Wenn man weiß, das man die älteste Venusfigur der Menschheit in Händen hält, hat das sicher etwas Erhabenes (auch wenn man immer im Hinterkopf behalten muss, dass es sich ‚nur’ um die älteste bisher entdeckte Venusfigur handelt). Die Schlagzeilen sind einem sicher.
So aufregend diese Funde sind, wissenschaftlich betrachtet, erzählen sie immer nur einen Teil der Geschichte (wie ich zuletzt schon geschrieben hatte). Sie setzen so etwas wie ein Grenze, sie erweitern den Raum, nach dem Motto: „Ah, vor so langer Zeit konnte ein Mensch das schon.” Aber wenn dieser Funde die einzige Venusfigur weit und breit ist (und das ist räumlich wie zeitlich gemeint), dann hilft uns das nicht besonders weiter, wenn wir eigentlich wissen wollen, wie es um den Sinn für Symbole und Ästhetik der ganzen Art stand. Vielleicht war es nur ein lokaler Geistesblitz, den sonst niemand verstanden hat.
Wenn es aber der älteste Fund in einer ganzen Reihe von Artefakten ist, die vielleicht nur über ein paar Tausend Jahre über eine bestimmte Region verteilt sind, dann erzählt das schon eine ganze Menge mehr.
Wer sich meine Liste von vor ein paar Tagen angesehen hat, dem ist vielleicht schon aufgefallen, dass einige Dinge in einem sehr ähnlichen Zeitfenster entstanden sind. Die Höhlenmalerei der Chauvet ist etwa 32.000 Jahre alt, das älteste Musikinstrument etwa 35.000 Jahre, genau wie die älteste Venus (was allerdings nicht verwundert, weil sie beide von derselben Fundstelle auf der Schwäbischen Alb stammen.) Wer nach weiteren Venusfiguren oder Höhlenmalereien sucht, der findet zahlreiche Beispiele, die alle nur ein paar tausend Jahre jünger sind als diese ältesten Funde.
Aufgetragen auf einer Karte sieht das dann so aus:
Quelle: Wikipedia
Wer sich ein bisschen auskennt, weiß natürlich, was jetzt kommt. Diese ältesten Funde sind nur der Anfang einer ganzen Epoche, einer Art kultureller Revolution des Homo sapiens, die vor etwa 35.000 bis 40.000 Jahren in Europa begann. Wissenschaftler bezeichnen diese Epoche Jungpaläolithische Revolution, im englischen Upper Paläolithic Revolution. Sie dauerte zwischen 20.000 und 30.000 Jahren bis etwa zu dem Zeitpunkt, als der Mensch vor 10.000 Jahren sesshaft wurde und die Landwirtschaft entdeckte, und damit die neolithische Revolution vom Zaun brach. Aus den Jägern und Sammlern wurden Bauern.
Die erste Etappe dieser Zeit bezeichnen Archäologen als Aurignacien, benannt nach einem französischen Fundort, der Höhle von Aurignac. Der Archäologe Harald Floss von der Uni Tübingen beschreibt diese erste Etappe wie folgt:
„Mit dem Aurignacien haben wir erstmals einen europaweit verbreiteten kulturellen Komplex vor uns, der die traditionell als Anzeiger kultureller Modernität angesehenen Charakteristika in ihrer denkbaren Bandbreite, flächenhaft und in quantitativ ansprechenden Belegen unter Beweis stellt. (…) Schmuckstücke sind (…) nun im Aurignacien regelhaft vertreten. (…)
Resümierend scheint sich also in Europa in dieser Zeit ein Innovationsschub abgespielt zu haben (…). Und um schließlich der Diskussion die Pointe aufzusetzen, begegnet uns im Aurignacien nun auch ein zuvor in der Menschheitsgeschichte gänzlich unbekanntes Phänomen: Figürliche Kunst!”
