Wie gefährlich ist tatsächlich die Konzentration von „Bisphenol-A” in Babysaugern? Was weiß man wirklich darüber, wann Vulkanasche für Flugzeugtriebwerke gefährlich wird? Welche Evidenzen haben wir dafür, dass Spekulanten auf dem Finanzmarkt die Währungskrise in der EU wirklich mit angeheizt waren – und nicht bloß „Überbringer schlechter Nachrichten” waren, durch die das Ausmaß staatlicher Misswirtschaft in den EU-Ländern erst so dramatisch sichtbar wurde?

Die ehrliche Antwort auf viele solcher Fragen lautet: Wir wissen es nicht. Dennoch sollte der Verweis auf existenzielle Unsicherheit keine Entschuldigung dafür sein, verfügbares Wissen schlicht nicht zur Kenntnis zu nehmen. Nicht wissen, das heißt nämlich oft auch: Vorhandene Informationen werden nicht genutzt, weil sie einfach zu verstreut sind. Selbst Experten haben oftmals Mühe, auch nur einigermaßen den Überblick zu behalten. Umso mehr gilt dies für die breitere Öffentlichkeit. Um im Diskurse über gesellschaftliche und politische Themen mit wissenschaftlichem Hintergrund trotz aller Komplexität überschaubar und zugänglich zu machen, arbeitet das innokomm-Projekt „DEBATE 2.0″ (Laufzeit: 2010-2012) an einem neuen Format moderierter und visualisierter Online-Debatten. Dabei werden Forscher, Journalisten und politische Interessengruppen gezielt angesprochen und zur Teilnahme eingeladen. Indem die Darstellung auch kontroverse Standpunkte zulässt und abbildet, wird nicht nur der aktuelle Erkenntnisstand deutlich, sondern auch der ganze „Trial-and-Error”-Prozess des „Wissenschaffens” wird strukturiert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Neben den ‚offiziellen’ Experten hat im Grunde genommen jedermann die Möglichkeit, Argumente und Evidenzen einzubringen.


DEBATE 2.0 arbeitet mit neuen Techniken der Online-Deliberation. Gemeinsames Ziel dieser Techniken, die von internationalen Projektpartnern entwickelt werden, ist es, bekannte und empirisch belegte Formen diskursiven Fehlverhaltens in Online-Diskussionen zu beheben. Seitens DEBATE 2.0 gilt es, empirisch zu untersuchen, wie sich, abhängig von konkreten Kontexten, bestimmte Eigenschaften und Voreinstellungen von Online-Deliberations-Technologien auf gewünschte Resultate auswirken. Bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse hierüber sind vergleichsweise verstreut und werden in einem interdisziplinären Ansatz zusammengeführt. Ein erster Schritt in diese Richtung wird es sein, die technischen Unterschiede verfügbarer Software-Werkzeuge (s.u.) systematisch auf ihre Eignung für verschiedenen Usecases hin zu analysieren.

In einem zweiten Schritt werden neue Methoden und redaktionelle Formate für öffentliche Diskurse über Wissenschaft, Technologie und Innovation entwickelt und getestet. Dabei werden etablierte Methoden für Kooperationsmanagement und Gruppenmoderation übertragen auf den Bereich der Online-Deliberation. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass dieser neuartige Diskurs qualifizierte Moderatoren braucht, die in erster Linie über journalistische Qualifikationen verfügen müssen.
Die anschließende Umsetzung der erarbeiteten Methoden ist Bestandteil des Projekts. Da die Einbindung von Wissenschaftlern, Journalisten und politische Interessensgruppen eine tragende Säule des Projektes darstellt, ist für eine erfolgreiche Umsetzung die umfassende Unterstützung seitens der Politik und der Wissenschaftsorganisatoren unabdingbar.

Die Vision dieses Projekts, an der wir gemeinsam mit etlichen Forschungspartnern arbeiten, hat jüngst Mark Klein (Principal Research Scientist am MIT Center for Collective Intelligence) sehr treffend beschrieben: „Today, governmental policy-making is complex, cumbersome, and slow. Experts can talk past each other, while experts and policy-makers have unproductive conversations. News media summaries are necessarily incomplete […] Imagine […] a new kind of on-line forum […], used around the world, by […] experts, policy analysts, legislators, and concerned citizens.

