Ich habe ein neues Hobby entdeckt: Bundestagsabgeordnete nach den Gründen für ihr Abstimmungsverhalten zu fragen.
Vorausgegangen war die Debatte zum Forschungsverbot an embryonalen Stammzelllinien in Deutschland. Es gab bei der Abstimmung keinen Fraktionszwang, die Abgeordneten konnten also frei nach Ihrem Gewissen, Wissen und Halbwissen abstimmen. Bekanntlich wurde einem Antrag zugestimmt, nach dem es jetzt erlaubt ist, Stammzelllinien einzuführen, wenn sie bis Mai 2007 hergestellt wurden. Der Stichtag wurde von 2002 um fünf Jahre verschoben.
Ich habe mir das Abstimmungsergebnis mal genauer angesehen und nach Parteien sortiert hier in Abbildung 1 dargestellt. Die Aufhebung des Fraktionszwangs hat keineswegs zu einem ausgeglichenen Abstimmungsverhalten geführt. Drei Gruppen können unterschieden werden:
1. Die forschungsfreundliche Gruppe, bestehend aus FDP und SPD, mit einer klaren Überzahl der Befürworter der Verschiebung des Stichtags.
2. Die konservative, forschunsskeptische Gruppe, bestehend aus CDU, CSU, und den Linken, mit jeweils etwa ausgeglichenem Verhältnis von Befürwortern und Gegnern der Stichtagsverschiebung. Und schließlich
3. die fundamentalistischen Forschungsgegner. Hier in Form der Grünen, mit fast 100% Ablehnung des Antrags zur Verschiebung.
Abbildung 1: Abstimmungsverhalten der Bundestagsabgeordneten nach Partei. Blau: Für eine Verschiebung des Stichtags. Rot: Dagegen. Daten aus abgeordnetenwatch.
Da die Grünen jetzt ja nicht das “C” im Namen tragen, müssen wohl noch andere Gründe außer den hier im Blog hinreichend ausgeführten und ethisch motivierten für die Ablehnung der Forschung an embryonalen Stammzellen verantwortlich sein.
Ich habe mir also mal auf abgeordnetenwatch.de angeschaut, wer denn für die GRÜNEN da eigentlich im Bundestag sitzt und seine Stimme abgeben darf, und wer durch seinen beruflichen Hintergrund eigentlich von sich behaupten könnte, selbst die wissenschaftlichen Argumente in der Debatte beurteilen zu können.
Zwei Abgeordnete habe ich angeschrieben. An Dr. Anton Hofreiter (promovierter Biologe) und Dr. Harald Terpe (Mediziner) ging folgende Anfrage:
Sehr geehrter Herr Dr. Terpe/ Hofreiter,
Sie haben bei der Abstimmung zur Änderung der Stammzellgesetzgebung gegen den eingebrachten Antrag zur Verschiebung des Stichtags für den Import embryonaler Stammzelllinien gestimmt.
Sie sind ja promovierter Mediziner/ Biologe, und haben sicher eine qualifizierte Meinung zu dem Thema. Könnten Sie mir bitte erklären, was die Hintergründe für Ihr Abstimmungsverhalten sind?Mit freundlichen Grüßen
Dr. Harald Terpe hat geantwortet. Die volle Antwort kann hier nachgelesen werden.
Harald Terpe meint, es bestünde keine Notwendigkeit zur Verschiebung des Stichtags, da keine neuen wissenschaftlichen, rechtlichen und ethischen Argumente vorgebracht wurden, die eine Verschiebung veranlassen würden. Er verweist auf fälschlich geschürte Hoffnung auf Therapien und die Tatsache, dass sich die Forschung immer noch im Stadium der Grundlagenforschung befindet.
Richtig. Grundlagenforschung. Nur: ohne diese wird es leider nie zu den angemahnten Therapien kommen.
