Einmal im Jahr fahre ich nach Freiburg im Breisgau, um dort zu lehren. Freiburg hat viele Vorzüge. Für mich ist der größte unter ihnen, daß es sehr weit von Greifswald entfernt liegt. Selbstverständlich ist von Greifswald aus fast jeder Ort weit entfernt, außer Wackerow, Neuenkirchen und vielleicht noch Lubmin. Aber in Freiburg zu sein, macht es für mich vorstellbar, daß Greifswald einfach aufhören könnte zu existieren, und die Welt um mich herum, und ich in ihr, würde nichts davon bemerken. Es macht mir greifbar, daß ich Greifswald irgendwann endgültig hinter mir lassen und bestenfalls vergessen könnte.
Soweit ist es noch nicht, und vielleicht möchte ich nicht ganz und gar alles vergessen. Aber zum siebten Mal, im siebten Jahr, gebe ich an der Universität Freiburg einen Kurs zur Ethik der nachhaltigen Entwicklung, und zum zweiten Mal, seit meine vier Kurstage auf zwei aufeinanderfolgende Wochen gesplittet wurden, fahre ich zwischendurch nicht zurück nach Vorpommern, sondern verbringe zehn Tage am Stück im Breisgau. Das gibt mir Zeit, um aufzuatmen, um mich zu sammeln und um mein sonstiges Leben aus der Distanz zu überschauen. Und es ist auch eine gute Gelegenheit, um dieses Blog wiederzubeleben. Ich werde mindestens einmal täglich über mein Leben als Wissenschaftler schreiben, und über Sachthemen, die mich bei meiner Rück- und Vorausschau besonders beschäftigen: mein Freiburger Tagebuch 2017.
Am Boden
Die Flucht nach Freiburg beginnt mit einer nächtlichen Bahnreise vom Samstag in den Sonntag. In den letzten Tagen bis zu meinem minutengenauen Eintreffen am Gleis 3 des Bahnhofs Greifswald war meine Zeit ungewöhnlich eng getaktet. Während der vorigen Wochen hatte ich konzentriert, aber ohne unmittelbare Fristen immer vormittags an meiner Dissertation geschrieben und zwischen den wenigen Terminen am Nachmittag Zeit für Recherchen und Dienstaufgaben gefunden. Diese Woche arbeitete ich, anstatt zu schreiben, durchgängig einen größeren Komplex aufgeschobener Erledigungen ab, übersetzte auf kurzfristige Anfrage vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) mehrere Seiten policy-Prosa über einen »Fitness-Check« der EU-Agrarpolitik ins Deutsche und absolvierte eine Reihe von Gesprächen mit Studierenden und Kollegen sowie mit dem Autor einer Mooskunde, deren Einleitungskapitel ich ins Englische übertrage.
Am Dienstagnachmittag gelang es mir erstmals, am Hochschulsportkurs Autogenes Training teilzunehmen. Entspannt auf dem Rücken liegend schlief ich allerdings nach wenigen Minuten ein und wurde erst am Ende der Stunde von meinen Mattennachbarn geweckt. Doch am Samstagabend erreichte ich den Bahnsteig mit dem guten Gefühl, nichts verschlafen, sondern alle Aufgaben auf meiner Liste abgehakt und auch privat, für einen Besuch meiner Mutter zwecks Kinderbetreuung, alles Nötige vorbereitet zu haben.
Das war nicht immer so. In den sechs vorigen Jahren verließ ich, wenn ich aus Greifswald fortfuhr, eine bedrückende, quälende Lebenlage wie einer, der aus tiefem Wasser an die Oberfläche kommt, um nach Luft zu schnappen: Der Abgrund unter mir blieb immer spürbar, und allzu oft sank mir auch auswärts das Gesicht wieder unter die Oberfläche. Die Zeitreihe von Freiburger Erinnerungen aus jedem dieser Jahre bildet ein Panorama meiner Verzweiflung und Dysfunktionalität, meiner mitgebrachten Angst vor dem Abgrund. Mein Zustand wird darin gerade deshalb so deutlich sichtbar, weil ich den Lehrauftrag in Freiburg immer sehr geschätzt habe. Davon werde ich noch erzählen.
Daß Hochschulen viele Menschen, die ihnen angehören, in die Depression treiben, dürfte kaum jemanden überraschen, der in den letzten zehn Jahren die Medienberichte über Studiengangsreformen, Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und die Quantifizierung von wissenschaftlicher Leistung verfolgt hat. Auch wenn im Einzelfall andere Faktoren eine Rolle spielen, geben diese Berichte doch gute Beispiele für Stimmung und Mechanismen im System Hochschule. Besonders im Gedächtnis ist mir eine kurze Szene aus einem ZEIT-Artikel geblieben, die den folgenreichen Kontrast zwischen Innenleben und Außenwahrnehmung auf den Punkt bringt:
In ihrem letzten Seminar wurde ihr immer wieder schwarz vor Augen; in der Pause musste sie sich in ihrem Büro auf den Boden legen. Ihre Studenten sagten später, es sei eine gute Veranstaltung gewesen. Sie hatten nichts bemerkt.
Die Eröffnung dieses Blogs war ein Versuch, wieder aufzustehen und noch irgendwo eine gute Veranstaltung hinzukriegen. Doch trotz des Zuspruchs der Bloggerkollegen und Leser holte mich schon nach dem ersten Beitrag der lähmende Lebenszweifel ein. Die Themen, über die ich am dringendsten hätte schreiben wollen, waren auch diejenigen, die mich am meisten zersetzten. Ich bin lange im dunkeln unterwegs gewesen, und erst seit ein paar Tagen sehe ich wieder Licht.
Welt hinter Glas
Über meine Fahrt im Nachtzug von Berlin nach Freiburg gibt es wenig zu berichten. Ich schlafe gut und freue mich über das kleine Frühstück, das beim neuen Betreiber ÖBB nun dazugehört. In der letzten Viertelstunde vor meiner Ankunft sehe ich vom Gangfenster aus die badische Herbstlandschaft im Zwielicht vorüberziehen wie eine dunkle, südliche Verheißung. Die Freiburger Innenstadt ist sonntagfrüh vor acht Uhr noch fast menschenleer. Meine Freiburger Unicard, die ich mir letztes Jahr besorgt hatte, öffnet mir umstandslos den Eingang zur Universitätsbibliothek. Ich setze mich auf die Polsterbänke der verlassenen Cafeteria im Erdgeschoß, beginne zu schreiben und beobachte durch die Glaswände, wie ein neuer Tag anbricht.
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