Anlässlich der EU-Konferenz “Media for Science” im Mai wurde das Projekt erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt und experimentell demonstriert. Vor wenigen Tagen durfte ich das Projekt im Rahmen eines Expertenkreises des Weltwirtschaftsforums in Stanford präsentieren (Folien siehe hier).

Die nächste Generation von Wissenschafts- und Technikdebatten ist also im Kommen. Ich denke, sie birgt die Chance, etwas zu entwickeln, was die Amerikaner hier „Scientific Citizenship” nennen. Was meinen Sie, was meint ihr?

Kommentare (13)

  1. #1 Silentjay
    12. Juni 2010

    Bezüglich Bisphenol A, bin ich heute, eher zufällig, auf die Broschüre des Umweltbundesamts zu dem Thema gestoßen. Stand 31.Mai 2010, also fast ‘druckfrisch’.

    https://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/3782.pdf

  2. #2 Alexander Gerber
    12. Juni 2010

    Danke für den Hinweis. Spannend.
    Ist natürlich nur ein Beispiel. Aber auch hier zeigt sich: Wie können nun halbwegs aufgeklärte Öffenlichkeiten von solchen Dokumenten erfahren, wer bereitet sie öffentlich auf, wer zeigt Gegenpositionen auf — wo kann ich sozusagen als Jedemann in-depth gehen. Dafür brauchen wir neue Formen des Diskurses — Debate 2.0 eben.
    ;-))

    –Alex

  3. #3 Sven Türpe
    14. Juni 2010

    Reale gesellschaftliche Debatten werden sich aber keiner zentralen Moderation unterwerfen, sondern weiter ungesteuert im öffentlichen Raum stattfinden und dort ihre Eigendynamik entfalten. Was wir Debatte nennen, ist ja in Wirklichkeit eher ein großes Palaver, an dem sich jeder beteiligen kann, indem er nur seine Stimme erhebt. Dass der politische Interessenträger mit vorgefasster Meinung dabei auch mal lauter schreit als der Wissenschaftler, der eigentlich lieber arbeiten möchte, liegt in der Natur der Sache.

    Interessant fände ich deshalb so etwas wie eine Bedrohungsmodellierung für die entwickelten Ansätze: Stellen wir uns alles unter Alltagsbedingungen vor, wo gestresste Journalisten nach wie vor rechtzeitig zum Redaktionsschluss Statements von gestressten Wissenschaftlern eingesammelt haben müssen. Stellen wir uns weiter eine realistische Population von Interessenträgern vor, also von Firmen, Politikern, auch Forschungseinrichtungen, deren Öffentlichkeitsarbeit ebenfalls nicht nur ein Dienst an der Gesellschaft ist. Was würde dann ein PR-Berater den verschiedenen Beteiligten empfehlen, wie sie mit der Debatte 2.0 umzugehen hätten? Und was käme heraus, wenn sich alle an ihre jeweiligen Empfehlungen hielten?

  4. #4 Ralf Grötker
    15. Juni 2010

    Eine Antwort auf die “Bedrohungsszenarien” (s.o., Sven Türpe): Damit, dass verschiedene Akteure sich für ihre Interessen stark machen, sollten wir klarkommen – daraufhin ist das Debattenkonzept schließlich ausgerichtet.

    Ich sehe wichtige Punkte sehe ich: Einmal der Hinweis auf die Situation, wo “gestresste Journalisten rechtzeitig zum Redaktionsschluss Statements von gestressten Wissenschaftlern eingesammelt haben müssen.” Hier sollten wir bei der Entwicklung unserer Debattenseite darauf achten, dass Zitate-einsammeln zwar möglich ist, aber dass zu jedem Zitat immer auch die Gegenposition ersichtlich wird. Das würde die Chance auf eine Berichterstattung, die verschiedene Seiten einer Debatte zum Zuge kommen lässt oder die eine Position im Kontext verortet, erhöhen.

    Ansonsten wird die Herausforderung eher darin bestehen, überhaupt die relevanten Stakeholder dazu zu bewegen, mitzumachen. Wie weit werden Interessensgruppen bereit sein, auf das eigene Framing einer Debatte zu verzichten und sich an einer Pro/Contra Darstellung beteiligen? (Ein paar Antworten auf diese Frage haben wir – interessant wird es werden, wenn es darum geht, diese auszutesten.)

