Im Biologiestudium lernt man in der Regel an einem der drei, vier Tage, die in den meisten deutschen Universitäten für Evolutionslehre erübrigt werden, dass vier wesentliche Prozesse zur Evolution beitragen:

  • Selektion
  • Mutation
  • Migration
  • Genetische Drift

Drei davon finden sich in jeder wissenschaftlich interessierten Illustrierten sowie auf mittlerweile hunderten Blogs regelmäßig wieder. Aber einer davon ist so etwas wie ein schwarzes Schaf. Die genetische Drift wird selten erwähnt, so dass man als Student (oder muss ich von Studierenden reden?! Ich hoffe der generische Maskulin hier sei mir verziehen …) meinen könnte, sie spiele gar keine so große Rolle. Weit gefehlt, wie an unserer Uni die Studenten in den letzten Tagen wieder entdecken durften. In einem Modul des Bachelorstudienganges gibt es einen Praktikumstag, der komplett der Evolution gewidmet ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Tagen, an denen Tiere seziert, mikroskopiert und verhaltensbiologisch analysiert werden, wird hier gerechnet und logisch gedacht bis der Kopf raucht.

Wir haben seit Jahren drei Komponenten im Programm: Zum einen führen wir das klassische Beispiel natürlicher Selektion vor. Rote und gelbe Schmetterlinge sitzen auf einer rot-gelben Blumenwiese und die Studenten sollen durch Zählen die Raubtiere spielen, die – wer hätte das gedacht? – entweder die roten oder gelben Schmetterlinge stärker “fressen.” Hat der gelbe Schmetterling etwa einen Selektionsnachteil? Nach einer kurzen Einführung in die Theorie um das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht, dürfen die Studenten ins Eingemachte gehen und die Allelfrequenzen vor und nach dem Erscheinen des Räubers berechnen. Das Allel für den roten Phänotyp kommt wie erwartet in der nächsten Generation wesentlich häufiger vor. Die zweite Komponente ist eine Stammbaumrekonstruktion, in der die Studenten lernen, wie man die Verwandtschaft von Tierarten anhand von morphologischen und genetischen Merkmalen in den wahrscheinlichsten verwandtschaftlichen Zusammenhang stellt.

Das sind beides knifflige Aufgaben. Der dritte Teil des Praktikums ist meiner Meinung nach der einfachste, aber er führt einen wichtigen evolutionsbiologischen Prozess ein, der häufig vergessen wird.

Was ist genetische Drift?

In ihrer simpelsten Definition ist Evolution die Veränderung von Allelfrequenzen in einem Genpool über die Zeit. Das heißt, dass irgendetwas dafür sorgt, dass die Allele, die für ein bestimmtes Aussehen stehen, sich in ihrer Häufigkeit verändern. Selektion zum Beispiel wäre der Fall, in dem das Allel für gelbe Schmetterlinge häufiger wird, weil alle roten von gefräßigen Studenten aufgegessen werden. Im Fall der Migration wandern vielleicht die gelben Schmetterlinge ab. In beiden Fällen verändert sich die Zusammensetzung des Genpools.

Genetische Drift ist der Prozess, der ganz zufällig für solche Änderungen sorgt. Die Universität von California in Berkeley hat auf ihrer netten Webseite versucht, das Ganze mit einem Cartoon zu verdeutlichen:

beetles_mech3.gif

Der Fuß ist hier Symbol für den Zufall. Ohne Selektion auszuüben wird hier ein zufälliger Teil der Individuen aus der Population “entfernt.” Das Beispiel ist zwar nett, und solche zufälligen Ereignisse können selbstverständlich Allele aus einer Population entfernen, aber meiner Meinung nach trifft es den Prozess der genetischen Drift nicht so ganz. Denn zum Einen könnte der Schuh einen Selektionsdruck auf die weniger geschützten Tiere ausüben (Käfer mit robuster Flügeldecke macht so ein Tritt vielleicht gar nichts aus), zum anderen braucht man gar keine Auswirkung von außen, damit genetische Drift wirkt.

