Seit der ersten PISA-Studie 2000 ist Bildung prominent auf der politischen Agenda. Ein paar Unis werden mit einem “Elite-Label” geadelt, und der warme Geldregen scheint sofort zu versickern. Die Bologna-Reformen führen zu einer Restrukturierung etablierter Studiengänge. Bessere Bildung oder nur spezifischere Ausbildung? Die Uni Freiburg erlässt Hochbegabten die Studiengebühren. Ist das effektive Elitenförderung oder nicht mehr als ein halblegaler Marketinggag?
WeiterGen hat sich mit Eliten- und Hochbegabtenförderung beschäftigt. Hier ein Interview mit Ulf Kaschl, Lehrer und Mentor am Landesgymnasium für Hochbegabte (LGH) in Schwäbisch Gmünd (Baden Württemberg).
Wie werden hochbegabte Kinder und Jugendliche in Deutschland gefördert?
WG: Ulf, In Deutschland scheint man mittlerweile begriffen zu haben, dass Eliten nichts Anrüchiges haben, und Hochbegabte gefördert gehören. Du bist Lehrer und Mentor an einer der wenigen staatlichen Schulen für Hochbegabte in Deutschland. Was unterscheidet eure Schule von einem regulären Gymnasium?
UK: Zunächst einmal die Tatsache, dass alle Schüler eine nachgewiesene Hochbegabung besitzen – die beginnt per Definition ab einem IQ-Wert von 130, das heisst jenseits der zweiten Standardabweichung vom Mittelwert 100. Somit sind etwa 2 % der Bevölkerung als hochbegabt anzusehen.
In unser Bewerbungsverfahren wird aufgenommen, wer einen IQ-Wert von über 120 nachweisen kann, da wir von einer gewissen Unschärfe der Tests ausgehen müssen, und tagesformabhängige Leistungsschwankungen berücksichtigen. In der Form orientiert sich unser Internat an den Campus-Modellen angelsächsischer Bildungseinrichtungen, dort hat man ja eine viel längere Tradition der Internatsschulen als in Deutschland. Hierzulande werden Internate oft nur von extrem Privilegierten genutzt oder zum Beispiel für schwererziehbare Kinder eingerichtet.
Als Folge ergibt sich eine Philosophie des „gemeinsamen Lebens und Lernens” – alle Lehrer arbeiten auch im Internat, die meisten wohnen mit auf dem Campus. Aus dieser Nähe ergibt sich einerseits eine Verschmelzung von Unterricht und Privatem (ich kann nicht mehr zählen, wie viele Bildungsinhalte bei mir zu Hause auf dem Sofa oder mal eben auf dem Weg von der Mensa zum Internat durchdiskutiert wurden) andererseits kann ich als Lehrer die Leistungsfähigkeit meiner Schüler sehr genau einschätzen, da ich sie in vielen Situationen kenne lerne, die im normalen Schulalltag völlig ausgespart würden.
WG: Gibt es weitere Unterschiede?
UK: Rein technisch unterscheiden wir uns auch im Curriculum: Fundamente unserer Hochbegabtenförderung bilden „Acceleration” und „Enrichment”, d.h. wir unterrichten den regulären Stoff in verkürzter Zeit (etwa 2/3 der Unterrichtsstunden) und gewinnen dadurch Stunden für Angebote, die man in normalen Schulen nicht oder nur selten findet: Creative Writing, Quantenphänomene, Molekularbiologie, Chinesisch, Arabisch, Hebräisch, Mathe-Spitzenförderung, Debating, Klettern, Fechten, Baseball, und so weiter. Diese sogenannten ‚Addita’ finden am Nachmittag statt und stellen meiner Erfahrung nach eine wesentliche Attraktion für unsere Schüler dar, da sie inhaltlich oft weit über normale AGs anderer Schulen hinausgehen.
WG: Wie wird das Internat in der Öffentlichkeit wahrgenommen?
UK: In Schwäbisch Gmünd selber schwankt die Wahrnehmung zwischen „der Streberschule, die uns das Geld für die anderen Gymnasien wegnimmt” und „unseren Käpselen” auf die man stolz ist, wenn es sie in Fernsehen und Zeitung zu bestaunen gilt. Generell sind die Berührungsängste noch sehr groß, trotz vielfacher Bemühungen, uns ins Stadtbild zu integrieren. Zum ersten Punkt kann man nur immer wieder betonen, dass es die Stadt Schwäbisch Gmünd nicht mehr Geld kostet, uns zu unterhalten, als die anderen Gymnasien, da die meisten Gelder vom Land kommen. Dass die allgemeine finanzielle Lage des Bildungssektors gerade im Ostalbkreis katastrophal ist, bleibt allerdings traurige Tatsache. Davon bleiben auch wir nicht verschont – trotz vollmundiger Versprechungen warten wir nun schon im fünften Jahr auf eine eigene Turnhalle und haben gerade erst unseren Freizeitbereich halbwegs in Betrieb nehmen können – für ein Internat natürlich eine Zumutung.
