So, das nächste Paper wurde soeben eingereicht, die neuen Versuche ausgearbeitet, es ist endlich etwas an der Zeit zu schauen, was außerhalb meines Labors so passiert ist. Wissenschaftler aus Cambridge und Toronto haben sich zum Beispiel mit einem Lebewesen beschäftigt, von dem es weltweit nur (noch?) 114 Exemplare gibt, einer Art Wurm, die dadurch berühmt ist, dass sie mit uns etwas ganz Wesentliches gemeinsam hat.
Aber bevor ich dazu komme, hier ein perfekt passender Auszug aus einem der besten Bücher, die ich bislang gelesen habe. Inherit the Wind ist ein Theaterstück von Jerome Lawrence und Robert Edwin Lee, welches den berühmten Gerichtsprozess um John Thomas Scopes (der Scopes “Monkey” Trial) nutzt, um eine fiktive, aber sehr real wirkende Geschichte zu erzählen. Zu Beginn des Buches unterhalten sich HOWARD und MELINDA über dicke, eklige Würmer, die über die feuchte Erde kriechen. Melinda ist eindeutig nicht besonders von ihnen angetan. Hier ist der darauf folgende Dialog:
MELINDA (Shivering) How can you touch ’em? It makes me all goose-bumpy!
(HOWARD dangles it in front of her face. She backs away, shuddering.)
HOWARD What’re yuh skeered of? You was a worm once.
MELINDA (Shocked) I wasn’t neither!
HOWARD You was so! When the whole world was covered with water, there was nuthin’ but worms and blogs of jelly. And you and your whole family was worms!
MELINDA We was not!
HOWARD Blobs of jelly, then.
Wir waren also alle mal Würmer. Unsere ganze Familie. Das stimmt wahrscheinlich, solange wir “Würmer” umgangssprachlich für “glitschige Kriechtiere” benutzen und nicht als tatsächliche Klassifizierung. Genauso waren wir alle auch mal “blobs of jelly” (uralter Wackelpudding). Aber welcher “Wurm” waren wir denn? Schaut man in die meisten Biologiebücher, taucht ein beliebter Kandidat auf: Pikaia.
Pikaia ist etwa so lang wie ein kleiner Finger und sieht aus wie ein Wurm, vielleicht ein bisschen wie ein Plattwurm, der sich wie ein Egel bewegt. Oder wenn man genauer hinschaut, wie ein Lanzettfischchen. Das sind schädellose Chordatiere, die heute noch in schlammigen Bereichen aller Küsten der Welt zu finden sind. Die Gruppe ist allerdings an die 500 Millionen Jahre alt. Genau wie Pikaia, welches aber nicht bis heute überlebt hat, und nur in Kanada existierte. Denn alles, was wir über Pikaia wissen führt zurück auf einen Fund vor 100 Jahren, in den Bergen von British Columbia.
Wie bei jeder guten Geschichte gibt es auch bei dieser einen Mythos, der sich gut am Lagerfeuer erzählen lässt. Im Jahr 1909 war der Paläontologe Charles Walcott als Sekretär des Smithsonian Institutes unterwegs in den kanadischen Rocky Mountains als sein Pferd plötzlich vor einem Felsen stehen blieb. Er nahm an, dass das Pferd sich nicht traute, den Weg über den Felsen fort zu setzen. Er brach den Stein auf, um das Hindernis zu entfernen und es so seinem Pferd leichter zu machen. Dabei stieß er auf eine Vielzahl an Fossilien. Es waren so viele Fossilien, dass er die nächsten 14 Jahre dorthin zurück kehren würde, alleine, mit Kollegen und mit Familie; und er würde über 65000 Funde mitbringen. Die Lagerstätte von Schwarzschiefersedimenten bekam den heute berühmten Namen “Burgess Shale.”
Doch Walcott war nicht bewusst, welch grandiosen Fund er dort in Händen hielt. Es waren unzählige Fossilien, doch ordnete er sie ausschließlich bekannten Arten zu. Einen kleinen Wurm, den er dort fand, steckte er in die Gruppe der Ringelwürmer (Anneliden), zu denen auch der klassische Regenwurm gehört. Das tat er, da der Körper genauso segmentiert zu sein schien, und er benannte die Kreatur nach dem nicht weit entfernten Mount Pika.
Es dauerte Jahrzehnte bevor die Klassifizierungen Walcotts ernsthaft in Frage gestellt wurden. Einer der Forscher, die später damit beauftragt wurden, sich die Burgess Shale-Würmer genauer anzusehen, war Simon Conway Morris (ja, der Conway Morris). Ich denke, er ahnte wenig davon, dass er den Rest seines Lebens damit verbringen würde, diesem kleinen Wurm seine gesamte Aufmerksamkeit zu widmen.
Pikaia gracilens
Dieser “Wurm” war alles andere als häufig unter den Fossilien des Burgess-Schiefers. Walcott fand insgesamt nur 16 Exemplare – das sind etwa 0.03%. Seitdem sind noch einige dazu gekommen, aber auch heut sind es gerade mal 114. 1979 publizierte Simon Conway Morris die Ergebnisse seiner Analysen: Pikaia ist kein Wurm, sondern ein Chordatier. Dazu gehören in erster Linie die Wirbeltiere. Das bedeutet zwar nicht, dass der Pikaia aus Kanada der Vorfahre aller Wirbeltiere war, aber zu der Zeit gab es nach unserem Wissen nichts Vergleichbares. Stephen Jay Gould erklärt dies sehr schön im Epilog seines Klassikers “Wonderful Life,” in dem er sich ausführlich mit den Fossilien des Burgess Shales auseinander setzte:
Ich behaupte natürlich nicht, dass Pikaia selbst der Vorfahre von Wirbeltieren war, noch wäre ich töricht genug zu sagen, dass jegliche Chance auf eine Zukunft für die Chordatiere bei Pikaia im mittleren Kambrium läge; andere Chordaten, bislang unentdeckt, haben sicher die kambrische See bevölkert. Aber ich vermute, durch die Seltenheit Pikaias im Burgess-Schiefer und das Fehlen jeglicher Chordatiere in anderen Lagerstätten des Altpaläozoikums, dass unser Stamm nicht zu den großen kambrischen Erfolgsgeschichten zählte, und dass Chordaten in dieser Zeit einer unsicheren Zukunft entgegen sahen.
