Ein “pet peeve” ist im englischen Sprachraum etwas, das für jemanden ein weit größeres Ärgernis darstellt als für andere, wobei es meistens kaum erwähnenswerte Kleinigkeiten sind. Zum Beispiel nerven mich Comics mit vierbeinigen Insekten und Kartenspiele, auf denen vierflüglige Mücken zu sehen sind. Und LOL-Cats, für die fehlt mir einfach die richtige Art von Humor. Das bringt mich zu Jerry Coyne. Aus irgendeinem Grund hat sich bei mir aber auch Jerry Coyne zu einer Art Pet peeve entwickelt. Während ich seine Arbeiten zu Drosophila, besonders die im “Insect Genomics”-Kurs erwähnten Sachen, ziemlich cool fand, stoße ich häufig auf seinem Blog auf Kommentare, die mich einfach nur nerven. Nicht ganz stark nerven, aber doch genug, damit ich mich hinsetze und ein paar Worte darüber verliere. Wie eben bei einem Pet peeve.
Das neue Jahr begann Mr. Coyne mit einem Artikel, den er für die Zeitung USA Today schrieb, und Artikel wie diese sind es, die mich ein ganz, ganz kleines Bisschen zusammen zucken lassen: Why you don’t really have free will
Als Evolutionsbiologe muss ich von vornherein zugeben, dass ich von der Debatte zum Freien Willen keine Ahnung habe. Warum auch? Das wenige Wissen, welches ich zu diesem höchst philosophischen Thema habe, kommt aus ein paar Texten im Internet, dem gelegentlichen Podcast und dem einen oder anderen Interview in mehr oder weniger anspruchsvollen Illustrierten. Warum äußert sich also Jerry Coyne zu Wort? Entweder weil er schlicht als Experte in einem Feld eine Meinung zu einem Thema aus einem anderen Feld abgeben möchte (sein gutes Recht, warum er aber dann in die USA Today kommt und nicht ich, verstehe ich dann nicht). Oder aber er meint, dass sein berufliches Wissen ihn speziell dafür qualifiziert, darüber zu reden.
Und genau so ist es. In dem Artikel diskutiert er “Freien Willen” aus evolutionsbiologischer Sicht. Meines Erachtens macht er dabei aber keine gute Figur. Es fängt mit dem Problem an: Was ist freier Wille? Im Gegensatz zu Brustwarzen, die in der Regel eine Funktion erfüllen, evolutionsbiologisch erklärbar sind, und bei denen jeder weiß was damit gemeint ist, kann man freien Willen nicht einfach definieren. Es ist ein schwammiges Konzept, welches meines Erachtens höchstens für Gedankenexperimente nützlich ist. Um in irgendeiner Weise biologisch zu argumentieren, muss man sich schon auf eines dieser Konzepte konzentrieren. Aber dann zu behaupten, dass natürliche Selektion die Illusion eines freien Willens geformt haben könnte, “vielleicht weil unsere Vorfahren in kleinen, harmonievollen Gruppen … nicht gedeihen konnten, wenn sie sich nicht für ihre Aktionen verantwortlich fühlten,” ist (freundlich gesagt) doch etwas weit hergeholt.
Soweit ich das verstehe, gibt es verschiedene Formen des Freien Willens. Da ist der Unterschied zwischen der Freiheit, etwas zu tun, und der, etwas tun zu wollen. Was hält mich davon ab, gerade jetzt ein Eis zu essen? ist etwas ganz anderes als Was verursacht, dass ich jetzt gerade ein Eis essen möchte? Während die zweite Frage sehr schwer zu beantworten ist, da Wünsche komplexe Ursachen haben und unsere Gene genau wie die Gesamtheit unserer Erfahrungen stark dazu beitragen was wir eigentlich “wollen,” scheint mir eine Antwort auf die erste umso leichter zu sein. Wir stehen andauernd vor Entscheidungen und in vielen Fällen ist die Chance, dass wir uns für den einen oder anderen Ausgang entscheiden, ähnlich wie bei einer Runde Kopf-oder-Zahl. Ich würde also ganz klar auf Frage 1 antworten: Natürlich kann ich frei entscheiden. Demnach kann er diese ja nicht meinen, oder? Doch:
Warum wählt er diese weniger komplizierte? Weil diese im Bereich der Wissenschaft liegt (na ja, so eben). Die andere, die aus evolutionsbiologischer Sicht gar nicht uninteressant wäre, ist aber viel zu komplex als dass man sie für USA Today diskutieren könnte.
Aber nun zum eigentlichen Standpunkt. Jerry Coynes Argumentation dreht sich dabei etwas im Kreis: Wir sind biologische Kreaturen, bestehend aus Molekülen, die den Gesetzen der Physik unterliegen. Die Moleküle bilden Neuronen, die wiederum Produkte von Genen und Umwelt sind. Erinnerungen und Gedanken sind strukturelle und chemische Veränderungen im Gehirn. Folglich ist eine Entscheidung, die wir treffen, abhängig von Genen, Umwelt und den molekularen Veränderungen, die in unserem Körper statt finden. “Wir” haben also keinen Einfluss darauf, was unser Körper tut.
