Retrovirale Oberflächenproteine, deren Gene vor mehreren Millionen Jahren durch Infektionen übertragen wurden, sind essentiell für den funktionsfähigen Stoffaustausch über die Plazenta zwischen Mutter und Fötus. Diese Art der Genübertragung gleicht den heute verwendeten viralen Vektoren die für potentielle Gentherapieanwendungen entwickelt werden.
Ein Hauptmerkmal der Säugetiere, zu denen wir als Menschen zählen, ist die verlängerte Verweildauer des Embryos im mütterlichen Körper, wozu es der Gebärmutter und der darin gebildeten Plazenta bedarf. Dies ist ein hochspezialisiertes Gewebe, welches aus Zellen des heranreifenden Embryos sowie Zellen der mütterlichen Uteruswand gebildet wird. Die Plazenta übernimmt die Versorgung des Fötus mit Nährstoffen und Sauerstoff, schirmt ihn aber ebenfalls höchst wirksam gegen potentielle Pathogene und Giftstoffe der Mutter ab. Um diese beiden Aufgaben effektiv zu bewerkstelligen weist die Grenzschicht zwischen Mutter und Embryo eine hochkomplexe Struktur auf, die genug Schutz des empfindlichen Fötus bietet aber gleichzeitig genug Nährstoffe und Sauerstoff durchlässt, um dessen Entwicklung nicht zu beeinträchtigen.
Bei der Untersuchung der verschiedenen Plazentatiere (höhere Säugetieren (Eutheria) und manchen Beutelsäugern (Metatheria)) wurden unterschiedliche Plazentastrukturen entdeckt, was unterschiedliche Entstehungsprozesse nahelegt. In den höheren Säugetieren wird zwischen drei verschiedenen Plazentatypen unterschieden, den epitheliochorialen, endotheliochorialen und hemochorialen. Wobei es bei den ersten beiden zu einem einfacheren Gegenüberstehen der embryonalen und mütterlichen Gewebegrenzschichten kommt, hingegen bei der letzten Version, die embryonalen Grenzschichten invasiv in die Blutgefäße der Mutter vordringen, um dort den Stoffaustausch zu gewährleisten. Wir Menschen gehören zu den hemochorialen Plazentatieren.
In den letzten Jahren hat sich herausgestellt, dass ein endogenes Retrovirusprotein, das Syncytin, maßgeblich an der Ausbildung dieser plazentalen Grenzschicht beteiligt ist. Dabei werden wahrscheinlich Eigenschaften zweckentfremdet, die diesem ehemaligen retroviralen Oberflächenprotein und seinem umhüllten Viruspartikel die Infektion neuer Wirtszellen ermöglichte.
Retroviren sind eine große Familie bestehend aus (ss(+)-RNA) -Viren, deren Erbinformation aus einzelsträngiger Ribonukleinsäure (RNA) besteht. Dementsprechend benötigen sie eine reverse Transkription, die das RNA-Genom in DNA umschreibt, dies spiegelt sich auch im Namen „Retro” wieder. Auch das HI-Virus gehört als Lentivirus in diese Familie. Das virale DNA-Genom wird dann stabil ins Genom der Wirtszelle integriert und verbleibt dort um als Matritze für die Neubildung von Nachkommenviren zu dienen. Findet diese Integration in einer Keimbahnzelle, also einer Zelle oder deren Vorläufer, die zur Embryoentstehung dient statt, wird das retrovirale Gen-Element weitervererbt und besteht fortan als endogenes Retrovirus. Dies ist ein überaus häufiges Ereignis, denn das menschliche Genom besteht zu mindestens 8% aus endogenen retroviralen Elementen, die sich in verschiedenen Stadien der „Fossilisierung” befinden. Bei der Integration eines solchen Elementes kann es zur Zerstörung eines essentiellen Gens der Wirtszelle kommen und damit zu einem Stopp der Weitervererbung. Ist dies nicht der Fall führen Mutationen im Lauf der Zeit zu einer Fossiliserung, also zu Veränderungen der DNA und zum Verlust der kodierten Information. Dies wiederum kann verhindert werden, wenn ein retrovirales Gen eine neue Funktion übernimmt und damit essentiell wird. In diesem Fall führen Mutationen zu selektivem Druck und werden aussortiert. Ein