Derzeit kursiert ein Zeitungsartikel der Canadian Press in Onlinemedien und Blogs. Die Kernaussage ist: Wer gegen die saisonale Grippe geimpft ist, habe ein doppelt so hohes Risiko aktuell an Schweinegrippe zu erkranken. Die Autorin beruft sich auf unpublizierte Daten einer Studie kanadischer Forscher. Hier zwei Links zu betreffenden Meldungen.
Drei Gründe, warum ich denke, dass sich die Meldung nicht bewahrheitet:
- Die Studie ist nicht publiziert. Das heißt, sie wurde nicht von Kollegen (sog. Peers) auf ihre Stichhaltigkeit geprüft. Es ist richtig, dass der peer-review Prozess die Publikation wissenschaftlicher Daten verzögert. Bei Ergebnissen, die akute Ereignisse betreffen wie in diesem Fall die H1N1-Grippepandemie, kann dies ein Nachteil sein. Es ist trotzdem unverantwortlich, epidemiologische Entscheidungen (hier: die massenhafte Impfung mit dem H1N1 Vakzin) von nicht publizierten Daten abhängig zu machen.
- Der beschriebene Effekt wurde in keinem anderen Land beobachtet. Laut veröffentlichter Presseberichte findet das U.S. Center for Disease Control keine Indizien, welche die Studie stützen würde. Britische und Australische Forscher sollen ebenfalls berichtet haben keine vergleichbaren Effekte beobachtet zu haben, bei deren Datenanalyse.
- Es macht wissenschaftlich keinen Sinn. Die Grippeimpfstoff gegen die saisonale Grippe sowie gegen die Schweingerippe enthalten gereinigte Proteine der Virushülle: Das Hämagglutinin (H) und die Neuraminidase (N) . Diese Proteine werden ebenfalls zur Charakterisierung von Grippestämmen herangezogen (H1N1 für die Schweingerippe zum Beispiel). Das Immunsystem erkennt die gespritzten Proteine als körperfremd und produziert Antikörper dagegen. Diese Antikörper stehen dann für einen direkten Einsatz zur Verfügung, wenn es tatsächlich zu einer Infektion mit den entsprechenden Grippeviren kommt.
Die Außenhülle der Schweingerippeviren und die der Erreger der saisonalen Grippe unterscheiden sich geringfügig. Deshalb wirkte eine Impfung gegen die saisonale Grippe auch nicht unbedingt bei einer Infektion mit einem anderen Grippestamm und die Herstellung eines neuen, maßgeschneiderten Impfstoffs ist nötig. Wer sich also gegen Schweinegrippe impfen lässt , bringt sein Immunsystem dazu, neue, spezifische Antikörper gegen genau diese Proteine zu bilden.
Dadurch, dass sich die Antigene (also gereinigtes Hämagglutinin und Neuraminidase) nur geringfügig zwischen den zwei Influenzastämmen unterscheiden, kann es möglicherweise sein, dass vorhandene Antikörper die gespritzten Schweinegrippeproteine zu einem gewissen Grad erkennen und direkt bekämpfen, das Immunsystem also nur in geringem Maße dazu angeregt wird, neue Antikörper zu produzieren. Das ist nicht weiter schlimm, da der Körper dann offensichtlich schon über eine wirksame Waffe gegen den neuen Influenzastamm verfügt.
Tatsächlich ist dieser Effekt möglicherweise bei der Schweingrippe zu beobachten. Die Beobachtung, dass aktuell ältere Menschen weniger häufig an Schweingrippe erkranken, ist ein Indiz dafür: Menschen, die schon mehrfach im Leben an Grippe erkrankt sind, haben möglicherweise funktionierende Antikörper, die auch gegen den neuen Stamm effektiv schützen.
Bei einer Cross-Aktivität, bei der der Antikörper gegen saisonale Grippe auch gegen Schweinegrippe wirken, würde ich also eher das Gegenteil dessen erwarten, was die Autoren der kanadischen Studie gefunden haben wollen. Mir ist wissenschaftlich nicht ersichtlich, wieso also Menschen, die gegen die saisonale Grippe geimpft sind häufiger an Schweinegrippe erkranken sollten.
Ich denke also, es ist sinnvoll weiter zu impfen. Gleichermaßen sollte nach Abklingen der Pandemie an großen Datensätzen untersucht werden, in wie weit die Impfung gegen die saisonale Grippe einen positiven oder negativen Einfluss auf die Wirkung der Impfung gegen Schweinegrippe hatte.
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