Dr. Inken Lind hat sich intensiv mit der Lebensplanung und Biographieverläufen von Wissenschaftlern auseinandergesetzt. Im ersten Teil ihres Gastbeitrags hat sie einige Aspekte des Vereinbarkeitsdiskurses skizziert. Heute analysiert sie die Situation in international vergleichender Perspektive und illustriert, wie viel Nachholbedarf gerade in Deutschland in dieser Frage besteht.
Bislang können Aussagen über die Kinderzahl von Professorinnen und Professoren in Deutschland lediglich aufgrund von Umfrageergebnissen gemacht werden, statistisches Datenmaterial liegt nicht vor. Zimmer et al. (2007) fanden in ihrer Studie einen Anteil von kinderlosen Professorinnen von 51% und von kinderlosen Professoren von 19%. (1)
Die Anteile kinderloser Professorinnen in dieser Erhebung variieren jedoch mit betrachteter Kohorte: Daten zum Anteil der Mütter unter Professorinnen verschiedener Geburtskohorten zeigen mehr Kinder für die sich heute im mittleren Erwachsenenalter befindlichen Professorinnen verglichen mit der ersten Generation von Professorinnen (Zimmer et al., 2007).
Aktuelles Datenmaterial zur Kinderzahl des akademischen Mittelbaus in Nordrhein-Westfalen hat das Team von Prof. Metz-Göckel und Dr. Auferkorte-Michaelis an der Universität Dortmund vorgelegt (Auftertkorte-Michaelis et al., 2006a; 2006b). In einer Totalerfassung des wissenschaftlichen Mittelbaus an Universitäten in Nordrhein Westfalen mittels statistischer Sekundäranalyse konnte ein Anteil kinderloser Nachwuchswissenschaftlerinnen von 78% und ein in den letzten 10 Jahren deutlich gestiegener Anteil kinderloser männlicher Nachwuchswissenschaftler von 71% nachgewiesen werden.
Nachwuchswissenschaftler werden seltener und immer später Eltern
Diese Werte verdeutlichen einen Querschnitt über alle Altersgruppen hinweg. Damit sind drei Viertel des Mittelbaus an den Universitäten von Nordrhein-Westfalen kinderlos bzw. noch kinderlos. Während der Anteil kinderloser Wissenschaftlerinnen in der letzten Dekade konstant hoch geblieben ist, lässt sich unter den männlichen Nachwuchswissenschaftlern ein deutlicher Zuwachs an Kinderlosigkeit verzeichnen. (2) Auch ein Altersvergleich zeigt, dass die Geburt eines ersten Kindes bei Wissenschaftlerinnen immer mehr auf die Lebensphase nach 35 Jahren hinausgeschoben wird (Auftertkorte-Michaelis et al., 2006b).
Damit ist der Anteil kinderloser Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Nordrhein-Westfalen deutlich höher als der Durchschnitt der Akademiker in der Gesamtbevölkerung. (3) Mit der geplanten Ausweitung der Studie auf weitere Bundesländer wird demnächst eine beachtliche Datenbasis bezüglich des wissenschaftlichen Personals an deutschen Universitäten zu dieser Fragestellung bereitstehen. (4)
Kinderwunsch
Kinderlosigkeit ist selten eine bewusste Entscheidung.
Die realisierten Kinderzahlen scheinen jedoch nicht den tatsächlichen Wünschen der Wissenschaftlerinnen zu entsprechen. In einer Umfrage an der Universität Mainz gab nur ein geringer Teil der kinderlosen Wissenschaftlerinnen an, eine bewusste Entscheidung zu Karrierebeginn gegen Kinder getroffen zu haben (Kemkes-Grottenthaler, 2003).
Eine Diskrepanz zwischen Kinderwunsch und Kinderzahl fand sich auch in einer Befragungen des CEWS an rund 700 Nachwuchswissenschaftlerinnen. Hierbei zeigte sich, dass vor allem berufliche Gründe für die Wissenschaftlerinnen der Realisierung eines vorhandenen Kinderwunsches entgegenstanden (Lind & Löther, 2006). Auch Wissenschaftlerinnen, die bereits eine Juniorprofessur oder eine C1-Stelle inne hatten, gaben an, dass vor allem berufliche Gründe gegen ein (weiteres) Kind sprechen (CEWS, Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung 2006).
Nach wie vor sind es in erster Linie die Wissenschaftlerinnen, die allein oder überwiegend allein für die Betreuung zuständig sind (Buchholz, 2004, Buchinger et al., 2004; CEWS, 2006; Krimmer & Zimmer, 2003; Lind & Löther, 2006; Strehmel, 1999). Insgesamt sind sowohl in der alltäglichen Arbeitsteilung als auch in den Rollenvorstellungen noch immer eine starke Tendenz zur traditionellen Aufgabenverteilung zu verzeichnen, die insbesondere bei männlichen westdeutschen Wissenschaftlern besonders ausgeprägt zu sein scheint (Hanson et al., 2004).