Neurobiologen beschäftigen sich schon lange mit Motivation, Wünschen und Absichten, und mit den Prozessen, die dazu führen dass wir eine Entscheidung treffen. Wie fast jeder, der dieses durchgekaute Thema anspricht, benutzt auch Jerry Coyne die Libet-Experimente als Argument. Diese (sowie einige nachfolgende Experimente) zeigten, dass das Gehirn von Probanden deutlich früher (z.T. mehrere Sekunden) wusste, ob sie einen Knopf drücken würden, als die Probanden selbst. Die Entscheidung darüber, einen Knopf zu drücken, fiel also bevor es der Person bewusst war.
Der Fehler, den meiner Meinung nach Jerry Coyne und diejenigen machen, die aus den Libet-Experimenten irgendeine Form von Aussage zu freiem Willen ziehen, ist, dass sie uns von unserem Körper trennen. Gerade das finde ich bei dem Atheisten Jerry Coyne sehr überraschend. Es ist nicht möglich, unseren Geist oder unser “ich” über den Körper zu stellen. Er sagt dies sogar, aber anscheinend kommt er zu einem anderen Schluss als ich: “‘Wir’ sind einfache Konstrukte unserer Gehirne. Wir können dem Input in unser Gehirn keinen verworrenen ‘Willen’ aufzwingen.”
Ich würde behaupten, dass es schon deswegen nicht möglich ist, unserem Gehirn einen Willen aufzuzwingen, da wir unser Gehirn sind. Wir sind das Ergebnis von Genen (und dadurch von Tausenden von Jahren von Selektion) und von der Umwelt, in der wir aufwachsen und in der wir leben. Wenn irgendwer eine Entscheidung trifft, warum sollte das irgendjemand anderes sein als dieses Produkt, als dieses Gehirn, dieser Mensch?! Wen meint Jerry Coyne, wenn er sagt “wir” hätten keinen freien Willen?
Wer schon einmal Baseball gespielt hat, weiß, dass wir in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, ohne dass uns das bewusst ist. Es ist nicht möglich einen aus 18 Meter Entfernung geworfen Ball von etwa 90 Meilen/Stunde (ca. 40 Meter pro Sekunde) zu treffen, wenn unsere Arme warten würden, bis der Ball nahe genug ist, bevor wir unsere Entscheidung träfen. Der Entscheidungsprozess umfasst hier das Abschätzen der Flugbahn, die Bewegung der Arme und … der komplizierteste Teil … die aktuelle Spielsituation. Wenn all dies zusammen kommt, entscheidet ein Baseballspieler blitzschnell, ob und wohin und wie stark er den Ball schlagen möchte. Und diese Entscheidung machen wir, mache “ich,” denn ich bin nichts weiter als der schlaksige Typ auf dem Baseballfeld, das Bündel Neurone, Moleküle und Erfahrungen.
Der berühmte “Katzenfreund” Erwin Schrödinger sagte das ganz ähnlich:
— What is Life? (1944)
Am Ende versucht Jerry Coyne zu erklären, was es bedeuten würde, wenn wir keinen freien Willen hätten. Nicht viel, denn die Illusion eines freien Willens werden wir uns ja erhalten. Und was bedeutet es für Kriminalität, dass ohne freien Willen keiner mehr für seine Taten verantwortlich ist? Der einzige Grund, laut ihm, dann weiterhin Kriminelle zu bestrafen, ist dass diese Strafen den nicht-freien Willen anderer Menschen beeinflussen werden und diese dazu bringen, weniger Kriminell zu sein. Das widerspricht allerdings den Untersuchungen zum Thema Todesstrafe der letzten Jahrzehnte. Außerdem unterscheidet er zwischen guten und schlechten Taten, als ob sie in irgendeinem Buch nachzuschlagen wären und vergisst damit doch, dass die Welt, in der wir leben, wesentlich komplexer ist. Mir scheint es fast, als hätte er – um diesen Artikel schreiben zu können – den Werkzeugkoffer des Biologen komplett über Bord geworfen. Genau das ist es, was Jerry Coyne bei mir manchmal zum Pet peeve werden lässt.
Ich denke, es wird deutlich, dass dieses ganze philosophische Geplänkel nichts für einen Biologen ist. “Freier Wille” ist ein Konzept mit wenig praktischem Nutzen. Das hält den Neurobiologen Sam Harris nicht davon ab, demnächst ein ganzes Buch darüber zu veröffentlichen, aber es sollte einen Evolutionsbiologen eigentlich davon abhalten, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Und das ist ein Ratschlag mit praktischem Nutzen.
In einer Auseinandersetzung mit dem Artikel von Jerry Coyne, widmet sich dessen “Erzfeind,” Massimo Pigliucci, dem ganzen Thema aus philosophisch-logischer Sicht und gibt einen kurzen Überblick über die Probleme mit dem Konzept des Freien Willens in der Philosophie. Er argumentiert, dass Freier Wille weder bewiesen noch widerlegt werden kann (oder muss), und er beendet seinen Artikel dann mit ein paar Worten, die – ich finde – das Thema gut erst mal ad acta legen sollten, zumindest für uns Biologen:
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