Wie gewinnt man eine öffentliche Debatte zu kontroversen wissenschaftlichen Themen? Indem man auf seinem Standpunkt beharrt und auf Argumente der Kontrahenten nicht eingeht. Was in zahllosen Kommentaren zu Artikeln auf Nachrichtenseiten und in Blogs vorgeführt wird, wurde jetzt durch probabilistische Modelle untersucht und präzisiert und soll helfen Diskussionsstrategien zu verbessern.
Öffentliche Debatten zu wissenschaftlichen Themen haben sich in den letzten Jahren stark ins Internet verlagert. Die Kommentarspalten zu online-Artikeln über den Klimawandel, Homöopathie, zu AIDS, der Evolutionstheorie, dem LHC oder der Impfung gegen Schweinegrippe füllen sich schnell mit manchmal mehr manchmal weniger qualifizierten Beiträgen, und der Ton der Debatten ist nicht immer nur nett. Das ist bei den online-Angeboten der großen Zeitungen und Zeitschriften so, genauso wie in Blogs, so auch hier auf dem lokalen Battleground der ScienceBlogs.
Warum werden Themen kontrovers diskutiert, bei denen die wissenschaftliche Datenlage eindeutig aber komplex ist (Homöopathie ist Blödsinn, es gibt einen anthropogenen Einfluss aufs Klima, die Evolutionstheorie ist mannigfach belegt, AIDS wird vom HI-Virus verursacht)? Wie gewinnt man öffentliche Debatten zu wissenschaftlichen Themen?
Serge Galam vom Centre de Rechechre en Épistémologie Appliquée aus Paris hat sich dieser Fragestellungen angenommmen und ein Paper auf arxiv publiziert, in dem er mit einem probabilistischen Modell (Galam sequential probabilistic model of opinion dynamics) versucht der Frage nachzugehen, wie sich öffentliche Debatten basierend auf “unvollständigen” wissenschaftlichen Daten entwickeln.
Unvollständig heißt hier: Ohne endgültigen Beweis, ohne dass alle Daten zu einem Thema den Diskutierenden tatsächlich vorliegen oder mit tatsächlichen Lücken in der Datenlage.
Die Ergebnisse der Studie sind überraschend: Je beharrlicher eine Seite ihre Meinung vertritt, auch wenn sie nicht unbedingt von Fakten gestützt wird, je weniger sie sich auf eine Abwägung von Argumenten und die Analyse der Daten einlässt (also unflexibel ist), desto wahrscheinlicher geht diese Seite als Gewinner aus der Debatte hervor.
… it appears that the key sensitive issue is to ensure one has more inflexibles than the other side since even a small difference in proportions has a dramatic effect on the resulting topology of the opinion flow diagram.
Anders ausgedrückt: Wer sich auf eine ausgewogene Debatte einlässt, seinen Standpunkt relativiert, wie häufig in wissenschaftlichen Debatten verlangt (etwas gilt beispielsweise nur unter bestimmten Rahmenbedingungen; oder auch wenn die Sachlage klar ist, aber nicht alle Daten vorliegen), und argumentativ versucht fair auf den Gegner einzugehen ist praktisch der vorherbestimmte Verlierer der Diskussion:
Our findings lead to the unfortunate and disturbing conclusion that to adopt a fair discourse is a definite lose-out strategy to promote a cause in a public debate. On this basis one could conclude that to adopt a cynical behavior is the obliged path to win a public debate against unfair and rigid opponents.
Die überwiegende Mehrzahl der Leser und Kommentatoren bei den ScienceBlogs ist fähig ausgewogen und wissenschaftlich zu argumentieren, so dass vereinzelte Teilnehmer an Debatten hier, die sich nicht an die Diskussionsregeln halten, unflexibel auf Meinungen beharren und keine Belege für ihre Behauptungen bringen (ergo: Trolle) auch schnell als solche erkannt werden ohne die Debatten tatsächlich zu kippen. Im Gegenteil, sie wirken erheiternd. Bei ausgeglicheneren Zahlenverhältnissen der Diskutierenden aber, und bei einem naiven Publikum erscheinen mir die Ergebnisse von Galam durchaus nachvollziehbar.
Es gibt natürlich einige Parameter die bei der Kommunikation von wissenschaftlichen Themen eine Rolle spielen und die von den Galam-Modellen nicht adäquat berücksichtigt werden: Ich habe zum Beispiel den Eindruck, dass die tatsächliche Datenlage bei öffentlichen Debatten zu wissenschaftlichen Themen häufig schon durch die Themensteller verfälscht wird. Sei es aus Unwissenheit oder aus dem noblen und doch falschen Argument “ausgewogen” berichten zu wollen, wird kontroversen Standpunkten überproportional Platz eingeräumt, wobei die vermeintliche Kontroverse häufig so gar nicht existiert.
Weiter spielt sicher auch die Reputation der Diskutanten eine Rolle, sowie der Kommunkationsstil. Wer höflich, verständlich und witzig argumentiert hat sicher Vorteile gegenüber arroganten, besserwisserischen und verbohrten Kommentaren.
Ich habe einen schönen Satz gelesen in den Kommentaren zu einem Blogpost von pelmazzo über das gleiche Paper:
Eine öffentliche Debatte gewinnen heißt ja nicht, die Unbelehrbaren zu überzeugen. Es heißt die gesellschaftlich relevanten Mehrheiten für die eigene Position zu gewinnen.
Link zum Paper “Public debates driven by incomplete scientific data: the cases of evolution theory, global warming and H1N1 pandemic influenza” bei arxiv :1004.5009v1 [physics.pop-ph]
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