Beispiel für ein essentiell gewordenes retrovirales Protein ist das Syncytin. Einstmals ein Oberflächenprotein eines Retrovirus vermittelte es dessen Infektiosität und Fusion mit der Wirtszelle. Im Lauf der Zeit wurde diesem viralen Protein eine neue Aufgabe zuteil, nämlich die Vermittlung des Zell-Zell-Kontaktes zwischen Plazenta und Uterusgewebe. Dabei greift das Protein auf seine ursprüngliche Eigenschaft der Vermittlung einer Zellmembranfusion zurück, die es im Kontext des Retrovirus ausübte. Diese Eigenschaft ist essentiell für die Entwicklung des Embryos, wie Funktionsverluststudien in Mäusen und Schafen zeigten. Außerdem wurde die Eigenschaft des Syncytin, eine Infektion zu vermitteln erhalten, wie die Ausstattung eines nicht-infektiösen Viruspartikels mit Syncytin zeigte. Denn nach der Einbringung des Oberflächenproteins konnte das entstandene Virus erneut Zellen infizieren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt könnte eine immunsupprimierende Funktion dieser Proteinklasse in der Schwangerschaft sein. Viele Retrovirale Oberflächenproteine besitzen eine solche Funktion, um den Wirt davon abzuhalten der Virusinfektion mit der vollen Härte seines Immunsystems zu begegnen. Im Kontext der Syncytine könnte auch diese Eigenschaft eine neue Funktion erhalten haben. Denn eine Schwangerschaft ist mit einer Organtransplantation mit fremdem Gewebe vergleichbar, da der Embryo, mit einer Mischung aus paternalen und maternalen Oberflächenmerkmalen ausgestattet ist. Den paternalen Anteil erkennt das Immunsystem der Mutter dabei als fremd und versucht ihn abzustoßen, ähnlich wie es bei einem transplantierten Organ der Fall wäre. Im Kontext der Sycytine könnte diese Immunsuppression zur Toleranz des embryonalen Gewebes durch das mütterliche Immunsystem beitragen.
Dass eine solche Neuvergabe von Funktionalität eines retroviralen Oberflächenproteins mehrmals in der Entwicklung der Säugetiere stattgefunden hat lässt sich aus den verschiedenen vorkommenden Syncytin Proteinen ableiten. So besitzen die verschiedenen Ordnungen der Säugetiere verschiedene Syncytine, die zwar die gleiche Funktion ausüben, in ihrer DNA-Sequenz aber so verschieden sind, dass sie von unterschiedlichen Retroviren stammen müssen. Bisher wurden die Syncytine- 1 und -2 in Primaten und Hominiden entdeckt, und weitere rerovirale Oberflächengene mit plazentaler Lokalisierung in anderen Primaten. In Nagern kommen dagegen Syncytin-A und -B. Nun wurde ein weiterer Vertreter, das Syncytin-Car1, in Fleischfressern entdeckt und gezeigt, dass dieses zwischen Katzen, Hunden und Bären geteilt wird. Dementsprechend lässt sich ein Alter dieser Retrovirusintegration ableiten, da sich die Evolutionszweige dieser Vertreter der Fleischfresser vor ca. 60 Millionen Jahren trennten. Die humanen Syncytine scheinen dagegen zwischen 40 und 25 Millionen Jahren alt zu sein.
Diese Geschichte zeigt eindrucksvoll, in welchem Maße die Evolution kreativ vorgeht (ich weiß: in der Natur gibt es keine Teleologie!). Aber die Integration und Zweckentfremdung dieser retroviralen Proteine für die Entwicklung einer höchst effektiven Methode dem Nachwuchs einen Überlebensvorteil zu verschaffen, ist doch ein großartiges Beispiel für die Möglichkeiten einer durch Auslese und Fitness getriebenen Evolution.
Cornelis, G., Heidmann, O., Bernard-Stoecklin, S., Reynaud, K., Veron, G., Mulot, B., Dupressoir, A., & Heidmann, T. (2012). PNAS Plus: Ancestral capture of syncytin-Car1, a fusogenic endogenous retroviral envelope gene involved in placentation and conserved in Carnivora Proceedings of the National Academy of Sciences DOI: 10.1073/pnas.1115346109
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