Peter Agre muss so ziemlich der netteste Nobelpreisträger sein, der mir je begegnet ist. Bisher stand mir nur ein Argument zur Verfügung, um diese These zu untermauern: Eine sehr nette Plauderei mit anderen Studenten an der Emory Universität letztes Jahr. Mittlerweile habe ich derer zwei.
Heute “interviewte” ich den so schlagfertigen wie intelligenten Mann 40 Minuten lang in einem ungezwungenen, unterhaltsamen Gespräch. (Das Wort “Interview” ist deswegen ein Euphemismus, weil es sich tatsächlich eher um eine Plauderei handelte, als um knallhartes Fragenstellen.) Agre entdeckte eine grundlegende Bestimmungsgröße flüssiger Homoestasen bei Säugetieren, die Wasserkanäle beziehungsweise Aquaporine.
Dr. Agre hatte einen pickenpackenvollen Interview- und Vortragszeitplan und so wurde mein Interview gleich mit seinem Mittagessen gepaart. Wir sprachen über sehr viele interessante Themen und ich verwarf meine ursprüngliche Fragenliste als mir klar wurde, dass es viel spannender ist, Agre einfach reden zu lassen.
Ich erzählte Agre also zunächst, dass ich kein ausgebildeter Redakteur bin und er von mir keine journalistischen Meisterleistungen erwarten sollte. Daraufhin erinnerte er mich daran, dass ich ja schließlich Blogger sei, also sehr wohl ein wenig Journalist. Diese willkommene Abwechslung führte mich auch direkt zur Frage, wie er den Einfluss von wissenschaftlichen Blogs auf die Forschung einschätzt. Meiner Meinung nach sind Wissenschaftler nämlich m.E. nunmal oft keine Experten der Wissenschaftskommunikation, während Wissenschaftsjournalisten zum Teil das Hintergrundwissen für den jeweiligen Forschungsbereich fehlt. Agre wies mich darauf hin, dass Blogger, vor allem aber bloggende Wissenschaftler diese Lücke schließen könnten und so eine neue Form des Journalismus begründen. Dennoch war er unzufrieden mit dem Mangel an redaktioneller Betreuung und schlechter Recherche, auf deren Basis viele Blogs arbeiten. Außerdem meinte Arge, dass Blogs zweifelsohne sehr spannend seien, sich aber als relativ neues Medium erst noch in ihrer Nützlichkeit und ihrem Beitrag für die Wissenschaft beweisen müssten. Dabei erwähnte Agre Dana Brown und Gina Kolata als besonders versierte Wissenschaftsautoren.
Dann sprachen wir über andere wichtige Themen: Den Niedergang der Zeitungen etwa und die Tatsache, dass eben nicht nur Wissenschaftsressorts unter der Finanzkrise leiden sondern teilweise auch ganze Blätter eingestellt werden müssen. Agre beunruhigte das und er erklärte, dass es ihm ein Rätsel sei, dass die Öffentlichkeit nicht versteht, wie ernsthaft diese Entwicklung ist. Er wies auf ein Beispiel aus dem Kino hin: Edward Murrow war die Vorlage für “Good night and good luck”, ein Film in dem journalistische und moralische Grundsätze nie zugunsten der akribischen Berichterstattung leiden mussten. Der Rückgang der Leserzahlen ist Agre ein Dorn im Auge, auch wenn eine unbekannte Anzahl – möglicherweise: viele – dieser Leser schlicht ins Internet “umzieht”.
Wissenschaft zugänglich zu machen ist nicht so weit von der staatlichen Unterstützung für Wissenschaft entfernt, einem möglicherweise sogar wichtigeren Bestreben. Agre lobte Barack Obamas Stab an wissenschaftlichen Beratern, allen voran Steven Chu. Agre ist davon überzeugt, dass diese treibende Kraft sich auch tatsächlich positiv auf die Wissenschaftsförderung in den USA auswirken wird, auch wenn er der Meinung ist, dass die Verteilung von Fördermitteln langsamer hätte ablaufen müssen. Ein Ziel der Regierung sollte es aber auf jeden Fall sein, das Interesse von Kindern und Jugendlichen aber auch Bloggern und Journalisten an der Wissenschaft zu stärken.
Die Diskussion um die Unterstützung junger Wissenschaftler brachte mich zu einem Zitat, das ich in einem Artikel von Robert Weinberg vor ein paar Jahren gelesen hatte. Weinberg schrieb, dass die späte Anerkennung für Stipendien junge Leute tatsächlich von ihrer Forschung abhalten kann. Agre fügte dem hinzu, dass es immer noch ein großer Glücksfall ist, im Alter von 40 Jahren finanzielle Unterstützung für ein komplettes Forschungsprojekt zu erhalten. Jedoch sei Wissenschaft nunmal kein Ponyhof und es sei naiv, kontinuierliche und großzügige Spenden zu erwarten. Oder, wie Max Perutz es in einem seiner wundervollen Bücher ausdrückte: “Science is not an easy life.”
Die Unterhaltung wendete sich dann wieder der Popularisierung von Wissenschaft zu. Ich fragte Agre, ob er glaubt, dass die öffentliche Wertschätzung von Wissenschaft (und damit meinte ich nicht nur ihre praktische Anwendung sondern auch Forschungsmethoden) schwindet. Agre stimmt dem zu, betonte aber auch dass zumindest soziale Schichten mit niedrigerem Bildungsstandard sich niemals für die Vorgehensweise von Wissenschaft begeistern lassen werden sondern höchstens für das Ergebnis. So spannend Gencodes auch sind – die meisten Leute interessieren sich erst für die Genforschung, wenn sich damit Krankheiten heilen lassen oder frühzeitigere Diagnosen möglich sind.
