Heute möchte ich irgendetwas über Ethik schreiben, denke ich, als mein erster Unterrichtstag zur Mittagszeit endet. Ich gebe als Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg einen jährlichen Kurs, den ich diesmal »Ethics in Sustainable Development« nenne, und die heutige Tagesüberschrift lautete »What is ethics?«. Die Teilnehmer sind eine große, buntgemischt internationale Gruppe vorwiegend aus Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, ganz von vorne anzufangen. Mich könnte ein Blogartikel über die siebenjährige Entwicklung meines Kurses reizen, in der sich nebenbei auch mein Weg zur fachlichen und intellektuellen Eigenständigkeit spiegelt. Diese Entwicklung gilt auch für die Frage, was Ethik sei. Was für eine Antwort habe ich heute, alles zusammengenommen, eigentlich darauf gegeben?
Doch dann entdecke ich eine Email vom Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss), die von der Kundgebung »Wir sind die 93 %« berichtet. Die Protestaktion fand am 14. November bei der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) statt. »Wir«, das sind die befristet Beschäftigten im wissenschaftlichen Mittelbau der deutschen Universitäten, also auch ich. Beim Lesen der Ansprache an die HRK geht mir das Herz auf.
Machen Sie uns nicht länger zum Kanonenfutter einer Wettbewerbsideologie, die mehr Karriereleichen produziert als Karrieristen. Hören Sie auf, uns als wissenschaftlichen Nachwuchs zu bezeichnen, wenn doch »Nachwachsen« für die meisten nichts Besseres heißt, als untergepflügt zu werden wie die schief gewachsene Kartoffel oder die Gurke mit falschem Krümmungsgrad.
Hinter den politischen Forderungen der NGAWiss stehen ethische Urteile und Argumente. Sie beziehen sich auf die deutschen Forschungsinstitutionen und einen Großteil der dort beschäftigten Forscher und Forscherinnen. Es läge nahe, hier von Problemen der Forschungsethik zu sprechen, ein Begriff, mit dem ich in letzter Zeit mehrfach in Berührung gekommen bin.
Doch unter dieser Überschrift scheint bislang nur von der Verantwortung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gegenüber der Gesellschaft die Rede zu sein (z.B. in diesem Lexikoneintrag). Welche Verantwortung hat eigentlich umgekehrt die Gesellschaft gegenüber den Forschenden und besonders für uns »93 %«? Diese Frage und die lange Spur von »Karriereleichen«, welche die wissenschaftliche Karawane am Wegrand hinterläßt, liegen bisher im toten Winkel der Forschungsethik und der ethischen Forschung insgesamt.
Die Selbstkontrolle der Edel-Praktikanten
Solche Überlegungen drängten sich mir schon vor einigen Wochen auf, als ich wieder einmal eine Tagung im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald besuchte. Es ging um sicherheitsrelevante Forschung, ihre ethischen Probleme und mögliche institutionelle Kontrollverfahren. Die Forschungsethik war gefordert, die Verbreitung waffenfähigen Wissens und Materials zu verhindern und versehentlichen Katastrophen vorzubeugen, etwa durch hochvirulente Krankheitserreger, die aus einem Labor entkommen. Da niemals alles von außen zu kontrollieren sei, brauche es ethisch geschulte Forscherinnen und Forscher, die Selbstkontrolle üben.
Ich aber wunderte mich über die Leichtigkeit, mit der hier von der Wissenschaftlergemeinde als einem geschlossenen Block mit gleichartigen Interessen gesprochen wurde, zum Beispiel in Formeln wie der »gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft«. Wann war ich dabei überhaupt mitgemeint, wenn ich mich (wie es die NGAWiss formuliert) eigentlich nur als »Edel-Praktikant« im Betrieb geduldet fühlte? Dachte eine gut vernetzte Emerita und Funktionärin bei Worten wie »Kollegen« und »Freiheit der Forschung« nicht fast ausschließlich an Professorinnen und Professoren? Hatten die ethischen Erfahrungen, die ich an der Universität machte, nicht überwältigend mit Ungleichheit, Ungerechtigkeit und persönlicher Erniedrigung zu tun, von denen hier nirgendwo die Rede war? Bei der Tischwahl in der Cafeteria des Kruppkollegs jedenfalls schieden sich die akademischen Klassen voneinander wie immer.
Wissenschaftlicher Dialog
Auch beim gestrigen Abendessen mit einem Freiburger Kollegen dreht sich das Gespräch um die ethischen Irritationen unseres Berufslebens: Ein Vorgesetzter an der Universität verweigert es einem Familienvater, der für ihn arbeitet, über die Möglichkeiten und Absichten hinsichtlich einer Stellenverlängerung auch bloß Auskunft zu geben. Die Überarbeitung einer Studienordnung ist didaktisch dringend nötig, wird aber vielleicht um Jahre verschoben, bis die Fakultäten, die am Studiengang beteiligt sind, sich auf einen Finanzausgleich und eine Neuabsteckung institutioneller Territorien geeinigt haben. Dieselben Einrichtungen, die in der Öffentlichkeit und ihren Projektmittelanträgen zu zukunftsorientiertem Denken und nachhaltiger Entwicklung mahnen, wollen sich intern auf keine langfristige Politik festlegen und halten ihre Angehörigen im Modus des kurzfristigen Aktionismus. Und ist es nicht bedrückend, fragen der Kollege und ich einander, daß sich Gespräche mit Forscherkollegen fast immer um Stellen, Geld, Macht und das Planen unter allseitiger Zukunftsunsicherheit drehen statt um die Inhalte der Wissenschaft?
Heute früh trete ich dann vor meine Anfängergruppe und lehre: In allem, was wir tun, sind ethische Fragen angelegt, und ihr sollt lernen, sie zu erkennen.
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