Schwule Pinguine, Delphine und Giraffen. Rund 450 verschiedene Wirbeltierarten zeigen homosexuelles Verhalten. Kann das evolutionsbiologisch erklärt werden? Muss es das? Das gleiche gilt für Religionen auch. Gibt es einen legitimen evolutionsbiologischen Ansatzes um Religiosität zu erklären?
Viele werden es mitbekommen haben. Jonah Lehrer, Autor des Blog “the frontal cortex” auf scienceblogs.com hat einen Artikel über Homosexualität bei Wirbeltieren geschrieben. Der Artikel The Gay Animal Kingdom wurde im Seed Magazin gedruckt und ist wirklich lesenswert (Hallo, Redaktion: Ich habe mein Seed-Heft seit Monaten nicht bekommen).
Ein Englischlehrer an einer Schule in den USA hat den Artikel im Unterricht bei einer Oberstufenklasse besprochen und ist daraufhin vom Schuldienst suspendiert worden. Warum? Angeblich weil der Text zu explizit von Sex spricht. Ich habe die Stellen mal rausgesucht:
Male big horn sheep live in what are often called “homosexual societies.” They bond through genital licking and anal intercourse, which often ends in ejaculation. […] Giraffes have all-male orgies. So do bottlenose dolphins, killer whales, gray whales, and West Indian manatees. Japanese macaques, on the other hand, are ardent lesbians; the females enthusiastically mount each other. Bonobos, one of our closest primate relatives, are similar, except that their lesbian sexual encounters occur every two hours. Male bonobos engage in “penis fencing,” which leads, surprisingly enough, to ejaculation. They also give each other genital massages. […] Nobody is hornier than a female macaque or bonobo (which mount the males because the males are too exhausted to continue the fornication).
Deshalb einen Lehrer suspendieren? In Europa kann so etwas nur Rekationen zwischen Entsetzen und völligem Unverständnis hervorrufen. Bei Jonah Lehrer im Blog haben sich aktuelle und ehemalige Schüler zu Wort gemeldet, die den Englischlehrer Dan DeLong loben, ihm einen exzellenten Unterricht bescheinigen und mehrfach wird wörtlich gesagt, DeLong sei der beste Lehrer gewesen, den die Schüler je hatten. Inzwischen hat die zuständige Schule oder das Schulamt (weiss jemand, wie das in den USA organisiert ist?) reagiert und DeLong wieder eingestellt. Richtig so!
Die Sprengkraft des Themas liegt ganz wo anders, und mit Sicherheit nicht in der explizieten Darstellung wie Makkakenmännchen es machen. Homosexualität bei Menschen und bei Tieren ist etwas völlig normales. Es geht um die Frage: Welchen Sinn macht Homosexualität evolutionär? Analsex trägt nun mal nicht direkt zur Erhaltung der Art bei, genauso wenig wie lesbische Partnerschaften.
Reicht das Prinzip der sexuellen Selektion aus, um Homosexualität zu erklären? Muss es das? Hätten Schwule und Lesben nicht schon längst aussterben müssen? Muss Darwins Theorie erweitert werden? Und wenn ja, wie?
Zum einen gibt es durchaus homosexuelle Eltern, die Kinder bekommen, zum anderen ist, obwohl eine genetische Komponente bei Homosexualität wohl eine Rolle spielt, wahrscheinlich nicht alles erblich bedingt. Es können hormonelle Gründe sein während der Entwicklung, es können noch bisher ungeklärte Faktoren sein, es kann einfach Zufall sein. Es gibt keine einfache Antwort.
Man kann es sich aber versuchen einfach zu machen – und hier betreten wir ein aktuelles Minenfeld der Debatte über Evolution. Man kann ein evolutionstheoretisches Konzept konstruieren, dass angelehnt an die sogenannte Gruppenselektion erklären soll, warum Homosexualität evolutionäre Vorteile bietet.
Gruppenselektion besagt, dass bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel soziales oder altruistisches Verhalten zum Wohle der Gemeinschaft, in Gruppen unabhängig von den Individuen weitergegeben werden. So verfährt Joan Roughgarden, Biologie-Professorin in Stanford und Autorin von Evolution’s Rainbow: Diversity, Gender, and Sexuality in Nature and People, deren Thesen bezüglich der Ausweitung der sexuellen Selektion im Dawrinschen Sinne in dem Seed-Artikel vorgestellt werden.
Roughgarden ist nicht die einzige prominente Vertreterin der Gruppenselektion. Ein weiterer prominenter Fürsprecher ist der jüngst von der Huffington Post zu den ScienceBlogs rekrutierte Evolutionsforscher David Sloan Wilson.
Seine Thesen sind nicht unumstritten, die Kommentare zu seinem ersten Blogbeitrag bei den ScienceBlogs zu Wissenschaft als Religion zeigen:
Yes, hello. And goodbye. Hopefully your stature as a scientist doesn’t blind too many people to what you’re doing here. Your equivocations are the favorite of theologians: “science is biased … against bias!” Neat trick, if you can sneak it past people.
Would someone explain to me how this word-twisting, intellectually dishonest buffoon ever got the recognition that he has?
So, for your inaugural post as a Science Blogger, you equate science to superstition and then take snide potshots at the New Atheists. Actual science content: negligible. Bullshit: 99.99%. Hello and goodbye, Dr. Wilson. You should’ve stayed at HuffPo.
Einen Fan hat Wilson jedoch mit Sicherheit: Der Religionswissenschaftler und Blogger Michael Blume begrüst Wilson folgendermassen
Hi David, although HuffPost is really nice, I am very glad that you joined a science-blogging community! Of course, I would have recommended the new Scilogs.eu! 😉 Just kidding, you are perfectly right here! I sure hope that more people might catch on the thriving field of evolutionary studies on religion! As they are extremely interdisciplinary and international, exchange and debate in the web is of utmost importance to its ongoing success, I’d assume! Best wishes from Germany, Michael
Der liebe Dr. Michael Blume ist Co-Autor des Buches Gott, Gene und Gehirn: Warum Glaube nützt – Die Evolution der Religiosität (Hallo, Redaktion: ich hätte gerne ein Rezensionsexemplar). Aus dem Klappentext:
Religionsdemographen erklären, warum Atheisten weniger Kinder haben – Evolutionspsychologen entschlüsseln den biologischen Ursprung und Nutzen von Religiosität und Spiritualität.
Ein Beispiel aus dem Sandkasten der “evolutionspsychologischen” Gruppenselektionsfreunde: Religiöse Menschen kriegen im Durschschnitt mehr Kinder als Atheisten. Daher ist Religiosität evolutionär manifestiert. Do some real science, god dammit!
David Sloan Wilson hat unterdessen eine 19-Teilige Reihe zur Gruppenselektion bei den ScienceBlogs nachgelegt.
Foto oben:
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