Wissenschaftliche Argumente? Ich habe hier in Abbildung 2 die Anzahl der Publikationen weltweit über menschliche embryonale Stammzellen pro Jahr aufgetragen. Zweierlei wird deutlich. Erstens die fast schon exponentielle Zuwachsrate an Publikationen über die letzten Jahre. Wollen wir uns erlauben, daran in Deutschland nur eingeschränkt zu partizipieren? Und zweitens, über 80% aller Publikationen zu menschlichen embryonalen Stammzellen wurden seit 2002, dem Datum des ersten Stichtags, publiziert. Will Harald Terpe wirklich behaupten, dass es seit 2002 in 2862 Publikationen keine neuen wissenschaftlichen Argumente gäbe?
Abbildung 2: Publikationen zu menschlichen embryonalen Stammzellen. Y-Achse: Anzahl der jährlichen Publikationen X-Achse: Jahre. Daten via GoPubMed.
Er hebt in den weiteren Absätzen die Vorteile adulter Stammzellen hervor und schreibt, dass es falsch sei zu suggerieren, dass zur Entwicklung von Therapien mit adulten Stammzellen die Forschung an embryonalen Stammzellen nötig sei.
Die Nachteile der adulten Stammzellen sind vielleicht nicht jedem bekannt. Hierzu ein Auszug eine Pressemitteilung der Max-Planck-Gesellschaft: Hoffnungsträger adulte Stammzellen vom Februar 2008:
Das größte Problem ist, wie schon erwähnt, die Gewinnbarkeit adulter Stammzellen. Solange sie nicht in ausreichender Menge vorliegen, ist auch kein therapeutischer Einsatz denkbar. Realistisch betrachtet stehen derzeit nur Knochenmarks- bzw. Blutstammzellen als Ausgangsmaterial zur Verfügung. Hier stellt nun aber die eingeschränkte Plastizität die eigentliche Hürde dar, also das Potenzial dieser Zellen, sich in verschiedenste Gewebezelltypen zu differenzieren. Es ist eben nach wie vor umstritten, wie weit diese Plastizität reicht.
Die einzigen Zellen mit voller Plastizität, also Pluripotenz, sind eben embryonale Stammzellen. Und um die Plastizität und die komplizierten Wege der Ausdifferenzierung von Stammzellen in einzelne Zelltypen zu verstehen, geht meiner Meinung nach kein Weg an der Forschung an embryonalen Stammzellen vorbei. Da embryonale Stammzellen auch ungleich teilungsfähiger sind als die adulten, könnte so auch der Gewinnbarkeit einzelner Zelltypen Sorge getragen werden.
Ein weiterer Punkt des Abgeordneten Dr. Terpe: In anderen europäischen Ländern gäbe es ebenfalls eine restriktive Gesetzgebung zur Forschung an embryonalen Stammzellen.
Richtig.Wenn wir uns mit Irland, Polen, Malta, der Slowakei und Litauen messen wollen stimmt das. Dort ist die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen ganz verboten. Italien hat noch eine ähnlich strikte Gesetzgebung wie Deutschland.
Der europäische Vergleich zeigt aber auch, dass in anderen Ländern, teils mit bedeutender biomedizinischer Forschungsinfrastruktur, also in Frankreich, Dänemark den Niederlanden, Griechenland, Großbritannien, Belgien, Schweden, Finnland, Tschechien, Portugal, Spanien und Israel mindestens die Gewinnung embryonaler Stammzellen aus überzähligen Embryonen (von künstlichen Befruchtungen) möglich ist, wenn nicht gar die gezielte Herstellung von Embryonen zur Gewinnung von Stammzelllinien.
Von Dr. Anton Hofreiter, dem zweiten angeschriebenen Abgeordneten, erwarte ich noch eine Antwort. Ich hoffe er findet dazu Zeit.
Übrigens, die einzige Abgeordnete der Grünen, die für eine Verschiebung des Stichtags gestimmt hat ist Dr. Ursula Eid aus Nürtingen. Ob das vielleicht ein Versehen war? Ich glaube nicht. Ursula Eid äußert sich auf ihrem abgeordnetenwatch.de Profil fundiert zur “ohne Gentechnik” Kennzeichnung von Lebensmitteln und zur grünen Gentechnik.
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