Nehmen wir mal ein Video aus den Simpsons. Nach ca. 54 Sekunden in dieser kleinen Animation passiert etwas ganz Unglaubliches:
Abgesehen davon, dass dieses Video die Prozesse der Evolution verständlicherweise stark vereinfacht, so tut als würden Individuen evolvieren können, und (wie so viele Illustrationen) den Eindruck vermittelt, dass alles Leben in eine bestimmte Richtung evolviert, sollte einen doch bei dieser 54. Sekunde der Schlag treffen: Der Bartender, von dem ich gerade den Namen vergessen habe (ich glaube ich habe bisher erst sechs Folgen von den Simpsons gesehen), evolviert … zurück!
Ja, sagen wir jetzt, das ist ja nur ein tiefsinniger Witz in einer sozialkritischen Zeichentrickserie. Doch der gleiche Witz findet sich auch in hochangesehen Journalen wie … Nature, Science, PNAS, TREE. Da zieren spannende Bilder die Titelseiten und man liest:
Ups and downs of evolution: Insects that lost their wings — but flew again (NATURE 2003)
Evolution and devolution: reversing opinion on Dollo’s law (TREE 2004)
Und ganz aktuell findet man im Journal Evolution:
Re-evolution of lost mandibular teeth in frogs after more than 200 million years, and re-evaluating Dollo’s Law (Evolution 65: 1283-1296)
Da tauchen Begriffe auf, die seit einiger Zeit in Mode sind: Devolution, Re-Evolution, das Dollo’sche Gesetz. Zugegeben, Dollos Gesetz ist alles andere als modern. Louis Dollo war ein belgischer Paläontologe, der ein paar Jahre vor Darwins “On the Origin of Species” zur Welt kam. Er formulierte ein Gesetz, nach dem ein Organismus unmöglich den Zustand wieder erlangen kann, welchen einer seiner Vorfahren einmal besessen hat – auch nicht wenn man ihn den exakt gleichen Umweltbedingungen aussetzen würde. Dieses Gesetz hatte lange Bestand. Oder – hat es das nicht noch immer? In den letzten Jahren häufen sich Publikationen, die behaupten das Gesetz zu widerlegen. Dabei handelt es sich um sekundär asexuelle Organismen, die wieder sexuell werden; um Frösche, die wieder Zähne im Unterkiefer entwickeln; um lebendgebärende Schlangen, die wieder anfangen, Eier zu legen; und um flügellose Insekten die wieder Flügel entwickeln. Ich schreibe jedes Mal “wieder”, weil von unserem momentanen Wissensstand ausgehend all diese Gruppen im Laufe der Evolution diese Merkmale verloren hatten. Es gibt keine Frösche mit Zähnen im Unterkiefer seit sich die Anura (die Frösche) von den anderen Amphibien abgespalten haben. Wir nehmen aber an, dass der gemeinsame Vorfahre dort Zähne besaß. Bei Gespenstschrecken haben sich die Flügel irgendwann komplett reduziert und all die Nachfahren besaßen folglich nur Flügelstummel, bis Flügel wieder in Mode kamen und eine Gruppe die Flügel wieder entwickelte.
Findet man in einem Stammbaum also plötzlich wieder eine Eigenschaft, die in dieser Linie eigentlich seit vielen Millionen Jahren als ausgestorben galt, stellt sich die Frage, was genau da eigentlich passiert ist. Hat sich der Insekten-Flügel bei einer eigentlich flügellosen Gattung ganz neu entwickelt und ist nur zufällig so ähnlich geworden, wie der von anderen Tieren, die ihre Flügel nie aufgaben? Oder ist es tatsächlich der gleiche Flügel, der dem gleichen Bauplan folgte wie die der anderen? Ist das Letztere der Fall, dann sollten die Informationen für den Bau des Flügels aber über all die Zeit vorhanden geblieben sein.
Geht so etwas?
Organismen haben so etwas wie eine natürliche Mutationsrate. Das beinhaltet nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass bei der Kopie von DNA ein Fehler unterläuft; auch durch Umwelteinflüsse wie UV-Strahlung kann die DNA Schäden nehmen, die z.T. nur schlecht repariert werden. Solche Mutationen können natürlich schädlich, aber auch neutral sein. Für den Menschen zum Beispiel variiert diese neutrale Rate stark zwischen den durch gewöhnliche Zellteilung entstandenen Mutationen und denen in den Geschlechtszellen. Zuletzt wurde die neutrale Mutationsrate des Menschen auf 175 Mutationen pro Genom pro Generation geschätzt (Genetics 156: 297-304), aber tatsächlich ist dies ein wesentlich komplizierteres Thema, unter anderem deswegen, weil wir ja immer noch nicht ganz verstehen wie viel unseres Genoms denn eigentlich für uns eine richtige Rolle spielt.
Natürliche Selektion wirkt diesem natürlichen “Verfall” jedoch entgegen, indem sie gewisse Gene, die häufig und erfolgreich in einer Population vorhanden sind, allem Zufall zum Trotz stur in der Population behält. Ist es hilfreich für ein Insekt zu fliegen, dann werden die Gene, die den Flug ermöglichen (und dazu gehört neben dem Flügel der gesamte Flugapparat, inklusive der Muskulatur, den Sinneshaaren und Neuronen, die zur Orientierung beitragen etc.), überdurchschnittlich wahrscheinlich in der Population verweilen. Die Gene jedoch, auf die keine Selektion wirkt, fallen stärker unter die natürliche Mutationsrate.