Nichtsdestotrotz ist die Sorge über die Verbreitung von Aberglauben und Pseudowissenschaften größer als die Sorge über das mangelnde Interesse an Naturwissenschaften. Wie Einstein in einem meiner liebsten Zitate sagt: “Jede Wissenschaft ist nur eine drastische Ausdehnung von alltäglichem Denken” – Ich halte dieses Zitat für tiefgründig, weil es zeigt, dass Wissenschaft eben nicht nur im Elfenbeinturm stattfindet, wie viele glauben mögen, sondern dass sie ihre Ursprünge eben im Alltag hat. Carl Sagan war seiner Zeit voraus, als er in “The Demon-haunted world” schrieb, dass ein Mangel an wissenschaftlichem Denken die Fähigkeit zum vernünftigen Analysieren verdrängen wird und so wichtige politische und soziale Entscheidungen beeinflusst.
Schließlich kann auch die Gesellschaft über die Förderung von Wissenschaft mitentscheiden und wenn dort kein Interesse an Forschung besteht und Zeitungen und Medien nicht genügend über solche Themen berichten, wie soll sich an der Wahrnehmung der Öffentlichkeit etwas ändern? Dies sei eines der dringendsten Probleme unserer Zeit, betonte Agre. Er sagte, dass es immer leicht sei, Begeisterung für Themen zu generieren, die nicht unsere volle Aufnahmefähigkeit und kritisches Denken fordern, das läge eben in der Natur des Menschen. Unterhaltung sei immer verlockender als Bildung. Zugleich meinte Agre jedoch, dass intelligente Leute auch immer wieder Herausforderungen an Stelle von Berieselungen suchen. Außerdem seien es immer wieder die Entdeckungen dieser Menschen, die Innovationen vorantrieben. Diese Meinung sei nicht überheblich, sondern eine faktische Gewissheit. Agre sagte, dass wissenschaftliche Entdeckungen mit dem Filmgeschäft vergleichbar seien: Viele gute Filme würden von Blockbustern untergraben, dennoch würden sie nie ganz untergehen. Agre bemerkte, dass einige Entdeckungen auch unsere Ansichtweisen verändert hätten. Viele Pioniere dieser Entdeckungen seien in Lindau: Aaron Ciechanover etwa, der den ubiquitingesteuerten Proteinabbau entdeckte. Oder die Erforscher des Ozonlochs. Agre erwähnte bescheidenerweise nicht die Aquaporine, auch wenn ich ihn daran erinnerte.
Nachdem das Gespräch auf Aquaporine kam, nutzte ich die Gelegenheit, Agre danach zu fragen. Aquaporine sind ubiquitäre Proteine, die Wassermoleküle steuern. Sie sind der Schlüssel in der Selbsterhaltung und Beförderung von Flüssigkeiten bei Säugetieren. Diese Entdeckung war ein großes Glück für die Erforschung des Rhesusfaktor-Antigens. Die Geschichte ist auch in Agres eigenen Memoiren schön dokumentiert. Agre erinnerte sich daran, wie er und sein Team Weihnachten 1991 durcharbeiteten, um das Projekt zu beenden und das Paper an Science zu senden, da sie wussten, dass zumindest eine weitere, größere Forschergruppe auf dieselben Makromoleküle scharf war. Ich fragte ihn nach seinen jüngsten Forschungen zu diesen Proteinen und es scheint, dass ihr Potenzial als Arzneimittel noch sehr unterschätzt wird, auch wenn ihre Allgegenwertigkeit als Ubiquitin es erschweren könnte, sie über Arzneimittel anzugreifen.
Dann wandte ich mich dem interessanten, persönlichen Kram zu. Ein Punkt, der in Agres Autobiographie hervorsticht war die Geschichte, wie er von North Carolina zur John Hopkins Universität nach Baltimore zog und während dieser Zeit, um sein Einkommen zu verbessern, tatsächlich als Boxer bei Boxkämpfen auftrat. Das ist nun wirklich keine alltäglicher Job für einen jungen Wissenschaftler. Es stellte sich heraus, dass die Boxkämpfe zu einem Programm gehörten, um Jugendliche von der Straße zu holen. Agre jobbte dort fast vier Jahre – eine eigenartige, einzigartige Erfahrung.
Nachdem mir die Zeit davonlief, beschloss ich das Gespräch mit ein paar allgemeinen Fragen zu beenden. Eine große Frage über die zur Zeit viel debattiert wird ist der Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion. Ist der Konflikt gerechtfertigt? Agre meinte, er sei lutherisch erzogen worden und hätte die Arbeit der Missionare immer gewürdigt – ungeachtet ihrer Beweggründe. Dennoch war sein Standpunkt klar: Seht auf das Wirken und nicht die Glaubensrichtungen, die Handlungen antreiben. Lasst Leuten ihren Glauben, solange sie damit gute Dinge verrichten.
Das Gespräch endete mit Agres Ermutigung zu einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie. Zu diesem Zeitpunkt hatte er gerade sein Mittagessen beendet und musste zum nächsten Interviewtermin mit Nature. Es war ein großes Vergnügen mit ihm 40 Minuten zu plaudern und eine anregende Unterhaltung mit einem der größten Wissenschaftler unserer Zeit, der zugleich ein schlagfertiger und wundervoller Mann ist.
» Ashutosh Jogalekar ist Chemiker und momentan PostDoc. |
» Jessica Riccò ist ScienceBlogs-Redakteurin und ausdauernde Übersetzerin. |
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