Europäische Perspektive
Für die Einordnung der deutschen Situation in den europäischen Kontext kann nur auf wenige Studien rekurriert werden. Eine Ausnahme bildet hier das bereits zitierte Projekt des ‚Research and Training Network’ (Zimmer et al., 2007). Im Rahmen dieses Netzwerkprojekts wurden Erhebungen in verschiedenen europäischen Ländern zu Karrierewegen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie soziodemographische Daten erhoben.
Dabei zeigte sich, dass im europäischen Vergleich Deutschland mit 51% den höchsten Anteil kinderloser Professorinnen aufweist (vgl. Abb.). Anders in Frankreich, wo sich kein signifikanter Geschlechtereffekt finden lässt und bereits eine Angleichung zwischen den Geschlechtern auf einem niedrigen Kinderlosigkeitsniveau stattgefunden hat.
Quelle: Research and Training Network „Women in European Universities”, Krimmer, Stallmann et al. (2004); Majcher (2007).
Österreich weist große Ähnlichkeiten mit Deutschland auf, nicht nur hinsichtlich einer hohen Kinderlosigkeit (48% der Professorinnen), sondern auch im Hinblick auf institutionelle Strukturen des Wissenschaftssystems und vorherrschender Geschlechterrollen. Was Schweden und Frankreich betrifft, so verwundern die niedrigeren Werte der Kinderlosigkeit kaum angesichts des gut ausgebauten Kinderbetreuungssystems und gesellschaftlich weitgehend akzeptierten nontraditionellen Rollenmodellen.
Eine eindeutige Ursachenzuschreibung ist jedoch schwierig, da gesellschaftliche Rahmenbedingungen und die Vorgaben für wissenschaftliche Karrieren interferieren und in beiden Bereichen in den einzelnen Ländern jeweils sehr unterschiedliche Bedingungen existieren.
Für den Fall Polens hat Majcher (2007) die Ursachen der Unterschiede zu Deutschland näher beleuchtet: Die Autorin weist darauf hin, dass 74% der Professorinnen und 91% der Professoren in Polen Kinder haben. Während also in Polen Kinderlosigkeit seltener ist, hat die Mehrheit der polnischen Wissenschaftlerinnen jedoch nur ein Kind. Im Gegensatz dazu haben Professorinnen in Deutschland – wenn sie Kinder haben – mehrheitlich mehr als ein Kind.
Qualifikationswege an deutschen Unis kennzeichnen sich durch enge Zeitfenster, große Planungsunsicherheit und eine “Alles oder Nichts”-Logik.
Als weitere Faktoren identifiziert Majcher (2007) eine kulturelle Feindseligkeit gegenüber arbeitenden Müttern in Deutschland sowie eine unzureichende Kinderbetreuungsinfrastruktur. Vor allem scheinen jedoch Unterschiede in den akademischen Qualifikationsverläufen ausschlaggebend zu sein:
Das polnische Wissenschaftssystem bietet eine relative Arbeitsplatzsicherheit und stellt geringere Mobilitätsanforderungen, wohingegen der Qualifikationsweg an deutschen Universitäten charakterisiert ist durch enge Zeitfenster, große Planungsunsicherheit und eher einer „Alles oder Nichts”- Logik zu folgen scheint. Eine Familiengründung ist vor diesem Hintergrund in Deutschland mit größeren Risiken für eine Hochschulkarriere verbunden als in Polen (Majcher, 2007).
Ergebnisse zur Vereinbarkeit von Wissenschaft und Elternschaft: (5)
Bereits seit längerer Zeit ist bekannt, dass Wissenschaftlerinnen mit Kindern vor allem mit organisatorischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die sich ungünstig auf ihre Präsenz im alltäglichen Wissenschaftsbetrieb auswirken und die Pflege von Netzwerken und informellen Kontakten ungünstig beeinflussen (Drews, Lydia 1996, Strehmel, Petra 1999). Vorteilhaft für die Wissenschaftlerinnen mit Kindern sind vor allem flexible Arbeitszeiten, weniger stark wirkt sich die Anzahl der Arbeitsstunden als solche auf die Zufriedenheit und Belastung der Wissenschaftlerinnen aus (Drews, 1996; Strehmel, 1999).
Männer fühlen sich durch die Vaterschaft kaum in ihren Karriereoptionen beschränkt.
Als problematisch wird von Wissenschaftlerinnen mit Kindern die hohen zeitlichen Verfügbarkeits- erwartungen sowie negative Vorurteile bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit von Vorgesetzen und Kollegen genannt (Krais, 2000; Strehmel, 1999). Die Vereinbarkeit beider Lebensbereiche wird von Wissenschaftlerinnen mit Kindern als belastend und karrierehinderlich eingeschätzt; Wissenschaftler erleben dagegen deutlich weniger Konflikte und fühlen sich kaum in ihren Karriereoptionen durch die Vaterschaft begrenzt (Buchholz, 2004; CEWS, 2006).
Eine nicht unerhebliche Rolle kommt der privaten Lebenssituation und der Paarkonstellation zu: Ganz im Gegensatz zu männlichen Wissenschaftlern mit Familie sind Wissenschaftlerinnen zumeist mit einem hochqualifizierten, ebenfalls beruflich stark engagierten Partner liiert (Buchholz, 2004; Buchinger et al., 2004; Krimmer & Zimmer, 2006; Lind & Löther, 2006) und somit mehrheitlich Teil eines Dual Career Couples.
