Prof. Olaf Bininda-Emonds von der Universität Oldenburg veranschaulichte vor ein paar Wochen diese Problematik in einem wunderbaren Vortrag über den Stammbaum der Säugetiere. Man könnte meinen, dass Robben und Landraubtiere deutlich voneinander verschieden sind. Die einen haben Flossen und leben im Meer, die anderen leben auf dem Land und haben Füße mit deutlich voneinander getrennten Zehen. In welche Kategorie würde man dann also den Schwarzbären stecken? Selbstverständlich in die der Landräuber. Tatsächlich ist der aber viel stärker verwand mit den Robben als mit Wölfen und Hunden. Trotzdem zählte man lange die Bären zu den Fissipedia, den Landraubtieren, und auch heute noch werden bei Forschungen eher Wölfe und Bären in eine Gruppe gesteckt als Wölfe und Walrosse.
Übrigens ist der nächste Verwandte des Elefanten auch kein Landsäugetier, sondern die Seekuh. Wenn es darum geht, Erklärungen für das Verhalten oder auch den Körperbau von Tierarten zu finden, dann darf man sich die Tierart nicht ohne Rücksicht darauf, wo das Tier evolutionsbiologisch herkommt, anschauen. Das wäre so als ob Sherlock Holmes sich entscheidet, die Fußspuren am Tatort zu ignorieren, nur weil sie nicht von der Leiche stammen.
Ein Supertree der Carnivora, mit dem Wolf (Canis lupus, oben), dem Schwarzbären (Ursus americanus, Mitte) und dem Walross (Odobenus rosmarus, unten), gekennzeichnet mit grünen Pfeilen. Nach Olaf Bininda-Emonds et al. 2007. (Zum Vergrößern auf das Bild klicken.)
Nichts macht Sinn in der Medizin …
Aber zurück zu Herrn Dobzhansky: Wenn Evolution als Verbindung von Molekularbiologie und organismischer Biologie funktioniert, warum soll sie also nicht auch die anderen Disziplinen vereinen?
Der französische Mediziner und Molekularbiologe Bernard Swynghedauw argumentierte für die Relevanz von Evolution bei der Behandlung von Krankheiten. Zum Beispiel kann man komplizierte Krankheiten wie Diabetes erst verstehen wenn man sie “im Lichte der Evolution” untersucht. Erik Corona, ein Student an der Stanford University School of Medicine, veröffentlichte im August eine Studie im Journal PLoS One, die zeigte, wie verschiedene Krankheiten miteinander im Zusammenhang stehen können. Es ist bekannt, dass eine Beziehung zwischen einer relativ großen Anzahl von Genen und Typ-1 Diabetes besteht. 80 verschiedene Mutationen auf diesen Genen (die allseits bekannten und beliebten SNPs mal wieder) haben laut Corona im Laufe der Evolution des Menschen an Häufigkeit in unserem Genom zugenommen. Überraschenderweise hat der Großteil von ihnen (58 der 80 SNPs) aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir an Diabetes erkranken, erhöht. Wie kann Selektion auf etwas für uns so offensichtlich Nachteiliges wirken? Wenngleich wir die Antwort noch nicht kennen, ist es naheliegend zu vermuten, dass die entsprechenden Gene gleichzeitig auch einen positiven Einfluss auf andere Merkmale haben, oder zumindest Gene in unmittelbarer Nähe der SNPs unsere Erwachsenwerden- und Fortpflanzungschancen steigern. Corona entdeckte zum Beispiel, dass ein Gen, welches die Diabetes-Gefahr erhöht, vor einer ganz speziellen viralen Infektion schützt. Ähnlich gibt es Gene die uns vor Tuberkulose bewahren, aber uns anfälliger für Rheumatoide Arthritis machen.
Die Zusammenhänge können wir allein durch molekularbiologische Studien erkennen, aber erst im Lichte der Evolution werden ihre Bedeutungen klar. Man kann zwar fragen: Müssen wir die evolutionsbiologische Bedeutung denn wirklich kennen, um etwas behandeln zu können? Vielleicht nicht, aber dann können wir nicht behaupten, wir würden die Krankheit verstehen.
In der Biologie gibt es die Unterscheidung von proximaten und ultimaten Ursachen. Ganz einfach kann man die beiden an Hand der mit ihnen verbundenen Fragestellung unterscheiden: wie bzw. warum? Wie die schwarzen Streifen eines Zebras zu Stande kommen ist die proximate Frage. (Pigment produzierende Melanozyten wandern bei der Entwicklung des jungen Zebras im rechten Winkel zur Wirbelsäule hinab und ordnen sich in Streifen an.) Aber erst wenn man untersucht, warum es die Streifen hat (Schutz vor Parasiten und Raubtieren, Gruppenspezifische Unterscheidung und Temperaturregulierung spielen anscheinend alle eine Rolle), machen die Streifen auch tatsächlich “Sinn”.
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