Geht man über Gmünd hinaus, so stoße ich überall in Gesprächen und bei Fortbildungen auf interessierte Menschen, die sich mehrheitlich positiv zu der Idee einer speziellen Förderung hochbegabter Schüler äußern.
WG: Ist Hochbegabung einfach mit einem hohen IQ gleichzusetzen?
UK: Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Definition: eine leistungsbezogene, und eine, die das Potential zur Leistung anerkennt. Im ersten Fall ergibt sich aus einer hohen Problemlösungsfähigkeit und einer hohen Motivation sowie günstigen Rahmenbedingungen (wie z.B. ein sozial intaktes, förderndes Elternhaus und gute Lehrer) eine besonders gute Leistung, z. B. in Schulnoten oder bei Wettbewerben etc.
Im zweiten Fall bezieht man sich nur auf das Potential zur Erbringung einer Leistung, das heißt letztlich auf eine hohe Intelligenz. Wie bereits erwähnt, legt man hier gemeinhin die Messlatte bei einem IQ von 130 an, d.h. in den Top 2 % der Bevölkerung. Diese Grenze ist natürlich willkürlich gesetzt.
Am LGH verfahren wir nach der Potenzialdefinition – dementsprechend sind unsere Schüler nicht nur in ihren Interessen und Charakteren, sondern auch in ihren Leistungen höchst heterogen. Wir haben also keineswegs nur Schüler, die ausschließlich gute Noten haben und hoch motiviert sind (sogenannte Hochleister), sondern auch mittelmäßige bis ganz schlechte Schüler. Wir nehmen auch Schüler aus Real- und Hauptschulen auf, alleinige Kriterien sind nachgewiesene Hochbegabung und Internatsfähigkeit.
WG: Was ist die Motivation der Schüler, sich bei euch zu bewerben?
UK: Der am meisten genannte Grund für eine Bewerbung am LGH ist der Wunsch nach Freunden und Gleichgesinnten. Auch wenn dies nicht ausschließlich der Fall ist, erleben doch viele hochbegabte Schüler sich an ihren Regelschulen als Außenseiter und sozial isolierte ‚freaks’, die bisweilen nicht nur von Schülern, sondern auch von Lehrern missverstanden werden, und teilweise auch Mobbing ausgesetzt sind. Das Zitat von Hermann Hesse „Ein Lehrer hat lieber zehn Esel in der Klasse, als ein Genie” trifft leider immer noch auf viele meiner Kollegen zu.
WG: Häufig ist also ein Leidensdruck gegeben?
UK: Nicht ausschließlich. Unsere Schule bietet herausragende Möglichkeiten der Förderung mit extracurriculären Angeboten, Wettbewerben und individueller Lernwegsbetreuung – jeder Schüler hat einen Mentor, der eine individuellen Weg durch die Schullaufbahn und teilweise darüber hinaus schneidert. Dadurch werden auch Schüler angezogen, die vielleicht in ihrer normalen Schule sozial ganz gut aufgehoben sind, aber nicht genügend intellektuelle Förderung erfahren.
Außerdem gibt es eine Gruppe von Schülern, bei denen man den Eindruck hat, dass sie in ihren Ansprüchen das Elternhaus schlicht überfordern – und ich sage nicht, dass dies schlechte Eltern seien. Hochbegabte brauchen extrem viel Zuwendung und intellektuelles ‚Futter’, ein hochbegabtes Kind zu haben, ist tatsächlich für viele Eltern eine untragbare Belastung – nicht nur, aber auch – weil es einfach noch zu wenige Fördermöglichkeiten in der Regelschule gibt.
Interessanterweise glauben fast alle Eltern, ein hochbegabtes Kind zu haben, sobald es in der Schule nicht klappt. Das ist natürlich Unsinn.
WG: Ist das Förderkonzept und sind die pädagogischen Methoden am LGH nur für hochbegabte Schüler anwendbar?
UK: Da die Grenze zur Hochbegabung natürlich eine willkürlich festgelegte ist, ist diese Frage hinfällig. Das LGH böte mit seinem Konzept sicher auch für normal begabte Schüler optimale Förderbedingungen und würde so manche Leistungssteigerung bewirken. Die Regierungen der Länder täten gut daran, mehr Geld in die Bildung zu investieren, und ihre Schulen mit vergleichbaren Möglichkeiten auszustatten.
Dass man es aber tatsächlich mit Hochbegabten zu tun hat (was man im Alltag gerne mal vergisst), merkt man dann aber doch in den Ergebnissen. Die Preisträger der Wettbewerbe häufen sich zu schier unüberblickbarer Vielfalt, ob bei Jugend forscht, Jugend musiziert, Mathewettbewerben und so weiter. Nur bei Sportwettbewerben schneiden wir durchweg schlecht ab, was natürlich ein althergebrachtes Klischee zu unterstützen scheint.
