oder aus erziehungswissenschaftlicher Sicht: Öffentliche Demütigung wird gesellschaftsfähig “gemacht” ….RTL: Die Jugendlichen sind selbst schuld. Die Ergebnisse des selbstdarstellerischen Dranges der Kandidaten hat DSDS nicht zu verantworten.Wer die Quoten hat, bestimmt wo’s lang geht……
Das “DSDS-Fieber” hat die deutsche Jugend
wieder erfasst: öffentliche Herabsetzung und Verspottung – nicht nur
bezüglich der musikalischen Eigenschaften – ziehen die deutschen Jugendlichen
wieder vor den Bildschirm. “Du singst scheiße” ist ein gängiger
Spruch von Dieter Bohlen. Eigens fabrizierte Portraitfilme wecken bei einigen
Kandidaten große Hoffnungen und lässt sie nach ihrer Ablehnung im Casting sehr
tief fallen…..Dennoch sitzt die Jugend vor den Bildschirmen, verfolgt die
Demütigungen und Herabsetzungen, weil sie sich die eigene Identifikation mit
dem “harten” Weg vom unscheinbaren Aschenputtel zum großen Star,
nicht entgehen lassen will.
Ungeachtet der jedes Jahr erneut aufflammenden Diskussionen von Jugendschützern
u.a, setzt der Sender auf öffentliche, zusätzlich medial inszenierte
Demütigungen mehr oder weniger ungeeigneter Bewerber. Die Quoten, d.h. die
indirekt damit verbundenen höheren Werbeeinnahmen, eben das Gewinnstreben des
Senders, lassen jegliche menschliche Anständigkeit vergessen. Das Grundrecht
des Menschen auf die Unantastbarkeit
der Würde wird mit Füßen getreten. Minderjährige werden
gleichzeitig zum Opfer elterlichen Ehrgeizes und dem unmoralischen
Gewinnstreben des Privatsenders. Die dort “beschäftigten” Moderatoren
und Macher hinterlassen eine Spur der moralischen und psychischen Zerstörung
zahlreicher Bewerber, welche nicht die Chance hatten, zu erfahren bzw. zu
lernen, was notwendig ist, um tatsächlich ein Star werden zu können.
Jugendliche – beeinflusst durch die vermeintlich gesellschaftlich tolerierte
Demütigung – behelligen die gedemütigten Opfer nach ihrem unseligen
Auftritt und treiben die Betroffenen in psychische Notlagen…
Wo steht unsere Gesellschaft, welche moralischen Prinzipien beherrschen
unser Leben, wenn der Einzelne derart “wertlos” ist, dass man ihn so
bloß stellen und “treten” darf und niemand tatsächlich einschreitet?
Politik und Erziehungsinstitutionen sehen weitgehend tatenlos zu, wie einer
nachwachsenden Generation “neue” (un-)moralische Maßstäbe aufgedrückt
werden.
Die Hintergründe:
Warum lassen sich Jugendliche und ihre Eltern auf solche
Medieninszenierungen überhaupt ein?
1.Das sogenannte Aschenputtel-Prinzip:
Als das “Aschenputtel-Prinzip” wird das menschliche Bedürfnis nach
Anerkennung, Aufmerksamkeit, Geld und Ruhm bezeichnet. Jugendliche und auch
noch junge Erwachsene befinden sich in einer relativ instabilen
Entwicklungsphase auf der Suche nach einer “passenden Identität”.
Angesichts mangelnder Ausbildungsplätze und hohen Ausbildungskosten scheint ein
mögliches “Stardasein” alle Probleme auf einmal zu lösen.
2. Die medial inszenierte
“Zukunftshoffnung”
Nicht zuletzt Erfolgsgeschichten, wie die eines Mark Medlock, welcher wie
Phönix aus der Asche, mit Hilfe von DSDS vom verschuldeten Arbeitslosen zum
großen, allseits beliebten singenden Medienstar wurde, schürt Hoffnungen bei Jugendlichen.
In oft grenzenloser Selbstüberschätzung, unterstützt durch Behauptungen in
Medien und Songs werden junge Erwachsene ermutigt, für sie unerreichbare
Zielsetzungen zu verfolgen.
So singt der sich selbst – oft auf Kosten Dritter – inszenierende
Medienstar Dieter Bohlen z.B. in “TV makes the superstar”
(Modern Talking):
.. , aber du kannst es in deinem Herzen fühlen, dass du nichts falsch machen
kannst. Du bist vielleicht jeden Tag unglaublich nervös, aber dann hörst du
eine Stimme vom Himmel, die sagt, du wirst deinen Weg schon finden. TV makes
it, TV even breaks it …
Dann sei nicht traurig, denn im Leben gibt es immer noch eine zweite Chance,
deshalb bleib einfach dran. Lass Dir etwas Zeit und du wirst schon sehen, du
kannst ein Gewinner sein, so wie ich, denn TV makes the superstar. Gesamter
Text in englischer Sprache: hier
Solche Sätze lassen dann junge Menschen glauben, dass alles machbar sei, wenn
man sich nur genug anstrenge. (Viele Bewerber der Castingshows weisen darauf
hin, wie intensiv sie sich vorbereitet haben!)