  5. #5 Alexander Gerber
    16. Juni 2010

    In der Tat geht es bei zukünftigen Debatten dieser Art sicherlich nicht zuletzt auch um eine neue Möglichkeit für WIssenchaftsjournalisten, ihre unabhängigen Recherchefähigkeiten einzubringen — sprich um so etwas wie ein neues Tätigkeitsfeld, was ja angesichts schrumpfender Honorare und reduzierter redaktioneller Stellen (siehe https://wk-trends.de) nur helfen kann… ;-)

  6. #6 fatmike182
    19. Juni 2010

    ein Punkt der mir in der Debatte abgeht ist die Entscheidung wie aufgrund von Ergebnissen, oder dem Fehlen derer, gehandelt wird.
    Während Medikamente aufgrund diverser Rückschläge in der Branche (Thalidomid aka Contergan als bestes Bsp) gut für den Markt gerüstet sind, fehlt dieses Argument bei der Telekommunikationsdebatte, sowie bei den GM-Debatten – aber auch bei der Verwendung von Chemikalien wie BPA.

    Restrisiken, die es aus wissenschaftstheoretischer Sicht geben muss (da undogmatisch) werden von div Interessensgruppen (die dann aber lieber NGOs als Lobbying-gruppen genannt werden wollen) aufgegriffen um Technophobie zu schüren. Und da man ja nur eine arme NGO ist, kann man immer noch das Pöhse-Konzerne-Argument draufpacken.

    Ein seriöser Dialog ist so schlichtweg unmöglich da es nur wenige Situationen geben wird, in der alle Dialogpartner im öffentlichen Licht finanziell unbefangen sind & tatsächlich an Aufkärung interessiert.

  7. #7 Sven Türpe
    19. Juni 2010

    Ein seriöser Dialog ist so schlichtweg unmöglich da es nur wenige Situationen geben wird, in der alle Dialogpartner im öffentlichen Licht finanziell unbefangen sind & tatsächlich an Aufkärung interessiert.

    Funktionsfähige gesellschaftliche Systeme verlangen nicht Wohlverhalten aller Beteiligten, sondern lenken Eigennutz und Fehlerhaftigkeit in konstruktive Bahnen. Soll heißen, statt sich die Lobbygruppen wegzuwünschen, überlegt man sich besser, wie man sinnvoll mit ihnen umgeht, so dass ein Wettstreit der Ansichten — auch der irrationalen — stattfindet und mit einer akzeptablen Wahrscheinlichkeit zu einem brauchbaren Ergebnis führt. Ich gehe so weit zu behaupten, dass auch irrationale und idiotische Ansichten in öffentlichen Debatten artikuliert werden sollen, wenn diese Ansichten in der Bevölkerung vorkommen. Und das auch nicht nur als Feigenblatt, sondern tatsächlich als Beitrag, wenn auch als einer, der unter rational wertenden Menschen nur geringe Chancen auf Akzeptanz hat. Wenn meine Wahrheit so wahr ist, wie ich meine, muss ich mich vor Spinnern ja nicht fürchten. ;-)

  8. #8 Alexander Gerber
    23. Juni 2010

    @ fatmike182:

    Es sind genau diese

    Restrisiken,

    die meiner Meinung nach durch zukünftige moderierte Wissenschaftsdebatten gemäß ihrer tatsächlichen Bedeutung _eingeordnet_ werden können, sprich dass kein Aspekt überzeichnet oder unterbelichtet wird — weder Euphorie noch Technophobie.

    Gerade deshalb ist ein

    seriöser Dialog

    erstmals auch wirklich denkbar, denn, ob die Stakeholder

    tatsächlich an Aufkärung interessiert sind,

    ist letztlich irrelevant, sofern diese Debatten neutral moderiert, strukturiert und aktiv begleitet werden — etwa durch Ansprache von Vertretern möglicher Gegenpositionen. Dies ist aus unserer sich die “new line of action for science journalists” — ein komplett neues Betätigungsfeld, das sich da für den wirtschaftlichen gebeutelten Berufsstand auftut! ;-)

  9. #9 Alexander Gerber
    23. Juni 2010

    @ Sven Türpe:
    Genau dies ist auch aus meiner Sicht der springend Punkt:

    Funktionsfähige gesellschaftliche Systeme verlangen nicht Wohlverhalten aller Beteiligten, sondern lenken Eigennutz und Fehlerhaftigkeit in konstruktive Bahnen.