Dann gibt es natürlich auch noch diese Gene, die unter gewissen Umweltbedingungen sogar schädlich für das Individuum sind. Ist durch einen Sturm vielleicht eine Insel fast vollständig entwaldet worden, hat der Wind einen viel größeren Einfluss auf die einzelnen dort lebenden Tiere. Es könnte demnach schädlich sein, wenn man dem Wind eine große Angriffsfläche bietet, weil man sonst statt in die Arme des Paarungspartners weit aufs Meer hinaus getragen wird. Gene, die Flügel begünstigen, würden auf diese Weise quasi schnell “wie der Wind” aus einer Population verschwinden.
Die Chance, dass ein Gen, welches nicht unter positivem Selektionsdruck liegt – die Anpassung an die aktuelle Umwelt also nicht unterstützt – viele Millionen Jahre in einer Population verweilt, ist entsprechend gering. Und doch tauchen Merkmale immer wieder auf, die eigentlich schon längst von uns Menschen als ausgestorben, oder verloren, gedacht waren.
Charles Darwin hatte dazu einen Kommentar in seinem “Abstrakt” von 1859:
Darwin sagt, es wäre wahrscheinlicher, dass ein Tier nicht plötzlich ein Merkmal seines Tausende oder Millionen Jahre toten Großvaters ausprägt, sondern das gleiche Merkmal erneut produziert. Sprechen wir dann von Re-Evolution? Ist an solch einem Prozess irgendetwas rückwärts Gerichtetes? Warum hat das Tier dieses Merkmal denn produziert? Es ist ziemlich sicher zu behaupten, dass eine Art, die ein Merkmal “neu entdeckt” hat, dies auf Grund der aktuellen Umweltbedingungen tut. Warum sollte sich ein Gen für Flügel in der Population durchsetzen, wenn der Wind die geflügelten Tiere immer noch von der Insel bläst? Und wenn ein Merkmal auf Grund von Selektionsdruck sich ausbreitet, dann ist das schlicht und einfach Evolution.
Re-Evolution ist meines Erachtens ein von uns geprägter Gedanke, bei dem wir so tun als ob der Flügel unseres seit Millionen Jahren toten Großvaters plötzlich wiederkehrte. Aber haben wir irgendeinen Grund, dies anzunehmen? Uns erscheint der Flügel vielleicht wie der von anderen verwandten Tieren. Vielleicht ist er auch bis ins Detail identisch mit den Flügeln, die bei verwandten Arten schon seit Millionen von Jahren existierten. Aber selbst dann ist es ein neu evolvierter Flügel.
Es sei denn …
Es sei denn, wir könnten nachweisen, dass die Gene, die für diesen Flügel verantwortlich sind, auch identisch sind mit denen der verwandten Arten. In diesem Fall wäre es wahrscheinlicher, dass ein Master-Gen nach all der Zeit wieder angeschaltet wurde. Ähnlich wie bei Drosophila Gene existieren, die – je nachdem wo im Körper sie exprimiert werden – entweder eine Antenne oder eine Bein produzieren, haben alle Organismen Gene, die nichts weiter tun als andere Gene ein- und auszuschalten. Wenn unsere Insekten ihre Flügel also verloren haben, benötigt es vielleicht nur dieses eine Gen, um die Flügel wieder zurück zu bringen. Vorausgesetzt, der Wald ist wieder gewachsen und schützt vor dem Wind, und vorausgesetzt, die Gene, die für Flügel notwendig sind, sind unterdessen nicht so verändert, dass sie keine Flügel mehr produzieren können.
Nach dem Prinzip der Parsimonie sollten wir erwarten, dass dies der wahrscheinlichere Weg sei. Die Alternative wäre, dass die Umweltbedingungen verursachen, dass ein komplett neuer Flügel entstanden ist, der nur zufällig dem uralten gleicht.
Heißt das aber, dass Herr Dollo Unrecht hatte, und es doch möglich ist, zu alten Zuständen “zurück” zu evolvieren? Ich denke nicht. Was Louis Dollo sagte ist, dass ein einmal eingeschlagener Weg im Laufe der Evolution nicht ein zweites Mal eingeschlagen werden kann und dabei genauso abläuft wie beim ersten Mal. Richard Dawkins hat das in seinem Buch “Der blinde Uhrmacher” so formuliert:
“Eine statistische Wahrscheinlichkeit, den exakt gleichen Weg zweimal zu gehen.” Dawkins reduziert das auf die Gene und sagt dann, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein Gen zweimal die exakt gleiche Basenzusammensetzung evolviert. Das muss natürlich nicht sein, da trotz Variation im Gen es immer noch für das gleiche Genprodukt verantwortlich sein kann. Doch im Kern ist es richtig, wie Herr Dollo ihm hundert Jahre zuvor zustimmte:
Ein Organismus ist nicht in der Lage, zu dem Ausgangszustand zurückzukehren, um den von Dawkins geforderten Weg erneut zu gehen. Zu vieles hat sich geändert. Zu viele Veränderungen verhindern, dass der Organismus sich genau gleich verändern kann. Evolution geht nicht rückwärts. Sie geht auch nicht wirklich vorwärts. Sie ist die Anpassung an das Jetzt und die Veränderung der jetzigen Zustände. Nur weil der jetzige Zustand einem gleicht, der einmal existiert hat, sollte das nicht als Rückwärtsbewegung verstanden werden. Es ist tatsächlich eine Art von Re-Evolution. Der Begriff ist dabei jedoch völlig überflüssig und wird wahrscheinlich in erster Linie für Marketingzwecke benutzt. Es ist Evolution, nicht mehr und nicht weniger.
Kommentare (17)