Dies sofern sie überhaupt partnerschaftlich gebunden sind, was wiederum bei sehr viel weniger Wissenschaftlerinnen auf hohen Positionen im Vergleich zu Wissenschaftlern der Fall ist (Buchholz, 2004; Krimmer & Zimmer, 2003). Für die Wissenschaftlerinnen mit Kindern bedeutet dies, dass sie in der Regel nicht in derselben Weise auf Entlastung von Reproduktionsarbeit zurückgreifen können wie ihre männlichen Kollegen. Im Gegenteil zeigt sich, dass gerade Wissenschaftlerinnen mit Kindern angeben, in erster Linie selbst für die Kinderbetreuung und deren Organisation zuständig zu sein (Macha et al., 2000; Solga & Wimbauer, 2005; Strehmel, 1999).
Inzwischen liegen jedoch erste Ergebnisse vor, die als eine Tendenz zur allmählichen Auflösung der traditionellen Rollenverteilung gewertet werden können (vgl. CEWS, 2006).
Fazit
Insgesamt betrachtet bestehen bei der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Elternschaft weiterhin erhebliche Erkenntnislücken. So ist bislang unklar, wie die konkrete Lebens- und Arbeitssituation von Wissenschaftlerinnen und vor allem Wissenschaftlern mit Kindern aussieht und wie diese ihre Karriereoptionen einschätzen.
Bislang kaum thematisiert wurden die wissenschaftsimmanenten Bedingungsfaktoren, die in Deutschland einer Familiengründung entgegenstehen und somit zu der hohen Kinderlosigkeit unter Wissenschaftlerinnen und jüngeren Wissenschaftlern beitragen. Auch die Ursachen für Karrierebrüche bzw. Karrierestagnationen im Spannungsfeld von Wissenschaftsstrukturen und Vereinbarkeitsmodellen verdienen eine genaue Analyse. Schließlich ist unklar, welche Wechselwirkungen zwischen Bedingungen unterschiedlicher Fachkulturen und Organisationsformen mit generativen Entscheidungen und der Lebenssituation als Mutter oder Vater in der Wissenschaft bestehen.
Welche Faktoren sind für Karrierebrüche im Zusammenhang mit Elternschaft verantwortlich? Welchen Einfluß haben unterschiedliche Fachkulturen auf die Vereinbarkeitsfrage? Wir wissen noch viel zu wenig über die Situation von Wissenschaftlerinnen mit Kind.
Wenig Wissen existiert zudem zu den individuellen Bewältigungsstrategien für die Vereinbarkeit sowie zu hilfreichen institutionellen Rahmenbedingungen für eine bessere Balancierung der Lebensbereiche. Ein zentrales Desiderat stellt die Vernachlässigung von Männern im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Familie dar.
Mit einer derzeit laufenden Studie an weiblichen und männlichen Wissenschaftlern geht das Kompetenzzentrum diesen Fragestellungen nach. Es handelt sich um das vom BMBF geförderte Projekt ‚Balancierung von Wissenschaft und Elternschaft BAWIE’. Erste Ergebnisse der Befragung an über 8.500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind im Herbst 08 verfügbar. Das Forschungsprojekt dauert noch bis Sommer 2009 und umfasst neben der quantitativen Erhebung eine qualitative Interview-Studie.
» Teil I des Artikels: Erkundungen in vermintem Gelände: Vereinbarkeit von Hochschulkarriere und Elternschaft I
IZ – Sozialwissenschaften.
Sie hat mehrere Studien und Analysen zu Genderaspekten in wissenschaftlichen Biographien durchgeführt und leitet derzeit das Projekt “Balancierung von Wissenschaft und Elternschaft” (www.bawie.de).
(2) Die hohe Anzahl an kinderlosen Männern im akademischen Mittelbau verweist auf strukturelle Bedingungen wie dem langen Qualifikationsweg mit befristeten Arbeitsverträgen, die einer Familiengründung entgegenstehen, vgl. dazu Aufertkorte-Michaelis et al., 2006a; 2006b. Ein hoher Anteil kinderloser männlicher Akademiker zeigte sich auch in anderen statistischen Analysen, vgl. Biedenkopf et al., 2005; Schmitt, 2004.
(3) Zur Kinderzahl von Akademikern und Akademikerinnen wird von Bevölkerungswissenschaftlern auf die in der öffentlichen Debatte verbreiteten zu hohen Zahlen verwiesen. Statistische Angaben für die Gesamtbevölkerung zur Kinderzahl und Bildungsstand sind derzeit noch nicht verfügbar (Dorbritz, 2003; Schmitt & Winkelmann, 2005; Scharein & Unger, 2005).
(4) Projekt ‚Wissenschaft und Junge Elternschaft’ unter der Leitung von Prof. Dr. Metz-Göckel
(5) ausführlicher siehe Lind, 2004b.
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