Der Grund, warum Pikaia als eines der ersten Chordatiere eingestuft wurde, war der Fund einer Chorda dorsalis. Die ersten Untersuchungen zeigten, dass Pikaia das besaß, was für Chordatiere namensgebend war. Die Chorda dorsalis findet sich auch heute noch bei Lanzettfischchen, wo sie eine elastische Achse von vorne bis hinten bildet und als eine Art Achsenskelett fungiert. Auch wir haben noch eine. Im Embryo von Schwein, Huhn, Dackel und Mensch (und allen anderen Chordatieren natürlich auch) ist die Chorda dorsalis ein elastischer Stab, der den Rücken durchzieht, und später durch die Wirbelsäule ersetzt wird. Diese Vor-Wirbelsäule findet sich nicht in Würmern, aber in Pikaia.
Jetzt hat Simon Conway Morris zusammen mit seinem Kollegen Jean-Bernard Caron endlich Pikaia seine eigene Publikation gewidmet. Dafür haben die Beiden sämtliche 114 in Museen vorhandene Exemplare genauestens untersucht und festgestellt, dass … die Chorda dorsalis gar keine Chorda dorsalis ist. Was ursprünglich dafür gehalten wurde, war in Wirklichkeit ein Organ, dass zwar dem Körper etwas Kraft gegeben haben mag, aber nicht die Funktion der Chorda erfüllte. Doch bevor wir jetzt alle anfangen, unsere Ahnengallerie komplett umzudekorieren: Es gibt trotzdem eine Chorda dorsalis, zumindest in manchen Exemplaren. Sie ist weniger stark ausgeprägt und in den Fossilien nicht so deutlich zu erkennen wie das dorsale Organ.
Pikaia gracilens, fotografiert unter verschiedenen Bedingungen. In Abbildung A ist die Chorda dorsalis mit “No+Ne” markiert (für das englische Notochord), das dorsale Organ mit “DO” und die Myomere mit “M.” Der Kopf ist links. (Abbildung: Conway Morris & Caron 2012)
Was bedeutet das? Das dominante Merkmal Pikaias ist plötzlich größtenteils verloren? Die Autoren geben zu, dass die Identifikation der Chorda dorsalis recht kompliziert ist. Doch die Untersuchungen haben dafür andere Merkmale gefunden, die Pikaia dennoch zu den Chordatieren zählen lassen. Was Walcott einst für Körpersegmente gehaltene hat, ist in Wirklichkeit keine wie bei Würmern auftauchende Segmentierung. Bei Würmern entstehen die Segmente extern bei der Entwicklung, einer nach dem anderen, mit den ältesten Segmenten am Ende und den jungen Segmenten am Anfang der Wachstumszone. Bei Pikaia hingegen kommt der Schein einer Segmentierung durch Muskelgewebe. Dise Muskeln sind in einer Form angeordnet, wie sie in der Regel nur bei Chordaten auftaucht. Das charakteristische Zick-Zack-Muster taucht bei Myomeren auf, die man zum Beispiel besonders gut sehen kann, wenn man einen Fisch ausnimmt.
Ist Pikaia also ein Chordatier oder nicht? Die Autoren diskutieren diese Frage natürlich auch, aber mir scheint, die Sache ist nicht mehr so einfach zu klären. Das umfangreiche Detailwissen zur Morphologie Pikaias lässt es nicht mehr zu, ihn in eine einfache Kategorie zustecken. Wieso auch? Das über 500 Millionen Jahre alte Lebewesen lässt sich nicht einfach nach heutigen Maßstäben kategorisieren. Genau das hat auch Walcott versucht, als er seine Burgess-Fossilien ordnen wollte, was dazu geführt hat, dass die eigentlichen Entdeckungen Jahre später von Anderen gemacht wurden. Es läuft aber darauf hinaus, dass Pikaia eindeutige Merkmale eines Chordaten besitzt. Myomere und so etwas wie eine Chorda dorsalis traten zu dieser Zeit in keinem anderen Tier auf. Was sonst könnte Pikaia sein, wenn kein Chordat? Laut den Autoren würde jede andere Klassifikation Pikaia in ein “phylogenetisches Limbo” versetzen. Die Zuordnung Pikaias in die Chordatiere erscheint die einzig vernünftige Klassifizierung zu diesem Zeitpunkt.
Stephen Jay Gould hatte aber wohl Recht wenn er sagt, dass Pikaia selbst vermutlich nicht unser Vorfahre war. Doch der Vorfahre der Wirbeltiere hat damals existiert. Das ist 100%ig sicher.
Und wahrscheinlich war es irgendein “Wurm.”
Morris, S., & Caron, J. (2012). Pikaia gracilens Walcott, a stem-group chordate from the Middle Cambrian of British Columbia Biological Reviews DOI: 10.1111/j.1469-185X.2012.00220.x
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