weil sie das Land problemslos einem nach dem anderen abjagen können – solange die anderen sich nicht zusammenschließen.

    Dawkins Argument, Religion sei evolutionär nur ein unerwünschter Nebeneffekt scheint mir ebenso willkürlich.
    Religion (im weitetesten Sinne) hat schließlich viele Facetten: Zusammenhalt und Organisation größerer Gruppen, Festigung von Führungsansprüchen, Trost bei emotionalen Problemen (z.B. Kindstot, etwas womit Eltern vor 10.000 Jahren sicher auch nicht so locker fertig wurden), medizinische Wirkung per Placebo und für die Neugierigen die Erklärung unverständlicher Phänomene.

    Obendrein konnten per Religion Überlebenstips ebenso wie Gemeinschaftsregeln ev. erfolgreicher an nachfolgende Genrationen weitergegeben werden.
    Die Geburtsstunde des schulischen Unterrichts dürfte im religiösen Umfeld liegen.
    Und Religion bot eine Möglichkeit, in Situationen, in denen Mensch eigentlich nur abwarten konnte (auf Regen, Nilüberschwemmung, Ankunft der Büffel etc.) aktiv etwas dafür zu tun. Regentänze bringen keinen Regen, aber sie beruhigen, lenken ab.

    Wer Kinder hat weiß, dass beim überlangen Ausbleiben eines Kindes das “einfach nur Warten” das Schlimmste ist. Man will entsetzlich gerne etwas tun.
    So muss es Menschen, die verzweifelt auf Regen warten, auch gehen. Ein Regentanz beruhigt zumindest die Nerven, stärkt ev. die Geméinschaft und beugt u.U. Agressionen untereinander vor.
    Und wer weiß, wieviele Erfindungen auf die Vorbereitungen und Ausführungen von Regentänzen und anderen Ritualen zurückgehen?
    Mit Rumsitzen und Warten erfindet man jedenfalls nichts.

    Ich schließe mich dem vorhergehenden Kommentar an, dass die fehlende Übereinstimmung mit statistischen Modellen höchstwahrscheinlich am Mangel aller einfließenden Faktoren in den Modellen liegt. Das ist schließlich ein weites Feld.

    Religionen, so sehr man sie verabscheut, müssen schon einen eigenen evolutionären Sinn haben. Anders lassen sich schon die Erfolge einzelner Religionen nicht wirklich erklären. Dass es inzwischen eine Verselbständigung der Religionssysteme gibt, ist eine andere Sache.
    Heute könnte man ev. auch den Glauben an die Allmacht der Medizin als Religion bezeichnen, dieser Bereich ist den klassischen Religionen zumindest abhanden gekommen.

    Noch zu Dawkins `Gotteswahn´: sehr viel Geschwafel, erinnert mich an Fernsehprediger. Seine Website wirkt auf mich eh so.

    Die Aussagen in seinem 500-Seitenbuch hätten ohne Wiederholungen und überflüssige Beispiele / Zitate auf 100 Seiten bequem Platz gehabt. Seine Widergabe der Meinungen anderer Evolutionsforscher ist viel zu dürftig.

    Und er lässt sich von Religionsbeführwortern zu sehr in die Beweispflicht nehmen, während er selbige gleichzeitig ablehnt und die Grenzen benennt. Es ist unsinnig, einerseits zu sagen: die Wissenschaft kann unmöglich alles erklären, zumindest noch nicht, ergo ist eine Wissenslücke kein Gottesbeweis und andererseits ständig Darwins Theorie als Wissenschaftsbeweis gegen Religion zu nutzen. Das wirkt sehr verzettelt.

    Gruß, Anne