WG: Wie äußert sich die Hochbegabung der Schüler im Schulalltag?
UK: Das ist ganz unterschiedlich. Wir unterscheiden grob vier Typen. Da gibt es einmal den bereits erwähnten ‚Hochleister’, bei dem ‚Schule’ positiv besetzt ist, der fleißig und hoch motiviert lernt, und in allen Fächern Glanzleistungen erbringt. Darüber hinaus spielt er mehrere Instrumente auf hohem Niveau, verbringt seine Sommerferien auf Schülerakademien oder bei Forschungsprojekten oder mit sonstigen intellektuellen Herausforderungen.
Dann gibt es die „Spezialisten”, die auf einem Fachgebiet teilweise bereits universitäres Niveau erreichen, aber dafür an anderen Fächern nur mäßig interessiert sind. Solange es dort ohne Anstrengung für die „Drei” reicht, machen sie, außer für ihr Spezialgebiet, keinen Finger krumm.
Die „Minimalisten” hingegen haben überhaupt keine schulischen Interessen, sondern verbringen ihre Zeit mit Computer, Comics und Chaostheorie. Solange die Versetzung nicht gefährdet ist, bleibt Schule ein lauer Nebenjob. Den Extremfall hatten wir im ersten Abitur: der Schüler mit dem höchsten IQ brachte es fertig, die Grenzen der Abiturregelung so auszureizen, dass er mit der absoluten Mindestpunktzahl bestand. Ich glaube, er hat mehr Zeit damit verbracht, die Möglichkeiten dieser Minimaloption auszurechnen als er sich in seiner gesamten Schullaufbahn mit Mathehausaufgaben beschäftigt hat.
Schließlich gibt es die Gruppe der „Underachiever”, Schüler, die trotz nachgewiesenem Potential sehr schlechte Leistungen erbringen, und z.B. sehr stark vom Sitzenbleiben und anderem schulischem „Versagen” betroffen sind.
WG: Welcher dieser Schülertypen ist bei euch an der Schule am häufigsten repräsentiert?
UK: Auch wenn hochbegabte Schüler so bunt wie das Leben selbst sind, denke ich, dass alle vier Typen bei uns in ausgewogener Mischung vertreten sind. Natürlich sind alle unsere Schüler höchst individuelle Menschen, die man auch in ihren Leistungen nicht losgelöst von ihrer persönlichen Biografie betrachten kann und darf. Diese Typisierungen können ja nur grobe Vereinfachungen sein. Darüber hinaus sind es „ganz normale Teenager” mit all den Problemen und Problemchen, die diese haben, und die auf den ersten und oft auch zweiten Blick nicht von anderen Schülern zu unterscheiden sind. Als Erkennungsmerkmal ist allen höchstens eine ausgeprägte Leidenschaft zum Diskutieren gemein.
WG: Zum Abschluss noch eine Anekdote aus dem Internat?
UK: Ganz besonders ist mir der Morgen des Gründungstags in Erinnerung. Schüler und Lehrer hatten gemeinsam die erste Nacht auf dem neuen Campusgelände verbracht. Ich hatte schlecht geschlafen – schließlich war ich auf einmal Vaterersatz für zwölf hochbegabte pubertierende Jungs geworden. Ich ging zum Wecken um 6:30 Uhr in die Wohngruppe – die Hälfte der Schüler war bereits wach und spielte in Schlafanzügen Schach.
WG: Ulf Kaschl, vielen Dank für das Interview.
Kontakt:
https://www.lgh-gmuend.de/
info[ät]lgh-gmuend.de
Das Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd wurde 2004 gegründet und wird als Internat geführt. Derzeit gibt es sieben Klassen mit rund 150 Schülern. Es ist geplant, die Klassen 7-12 zweizügig auszubauen und bis zu 260 Schüler zu unterrichten. Beratung für Eltern und Schüler im Kompetenzzentrum des Landesgymnasiums. Lehrer bewerben sich direkt im Sekretariat.
Literatur
Hochbegabte Kinder, ihre Eltern, ihre Lehrer (Webb, Meckstroth, Tolan; Hans Huber Verlag ISBN 3-456-84118-3)
Hochbegabte Kinder – Persönlichkeit, Entwicklung, Förderung (Stapf; C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-50252-0)
Im Labyrinth. Hochbegabte Kinder in Schule und Gesellschaft (Hrsg: Deutsche Geselllschaft für das hochbegabte Kind e.V.; LIT Verlag; ISBN 3-8258-5205-9
Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V. dghk.de
Links
Schüler des LGHs bei Johannes B Kerner
Hirnforschung und das Konzept der Hochbegabung – Drei Hirnforscher und zwei “Ansichten”
Was ist Hochbegabung? Hochbegabung ist das, was Wissenschaftler definieren….
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