Wie weit ist es nach unten?«, fragt der Untertitel der aktuellen Soziologiemagazin-Ausgabe, »Prekäre Lebenswelten«. Das Magazin wird von Studierenden und sogenannten Nachwuchswissenschaftler*innen herausgegeben – seit beachtlichen zehn Jahren. Es erscheint zweimal jährlich und ist als Online-Ausgabe frei zugänglich.
Vor die beiden Schwerpunktartikel zu den prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen von Pflegenden und geflüchteten Syrern stellt die Redaktion zwei akademisch-selbstreflexive Interviews zur Prekarität im Wissenschaftsbetrieb. Es kommen Akteure des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) und der Hochschulgewerkschaft unter_bau zu Wort. Jeder Beitrag für sich wirft ein spannendes Schlaglicht auf Prekarität im jeweiligen Gesellschaftsbereich. Besonders gerne gelesen hätte ich jedoch einen Beitrag, der mir das Phänomen im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang erklärt: Was ist das für eine Gesellschaft, die sinnvoll arbeitende Menschen mit solcher ökonomischer Geringschätzung straft? Wie entsteht eine solche Ordnung? Wie können wir sie umbauen? Dazu vermisse ich einen dritten Schwerpunktartikel.
Mehr im Blog
Passend zur neuen Magazin-Ausgabe veröffentlichte der zugehörige Blog im April eine Essay-Reihe zum akademischen Prekariat. Im einführenden Beitrag faßt Nadja M. Köffler einen Sachstand zusammen, der im Sozblog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie schon letztes Jahr ausführlich nachzulesen war, einschließlich aller wünschenswerten Polemik und soziologischen Sprachkunst (diverse empfehlenswerte Artikel dort unter dem Schlagwort Prekarisierung). In einem weiteren Beitrag, »Wenn die Uhren immer lauter ticken«, reflektiert Köffler ihren eigenen Berufsweg und verbreitete Mechanismen, die zu Zukunftsunsicherheit, Unterdrückung und allgemeinem Unbehagen im Wissenschaftsbetrieb beitragen. Zu diesen Mechanismen gehört unter anderem der double bind nach Gregory Bateson:
Einerseits wird wissenschaftliche Eigeninitiative eingefordert. Andererseits darf diese jedoch nur unter den wachsamen Augen von Vorgesetzten in immer kleiner werdenden Möglichkeitsräumen entfaltet werden. So ist nach Krauß et al. (2015: 133) die Eigeninitiative des akademischen Nachwuchses zwar „rhetorisch erwünscht, kann jedoch schnell als Widerstand oder gar Anstiftung zur hausinternen Revolution interpretiert werden“. Die Wissenschaftlerin bzw. der Wissenschaftler ringt demzufolge in einem Kräftefeld von Innovation und Subordination, Unterwerfung und Eigeninitiative sowie Gehorsam und Mündigkeit um seine berufliche Existenz.
Ähnlich lesenswert ist Michael Brandmayrs Beitrag »Der unwissenschaftliche Wissenschaftler«. Darin steht die Arbeitsweise und Ergebnisqualität der Forschenden im Mittelpunkt, die um jeden Preis Karriere machen müssen, um überhaupt weiter als Wissenschaftler*innen arbeiten zu dürfen.
Peter Stöger will dem Titel seines Beitrags zufolge Prekarität als Sinnfrage reflektieren. Leider habe ich bei meinem Lektüreversuch zuwenig Vertrauen darin gefaßt, daß sich hinter dem Wort- und Zitategeschwurbel ein handfester Sinn verbirgt, um die Mühe der genaueren Rekonstruktion auf mich nehmen zu wollen.
Ein Lichtblick
Im Gedächtnis bleibt mir schließlich besonders der Beitrag »Ich will kein Geist in der Flasche sein«, weil Susannah Haas darin zum Vergleich von ihrer eigenen, glücklichen Situation erzählt.
Ich bin in dieser Position, weil Menschen Verantwortung für meine Situation übernommen haben. […] Mir wurde genügend Raum gegeben, zu einem sehr frühen Zeitpunkt in meinem Studium meine eigenen Interessen zu verfolgen, meine Begabungen einzusetzen und selbstständig zu arbeiten […]. Das war durchaus nicht so, weil es den Gepflogenheiten der wissenschaftlichen Initiation entspricht, sondern weil sich jemand Gedanken darüber gemacht hat, wie ich mich wohl fühlen könnte.
Daß diejenigen, die Macht über uns ausüben, dabei häufiger auch Verantwortung für unser Wohlbefinden übernehmen mögen, wünsche ich uns allen.
Kommentare (1)