Dazu muss man wissen: Der Homo sapiens hatte gerade erst begonnen sich in Europa einzurichten. Er war von Afrika über den Mittleren Osten eingewandert. Und um es mal ganz salopp zu sagen: Es sieht fast so aus, als ob die Menschen es sich im neuen Zuhause ein wenig schön machen wollten. (Das war natürlich nicht der Grund für Höhlenmalereien, und die Figurinen waren sicher alles andere als Nippesfiguren. Forscher gehen eigentlich von rituellen, religiösen und mystischen Anlässen für diese Dinge aus).
Fakt ist: In dieser Epoche explodiert die Zahl an raffinierten Werkzeugen, Höhlenmalerei und (Kunst)gegenständen, manche Forscher sprechen deshalb auch von einer ‘kreativen Explosion’.
(Leider habe ich bisher keine Liste finden können, die dies schön illustriert, lediglich ein Zitat von Harald Floss, der schreibt: „Auch Schmuckstücke sind von ihrem sehr vereinzelten Auftreten im Mittelpaläolithikum nun im Auragnacien regelhaft vertreten. Allein aus dem Auragnacien Südwestdeutschlands sind circa 50 Schmuckobjekte bekannt.”)
In dieser Zeit entstand Schmuck, realistische Malereien, Gravuren, menschliche Figuren, realistische Tierfiguren, feingearbeitete Mischfiguren aus Tier und Mensch, graziler Körperschmuck, selbst Toten wurden mit prächtigen Gewändern aus Schneckenhäusern begraben. (Zum Thema Schmuck hat Marc ja bereits einen sehr schönen Text verfasst).
Der Mensch wurde kreativ wie nie ein Lebewesen zuvor. Der israelische Archäologe Ofer Bar-Yosef, der bis vor ein paar Jahren noch an der Harvard University arbeitete, beschreibt es so:
„Erfindungen gab es im Bereich der Technologien, es wurden neue Formen von Steinwerkzeugen erschaffen, es gab den Austausch von Rohmaterial über große Entfernungen hinweg, für die Produktion von ‚häuslichen’ und rituellen Objekten wurden Knochen, Geweih und Elfenbein genau so verwendet wie seltene Mineralien. Raumanalysen von ‚Wohnbereichen’ [die auch Jäger und Sammler hatten, Anm. v.mir] weisen auf Küchenbereiche, Schlafzonen, Lager- und Abfallbereichen hin. Es gibt Hinweise für zunehmende soziale Hierarchien und die Anwesenheit von Schamanen. Körperschmuck und -verzierungen weisen auf das Vorhandensein einer persönlichen Individualität hin.”
All das zusammengefasst beschreiben Forscher oft als das Entstehen von ‚modernem Verhalten‘ und sie meinen damit: Diese Menschen waren und dachten im Prinzip wie wir (was immer das auch im Detail bedeuten mag, ich kann es mir schwer vorstellen und habe auch noch keine anschauliche Erklärung gefunden). Sie waren uns ähnlicher als der Homo sapiens, der zuvor lange in Afrika gelebt hatte und dort vor etwa 200.000 Jahren entstanden war.
Begann also in den Höhlen Europas vor über 30.000 Jahren unser Sinn für Schönheit, Symbolik und Ästhetik so richtig aufzublühen? (Übrigens in Zeiten, die wir immer noch zur Eiszeit zählt, wie die Eisgrenze in der Karte verdeutlicht).
Die Zahl und Vielfalt der Funde spricht zumindest dafür. Doch es gibt auch Kritiker. Manche halten diese Sichtweise für viel zu eurozentristisch. Wissenschaftler streiten darüber, ob die Technologien und der Sinn für Symbolik und Ästhetik erst in Europa entstand. Ofer Bar-Yosef etwa weist darauf hin, dass es in der Levante schon einige Funde gibt, die ein paar tausend Jahre älter seien als etwa auf der Schwäbischen Alb. Das moderne Denken hätten die Einwanderer schon in ihrem Päckchen aus Afrika mitgebracht, sagen andere. Darauf wiesen schließlich Funde wie die in der südafrikanischen Blombos-Höhle hin, die bereits 75.000 Jahre als seien.