    Der von Ihnen erwähnte

    Wettstreit der Ansichten

    ist exakt, was wir in punkto Innovationskommunikation fordern, nämlich eine transparente und frühzeitige Einbeziehung aller Beteiligten, allerdings (und das ist aus meiner Sicht entscheidend — s.o.) auf neutraler Plattform!

  10. #10 fatmike182
    24. Juni 2010

    @ Alexander Gerber
    was auch immer funktionsfähige gesellschaftliche Systeme ausmacht (gehört Ratio dazu? sind Pseudowissenschaften Teil dieser, oder sind die vernunftbasiert ausgeschlossen?)… die Gesellschaft scheint nicht auf unserer Seite zu stehen: EU Umfrage bei Guardian Science bzw der gleiche Artikel regionalspezifisch bei orf.at.

    Es ist kein reiner Ansichts-wettstreit, sondern einer finanzieller Interessen (dass finanzielle Interessen über Generationen nur Ansichten sind ist mir bewusst, allerdings läuft der Alchemie vs Wissenschafts-konflikt schon zu lange, dass ich an einen optimistischen Wandel denken kann)

    Man kann auch nicht leugnen, dass Wissenschaft drittmittelgefördert ist – aber das soll keine Schande sein. Einige wenige Großkonzerne (BP & Chemikalienfirma, Monsanto, …) haben dafür gesorgt, dass das Argument “firmenfinanzierte Studien” ident ist mit gekauft, korrupt, falsch.
    Der Bevölkerung ist nicht zuzumuten, Studiensysteme zu kennen. Daran scheitern ja schon Ärzte häufig! Das Kuriosum ist dann augenscheinlich, wenn Leute ihre Handys & GPS verwenden & trotzdem schimpfen, dass man Wissenschaft nicht trauen kann. MMn sollte man aber wirklich bei dem Argument anfangen: es gibt Kontrollmechanismen, es gibt Verblindungen & die Realität bestätigt: Wissenschaft funktioniert!

  11. #11 Alexander Gerber
    27. Juni 2010

    Der Bevölkerung ist nicht zuzumuten, Studiensysteme zu kennen…

    Nun, da wäre ich nicht so dagegen. Ich bin davon überzeugt, dass erst durch mehr gesellschaftliches Wissen über die Art und Weise, wie Wissen und Wertschöpfung entstehen, so etwas wie Vertrauen entstehen kann. Pläderiere deshalb immer dafür, auch das “Science inthe Making” zu zeigen, das “failing forward” wie die Amis sagen.

    Grundsätzlich geht es dabei natürlich um Transparenz, auch der wissenschaftlichen Systeme selbst. Dass ich mich von Fraunhoferseite für die volkswirtschaftliche Bedeutung von “Drittmittelforschung” stark mache, wie Sie es nennen, also für den Innovations-Impact von Auftragsforschung, düfte kaum überraschen. In der Tat wird dieses Instrumentatium aber auch missbraucht, da haben Sie leider Recht. Schwarze Schafe gibt es halt überall… ;-)

  12. #12 Alexander Gerber
    20. Juli 2010

    Neuer Blogpost zu Wissenschaftsdebatten von Wolfgang Goede (P.M.) bei der TELI:
    https://teli.de/blog/wp-trackback.php?p=797

    Vom ESOF-Workshop zu Wissenschaftsdebatten gibt es auch ein Video!
    https://nubes.esof2010.org/stored?vid=196

  13. #13 Alexander Gerber
    22. August 2010

    In diesem Kontext noch ein Linktipp: Wolfgang Goede fasst in seinem P.M.-Blog die Wissenschaftsdebatte in Deutschland zusammen und geht dabei auch auf den ESOF-Workshop in Turin ein:

    https://blogs.pm-magazin.de/openscience/stories/51445/

    https://blogs.pm-magazin.de/openscience/stories/51445/modTrackback

    –Alex