Was steckt dahinter? Warum bewerben sich zahlreiche Jugendliche, obwohl sie
eigentlich wissen müssten, dass sie weder singen können und auch nicht zum
“Format” Deutschland sucht den Superstar passen? Einige Hypothesen:
1. Auswirkungen “kuschelpädagogischer” Erziehung und Beschulung
Die sog. “Kuschelpädagogik” in den Elternhäusern, aber auch in
Tagesstätten, Kindergärten und später in den Schulen (Bsp.: “Das machst du
aber toll”, auch wenn viele Mängel der gezeigten Leistung anhaften) und
fehlendes Feedback für unzureichende Leistungen, führen langfristig zur
Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten. Dass Kinder für eine gesunde
Entwicklung auch einer konstruktiven! Kritik bedürfen wird außer Acht gelassen.
Insbesondere solche “kuschelpädagogisch geschädigten” Jugendlichen
und junge Erwachsene sind dann auch bei den Bewerbern in DSDS zu finden.
2. Auswirkungen mangelnder musikalisch-künstlerischer Förderung in der
Vorschul- und Schulerziehung
Bereits die junge ErzieherInnen und LehrerInnengeneration hat (zu) wenig
musikalische und künstlerische Förderung in der (vor-)schulischen Ausbildung
genossen. Um jedoch musikalische und künstlerische Leistungen angemessen
beurteilen zu können, müssen auch Vorstellungen darüber erworben worden sein,
was musikalisch und künstlerisch als “gut” zu betrachten ist.
3. Falsche Selbsteinschätzung der Jugendlichen trifft auf einen rigorosen
Wettbewerbsmarkt um Zuschauerquoten
Zunehmende Vernachlässigung der musikalischen Bildung – bereits in der
Elterngeneration führt bei den Eltern zu einer Fehleinschätzung der Fähigkeiten
ihrer Kinder. Eigene “verpasste” Starträume der Eltern werden auf die
Kinder übertragen. So werden diese Jugendlichen gleich mehrfach zum Opfer
gemacht:
1. durch den Ehrgeiz der Eltern und elterliche Fehleinschätzung der
musikalischen Fähigkeiten ihrer Kinder.
2. durch den Run auf Quoten der Privatsender
4. Fehlende “musikalische” Wahrnehmungsschulung und verzerrte
“gesangliche” Eigenwahrnehmung
Die große Anzahl an Bewerbern, welche sich vorstellen ohne tatsächlich singen
zu können, deutet darauf hin, dass die Fähigkeit zur realen
“Eigenwahrnehmung” – zumindest für diesen Fähigkeitsbereich nicht
geschult worden ist. Hier fehlen ganz offensichtlich Hörfähigkeiten, deren
Schulung normalerweise Bestandteil eines guten Musikunterrichtes gewesen wären.
So trifft ein Teil der Verantwortung für das “DSDS-Selbstüberschätzungssyndrom”
die mangelnde musikalische Ausbildung in der Schule.
FAZIT:
Die medial inszenierte Demütigung
deutet auf eine gesellschaftliche Verrohung hin, wobei die „Gedemütigten“ Opfer
ihrer gestörten (vor allem gesanglichen) Selbstwahrnehmung sind.
Bildungspolitiker müssen sich fragen, inwiefern einerseits Fehlleistungen der
erzieherischen Institutionen für diese Entwicklung mitverantwortlich sind und
andererseits Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung und –fähigkeit angesichts
solcher gesellschaftlichen Herausforderungen gestützt werden müssen. Insbesondere werden Entwicklungsstörungen im
Jugend- und frühen Erwachsenenalter sowohl in der Forschung, als auch in der
institutionellen Erziehung stark vernachlässigt. Nur ihre Auswirkungen
(Delinquenz u.ä.) geraten kurzzeitig in den Fokus der öffentlichen
Aufmerksamkeit, ohne dass über echte Hilfen und Gegenmaßnahmen ernsthaft
nachgedacht wird. In diesem Zusammenhang ist besonders beunruhigend, dass
Medien – ohne staatliche, strafrechtliche oder andere Konsequenzen – junge Menschen
herabsetzen, demütigen und beleidigen dürfen. (§ 185 StGB, Beleidigung, Art. 1
GG, Die Würde des Menschen ist unantastbar)
Zum Weiterlesen:
“Deutschland sucht den Superstar” Kritik in den Medien: Im Fokus: hier und in der TAZ: hier
Ich-Entwicklung in der Adoleszenz: hier, Züricher Entwicklungsstudie zum Jugendalter: hier, Vortrag zu Entwicklungskrisen im Jugendalter: hier
Kommentare (6)