Und es gibt noch eine ganz andere Sicht der Dinge: Es war gar nicht oder zumindest nicht nur der Homo sapiens, der all die schönen Dinge fabrizierte, nicht in Europa und nicht in Afrika. Die Tan-Tan-Venus und die Venus von Berekhat Ram (beide mehr als 230.000 Jahre alt), sind – wenn es denn tatsächlich Figuren sind – ein wenig oder sogar deutlich zu alt für unsere Art. Es könnte noch Homo erectus gewesen sein, der die Figuren erschuf.
Und schließlich: Als Homo sapiens vor rund 40.000 Jahren in Europa eintraf, war schon jemand anwesend: Die Neandertaler. Sie lebten ein paar tausend Jahre in den gleichen Regionen, bewohnten nacheinander dieselben Höhlen. Warum sollte der Neandertaler nicht auch einige der Kunstwerke und Schmuckstücke erschaffen haben, die wir eigentlich dem Menschen zuschreiben. Das der Neandertaler viel feinsinniger war, als er die meisten Zeit dargestellt wurde, wissen wir inzwischen. Vielleicht erlebte sein Sinn für Symbolik und Ästhetik kurz vor seinem Ende im Aurignacien eine letzte Blütezeit, wie ein Stern am Firmament der noch ein letztes Mal hell erstrahlt und kurz darauf verglüht.
Harald Floss hat dazu folgende Meinung:
„Aufgrund des Überdauerns letzter Neandertaler bis vor circa 28.000 Jahren ist es ebenso nicht völlig auszuschließen, dass die älteste Kunst Europas auch auf Neandertaler zurückgehen könnte. Allein uns fehlt der Glaube.
Es stimmt, dass Neandertaler zweifellos zu kreativem Handeln in der Lage waren und es stimmt auch, dass wir bei einigen späten Vertretern (…) ein hohes Maß an kultureller Modernität konstatieren (…).
Dennoch halten wir es angesichts einer insgesamt von großem Stress geprägten Untergangsphase dieser Menschenform für relativ unwahrscheinlich, dass der Neandertaler kurz vor seinem Ende die figürliche Kunst ‚erfunden’ habe. (…)
So groß die Leistung des Neandertalers auch war, das Vogelherdpferd schuf er nicht!”
Floss und seine Kollegen finden es unlogisch, dass eine Art einerseits zu höchsten kreativen Leistungen fähig gewesen sein soll, um solche Werke zu schaffen, dann aber nach 100.000 Jahren plötzlich nicht mehr in der Lage gewesen sein soll flexible und effektive Strategien gegen seinen Untergang entwickeln konnte.
However.
Eines kann man festhalten: Wann immer der Sinn für diese Dinge entstand, bei uns, beim Homo erectus oder dem Neandertaler. Spätestens 30.000 Jahren vor heute war Schönheit keine Sache der Natur mehr. Der Mensch hatte seine Sinne für Symbole und Ästhetik voll entwickelt und er begann zu malen, zu schnitzen, zu ritzen, zu nähen, zu flechten, zu hauen und zu basteln, was die Materialien hergaben und auf teils atemberaubend hohem Niveau, an deren Ergebnisse wir uns heute noch nicht satt sehen können. Vielleicht ist es gerade das: Dass uns diese Werke so berühren und zugleich auch irgendwie vertraut vorkommen, vielleicht ist es genau das, was uns zeigt, wie ähnlich uns diese Menschen waren, obwohl sie als Jäger und Sammler in einer so völlig anderen Welt lebten. Ob wir beim Betrachten der Pferdeköpfe in der Chauvet-Höhle diesselbe Freude an der Ausdruckskraft und Schönheit der Malerei verspüren würden?
Quellen:
- Harald Floss: Als der Mensch schuf, schuf er richtig – Europas kreativer Urknall vor 35.000 Jahren. in Roots// Wurzeln der Menschheit. Katalog zur Ausstellung 2006, Rheinisches Landesmuseum Bonn. S. 209
- Ofer Bar-Yosef: The Upper Paleolithic Revolution. Annu. Rev. Anthropol. 2002. 31:363-93
- Ofer Bar-Yosef: The Archaeological Framework of the Upper Paleolithic Revolution. Diogenes, Vol. 54, No. 2, 3-18 (2007)
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