Eine Grundvokabel in der Biologie ist die der “Stichprobe.” Sobald man statistische Analysen seiner Versuche beginnt, stellt man fest, wie wichtig es ist, eine ausreichend große Stichprobe zu haben. Doch nicht nur die Größe spielt eine Rolle, sondern auch die Zusammensetzung. Wählt man zufällig robuste Käfer aus und trampelt auf ihnen herum, könnte man meinen, dass Käfer immun gegen festes Schuhwerk sind. Die Stichprobe sollte also, zumindest wenn man relativ allgemeingültige Aussagen machen möchte, auch vielfältig genug sein. Man braucht eine Zufallsstichprobe (“Random sampling”). Genau so etwas macht die genetische Drift. Unabhängig von Vulkanausbrüchen, Erdrutschen und anderen “zufälligen” Ereignissen sollte man annehmen, dass sich eine Population von Tieren trotzdem in ihrer Zusammensetzung verändert.

Ein Beispielplaettchen.png

Im Kurs haben wir kleine, quadratische Papierplättchen. Vier verschiedene Farben und jeweils zwei von einer, um eine Art Genpool zu simulieren. Damit genetische Drift gut gemessen werden kann, nehmen wir an, dass Selektion nicht stattfindet und dass die Plättchen keine Vorlieben bei der Verpaarung haben. Jedes kann sich mit jedem fortpflanzen. Alle acht Plättchen liegen dann in einem Plastikbecher, aus dem – zufällig – zwei gezogen werden, die sich verpaaren können. Die “Eltern” werden zurück in den Becher gelegt; der Nachkomme hat jetzt beide Farben, die der “Mutter” und des “Vaters.”

So entstehen neue Generationen mit einer anderen Verteilung der Farben. In einer winzigen Population wie der unseren (8 Tiere), sieht man relativ schnell eine Veränderung in der Zusammensetzung. Während am Anfang noch jeweils zwei gelbe, rote, blaue und grüne Individuen auftauchten, sind es bei Generation 4 vielleicht drei blaue und dafür nur noch ein rotes. Allein der Zufall in der Stichprobenwahl verursacht, dass eine Farbe häufiger gezogen wird als die anderen. Das kann soweit führen, dass nach ein paar Durchgängen eine Farbe komplett aus dem “Genpool” verschwunden ist.

Diese stochastischen Prozesse finden andauernd statt. Auch bei uns. Jedes Mal wenn ein neues Kind gezeugt wird, wird nur ein Teil der Allele der Eltern weiter gegeben. Die Stichprobe, also die Anzahl der Kindern, entscheidet, wie viele der Allele in die nächste Generation gelangen. Bei kleinen Familien, genauso wie bei kleinen Populationen, können so bestimmte Allele verloren gehen. Obwohl es schwierig ist, heute zurückblickend darüber zu urteilen, ob eine Allelfrequenz durch genetische Drift oder einen uns heute unbekannten Selektionsdruck zustande kam, gibt es die Möglichkeit, per Modellierung die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, dass genetische Drift eine Rolle gespielt hat. Zum Beispiel sind Unterschiede in Häufigkeiten von Blutgruppen zwischen Populationen leicht auf Drift zurückzuführen, genauso wie die unterschiedliche Verteilung von Rh-negativ in Europa.

Nicht zuletzt war es wahrscheinlich auch genetische Drift, die dabei mitgeholfen hat, dass unsere gesamte heutige mitochondriale DNA auf eine Frau zurückzuführen ist, die sogenannte mitochondriale Eva. Das bedeutet, dass aus vielleicht ein paar Tausend Individuen nur die mitochondriale DNA einer einzigen Frau bis heute übrig geblieben ist:

MtDNA Generations.png

Der Rest (die blauen, türkisen, roten und rosa “Plättchen”) ist durch einfache Stochastik unterwegs auf der Strecke geblieben.

Kommentare (8)

  1. #1 Dr. Webbaer
    Mai 5, 2012

    Überlegungen aus dem Bereich der Statistik, sowohl die im Artikel erfolgten als auch weitergehende, legen nahe, dass der Drift das Maß der Unsicherheit ist und die Konzepte der Selektion, Mutation und Migration, die in der Natur gut, aber nicht immer zweifelsfrei, nachgewiesen werden, ergänzt, unter anderem auch, weil ansonsten womöglich ein unerklärter Bereich entstünde.

