Idealvorstellungen von Wissenschaft feiern die Beweglichkeit, Schönheit und Klugheit des menschlichen Geistes. Die realexistierenden wissenschaftlichen Institutionen aber sind oft träge, häßlich und dumm. Dies ist nur ein besonders augenfälliger unter den vielen inneren Widersprüchen „der Wissenschaft“. Im Sprachgebrauch, aber auch im Denken unterscheiden wir oft nicht zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Fächern und Erkenntnissen, zwischen Personen und Sache. Dies öffnet einen Spielraum für gegensätzliche oder zumindest unterschiedliche Deutungen, manchmal mit bedauerlichen Folgen. So wird von Professoren berichtet, die sich über Jahrzehnte für »die Wissenschaft« zu engagieren glaubten, im Rückblick aber zu der Auffassung gelangen, daß sie ihre Zeit an Bürokratie verschwendet und »die Wissenschaft« verpaßt haben.
Auch die benachbarten Kolumnen hier auf Scienceblogs widmen sich nicht nur unterschiedlichen Themenfeldern, wie Meeresbiologie oder Mathematik, sondern oszillieren zudem zwischen unterschiedlichen Lesarten »der Wissenschaft«. Diese tritt den Lesern wechselnd als Methode entgegen, als Sammlung dessen, was wir wissen und noch herausfinden wollen, als zu verteidigende Weltanschauung, als die ideelle Gemeinschaft denkender Menschen oder als eine Form der institutionellen Selbstdarstellung. Daher liegt es nahe zu fragen, wo ich, der Neuling, den Deutungsschwerpunkt setze: Wissenschaft, was soll das sein?
Ich kann diese Frage hier weder in ihrer ganzen Vieldeutigkeit entfalten noch eine umfassende Antwort geben. Aber ich kann den Keim benennen, aus dem die Antwort für mich erwächst. Dabei denke ich nicht als erstes an Kindheitseindrücke von Wissenschaft, wie meine Fischbücher mit den lateinischen Artnamen oder Mr Spock an seiner Konsole auf der Brücke der Enterprise; ich denke auch nicht an ein Vorbild aus der Wissenschaftsgeschichte, wie Einstein im Patentamt oder Darwin auf der Beagle, ebensowenig wie an eigene Forschungserlebnisse etwa in der Taklamakan-Wüste; und ich denke auch nicht an die Greifswalder Universitätsbibliothek und meine Lieblingsecke mit Blick auf die Wipfel des Arboretums. Wenn ich mich frage, was Wissenschaft für mich sein soll, dann denke ich an einen Bücherschrank in Kathmandu.
Der fragende Mensch
Ich begegnete diesem Schrank zum ersten Mal nach meinem Schulabschluß, als ich meinen deutschen Zivildienst in Nepal ableistete und dabei zeitweilig die neueingerichtete Wohnung meiner Familie in der Hauptstadt bewohnte. Dieser Schrank und andere Möbel enthalten bis heute vornehmlich Bücher, die die Generation meines Vaters in den 1960er und 70er Jahren zusammentrug: eine wilde Mischung aus Sachbüchern und Belletristik, Theorieziegeln und Handarbeitsheften, Schund und Schätzen.
Ihr Einfluß auf meine Entwicklung ist nicht zu bezweifeln. Zum Beispiel stieß ich dort zwischen Sciencefiction-Groschenromanen erstmals auf Ursula K. Le Guins meisterhafte Utopie The Dispossessed, deren Langzeitwirkung sich etwa in meinem jüngsten Aufsatz über den Ökotopismus niederschlägt. Auch mit anderen Autoren, Büchern und Genres – wie Khushwant Singh, John Steinbeck, einer Gandhi-Biographie, einem Abriß der Yoga-Philosophie oder den kommunistischen Moralgeschichten über Landarbeiter im China der Kulturrevolution – kam ich nur deshalb in Berührung, weil sie sich mir in diesem Bücherschrank über all die Jahre hinweg geduldig anboten. Einige sorgfältig gestaltete amerikanische College-Lehrbücher nährten in mir eine Vorstellung von Bildung, Forschung und akademischem Schreiben, die mit meiner späteren Studien- und Arbeitserfahrung an einer deutschen Wald-und-Wiesen-Universität nie zur Deckung zu bringen war.
Ich kam und ging, der Bücherschrank blieb. Wenn ich an ihn denke, denke ich daher auch an mich selbst zu verschiedenen Zeiten: als Schulabgänger, Student, Berufsanfänger, Promotionsstipendiat, scheiternder Doktorand; mal dichtend und singend, mal übersetzend, mal forschend; alleine oder in Gesellschaft, ungebunden oder mit einem Kind auf dem Arm; in guter wie in schlechter Verfassung. Und ich kann mich dessen versichern, was alle Wechselfälle hindurch Bestand hat: meine Wißbegierde, meine Ideen, mein Drang, die Welt und mich selbst zu verstehen und den anderen davon zu erzählen. Bei unserem Bücherschrank in Kathmandu fühle ich mich als fragender Mensch zu Hause.
Stimmen aus dem Sandkasten
Das ist keine Definition. Es ist der Keim meiner Antwort auf eine wichtige Lesart der Frage, was Wissenschaft sein soll: Wollen wir eine Wissenschaft, die neugierigen, klugen, kreativen Menschen ein Zuhause bietet? Oder eine, die sie abstößt, im doppelten Sinn?
Damit liefere ich eine Steilvorlage für Erwiderungen ad hominem, zum Beispiel: Wenn ich Probleme mit dem Wissenschaftsbetrieb habe, bin vielleicht ich selbst einfach nicht neugierig, klug und kreativ genug oder schwächele bei anderen unverzichtbaren Tugenden wie Fleiß, Zucht und Ordnung. Ich höre die anderen Kinder rufen: Wer in unserem Sandkasten mitspielen will, der muß halt das Wetter abkönnen, und auch mal einen Schlag mit der Schippe. Wenn du dich hier nicht zu Hause fühlst, dann bleib drinnen bei deinem Bücherschrank! Ach, jetzt heulst du? Geh heim zu deiner Mama!
Tatsächlich scheint die Wissenschaft, die ich suche, zur Zeit eher außerhalb des Sandkastens einen Raum zu finden, in populären Büchern, die vom Wundern über die Welt leben, in den nachdenklichen Nischen des Journalismus, in müßig gelehrten Gesprächen außer Konkurrenz.
Oder in Blogs. Willkommen zu Hause.
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