    Diese Sicht wäre falsch?

    BTW, haben Sie gerade zufällig einen Verweis auf eine Definition der biologischen Evolution zur Hand, einen, mit dessen Verweisziel Sie am meisten übereinstimmen?

    MFG
    Dr. Webbaer

  2. #2 Gerda
    Mai 6, 2012

    Cooles Experiment! Das kann man ja nicht nur mit Studenten, sondern auch mit Schülern machen. Und dann werden wir die genetische Drift während ein paar Unterrichtsstunden bearbeiten und nicht nur 2 Tage im Semester 😉
    Vielen Dank für die Idee, die werde ich bestimmt in meiner nächsten Unterrichtsreihe zum Thema Evolution mit einbauen!

  3. #3 Dr. Webbaer
    Mai 6, 2012

    Nur eine Kleinigkeit hierzu:

    Diese stochastischen Prozesse finden andauernd statt. Auch bei uns. Jedes Mal wenn ein neues Kind gezeugt wird, wird nur ein Teil der Allele der Eltern weiter gegeben.

    Stochastische Prozesse sind Modellierungen aus dem Lager der Wahrscheinlichkeitstheorie und sie wurden entwickelt um Eigenschaften von sich zufällig [1] entwickelnden Prozessen zu verstehen, in der Welt “da draußen” finden Prozesse statt, die mit der o.g. Modellierung der Stochastik verglichen werden. Theoretisierung und Welt sind bestmöglich zu trennen.

    MFG
    Dr. Webbaer

    [1] auf eine bestimmte Art aus als zufällig definierten Einzelschritten bestehenden Prozessen

  4. #4 WeiterGen
    Mai 7, 2012

    Hier der erste einer Serie von zwei Artikeln zur genetsichen Drift bei den Scilogs. Mit aufschlussreichen Kommentaren.
    https://www.scilogs.de/wblogs/blog/bierologie/biologie/2012-04-29/die-gesetze-der-evolution-und-die-religion

  5. #5 neulich
    Mai 11, 2012

    ” Das bedeutet, dass aus vielleicht ein paar Tausend Individuen nur die mitochondriale DNA einer einzigen Frau bis heute übrig geblieben ist:”

    Das geht eben nicht. Das funktioniert nur dann, wenn es anfangs eben nicht eine einzige Frau von ein paar Tausend waren sondern nur eine einzige Frau von sehr wenigen. Ansonsten stirbt das Merkmal recht rasch aus. Es gewinnt statistisch immer nur die Mehrheit und daher muß dieses Merkmal anfangs bereits “mehrheitlich” vorhanden gewesen sein. Zumindest schon so stark, daß es dann zufällig auch dominant werden konnte und eben nicht ausstarb. Also vielleicht eine von 0-5 anderen Frauen. Aber nicht eine von 1000 anderen.

  6. #6 Nils
    Mai 11, 2012

    @neulich:
    Du vergisst dabei aber, dass eine Population von 1000 Individuen sicher nicht die effektive Größe der Gruppe darstellt. Und die ist es ja, auf die Drift wirkt. Geschlechterverteilung zum Beispiel kann die tatsächlich reproduzierende Gruppe verkleinern. Ich halte 1000 (als tatsächliche Populationsgröße) nicht für eine große Gruppe, wenn man das berücksichtigt.
    Eine ziemlich gute (wenn auch Mathematiklastige) Erklärung des Verhältnisses von effektiver vs. tatsächlicher Gruppengröße gibt es übrigens hier: Genetic Drift and Effective Population Size

  7. #7 Biolernender
    Februar 3, 2013

    Hey danke für die einfache Erklärung. Endlich mal schön bildlich erklärt, besonders durch das Experiment. 1000x besser als in Biobüchern die ich hab, sollten die sich mal abschauen 😉

  8. #8 Ebenfalls Biolernender
    September 18, 2013

    Danke für diesen Artikel. Ich musste ebenfalls mit Schrecken feststellen, dass ich vom Begriff Gendrift vor der Uni nie etwas gehört habe.