Sprache ist verräterisch. Auch dann, wenn es um Schönheit geht und die Frage, was das eigentlich ist. Denn ist es nicht bemerkenswert, dass das Wort “Schönheitsfehler” so einen festen Platz in unserem Wortschatz hat? Wir sprechen ganz selbstverständlich von den Schönheitsfehlern, die irgendeine Sache, ein Objekt, vielleicht sogar eine Person hat. Und ohne großartig darüber nachzudenken, stehen wir damit inmitten einer Tradition, die vor mehr als 2000 Jahren begann.
Was lernen wir über uns (und unsere Vorstellung von Schönheit), wenn wir von “Schönheitsfehlern” sprechen?
Denn wenn wir von Schönheitsfehlern sprechen, dann bringen wir damit ja (vermutlich meist unbewußt) zum Ausdruck, dass wirkliche, ungetrübte Schönheit möglicherweise nur ohne Fehler denkbar ist. Schönheit wird – gemäß dieser impliziten Vorstellung – gleichgesetzt mit Perfektion. Mit Makellosigkeit. Und einer Annäherung an ein fehlerfreies Ideal.
Dass eine solche (naive?) Schönheitsvorstellung nicht kompatibel mit unserer Lebenswirklichkeit ist oder zumindest immer eine letzte Differenz zwischen Ideal und Realität bestehen bleibt, wusste auch Joachim Ringelnatz. Denn wer ist schon perfekt? Zumindest, wenn man sich die schönen Objekte ganz genau besieht:
Genau besehn (J. Ringelnatz)
Wenn man das zierlichste Näschen
Von seiner liebsten Braut
Durch ein Vergrößerungsgläschen
Näher beschaut,
Dann zeigen sich haarige Berge,
Daß einem graut.
Was Ringelnatz hier so treffend zum Ausdruck bringt, ist ja keine neue Erkenntnis (aber so charmant wurde es selten formuliert). Die Frage, ob wir in der Realität wirkliche Schönheit vorfinden, beschäftigte schon das Denken der Antike. Wirklich vollkommene Schönheit bestand als Idee bzw. göttliche Kategorie. Doch haben wir keine Möglichkeit der reinen (göttlichen) Schönheit nahezukommen?
Gibt es eine Methode, mit der wir der (göttlichen) Schönheit nahekommen können?
Von Cicero (und Plinius d. Ä.) wissen wir von der Geschichte des Zeuxis von Herakleia, der sich einer raffinierten Methode bediente. Zeuxis (er lebte Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr.) galt als einer der besten Maler der Antike. (Nach Plinius soll Zeuxis auf einem Wandbild die Trauben so täuschend echt gemalt haben, dass sie von Vögeln angepickt wurden.)
Als man in der Stadt Kroton (das heutige Crotone in Süditalien) den Juno-Tempel baute und ausschmückte, wurde Zeuxis beauftragt, ein Bild der Göttin Helena zu malen. Helena – soviel war klar – war der Inbegriff der Schönheit und die Bürger Krotons erwarteten, dass das Bild deren herausragende Schönheit zum Ausdruck bringen sollte.
Zeuxis verlangte von seinen Auftraggebern, dass sie ihm die schönsten Jungfrauen der Stadt zur Verfügung stellten. Denn wie wir bei Cicero lesen:
“Er glaubte nämlich, nicht alles, was er zur Darstellung der Schönheit brauchte, an nur einem Körper antreffen (uno in corpore) zu können, weil die Natur kein Einzelwesen so geschaffen habe, dass es in all seinen Teilen (omnibus ex partibus) vollkommen sei.” (Cicero, De Invenzione II,1).
Zeuxis machte sich also ans Werk, suchte sich fünf Jungfrauen aus und wählte – wie uns die Anekdote erzählt – von jeder jeweils ihr schönstes Körperteil. Leider ist das Gemälde nicht erhalten und so müssen wir uns wohl mit der Vorstellung davon begnügen, wie und ob dieser herausragende Maler dem Ideal der Schönheit wirklich nahekam.
Interessant (und folgenreich) ist allerdings, dass für Zeuxis offenbar Vollkommenheit (und Schönheit) nicht in der Natur vorzufinden ist. Irgendwelche Schönheitsfehler gibt es eben immer und mit Ringelnatz hätte sich Zeuxis wohl gut verstanden. Für die (künstlerische) Auseinandersetzung mit dem Thema Schönheit wurde dieses Beispiel freilich noch sehr bedeutend und sein Vorbild fand viele, viele Nachahmer, die Zeuxis’ Überzeugung teilten: Ideale Schönheit kommt in der Natur nicht vor, sondern muß aus einer Vielzahl von Vorbildern zusammengesetzt werden.
Schönheit ist die Kombination perfekter Elemente
Die Anekdote von Zeuxis und den Jungfrauen wurde später in der Renaissance ungemein populär und immer wieder neu erzählt, aufgegriffen und variiert. Maler, Schriftsteller und Intellektuelle der Renaissance (von Boccaccio über Raphael bis zu Lodovico Dolce oder Georgio Vasari.) griffen diesen klassischen Topos immer wieder auf und diskutierten über das Spannungsverhältnis von Naturnachahmung und Naturüberbietung, über Imitation und Idealisierung.
Um zur vollkommenen Schönheit zu gelangen, muss man auswählen, weglassen, kombinieren und neue Harmonien erzeugen.
Für die von der Schönheit besessenen Renaissance-Künstler war Zeuxis freilich ein Kronzeuge für ihre eigene Arbeit. Um zur vollkommenen Schönheit zu gelangen, muss man auswählen, weglassen, kombinieren und neue Harmonien erzeugen. Durch das Verfahren einer “idealisierende Imitation” sollte die Natur übertroffen werden.
Doch was lernen wir heute daraus, was machen wir, wenn uns dieses Vorhaben gelingt? Wenn wir also – egal ob mit den traditionellen Techniken der Malerei oder mit den modernen Mitteln von Photoshop – Bilder erschaffen, die Schönheit in ihrer reinsten Form darstellen, wie wir sie in der Realität niemals vorfinden? Müssen wir uns resigniert damit abfinden, dass wir immer Abstriche machen müssen, wenn wir (in der Realität) nach Schönheit suchen – weil es dort eben perfekte Schönheit niemals gibt? Oder sollten wir uns stattdessen an einem anderen, realistischeren Schönheitsbegriff orientieren?
Die Kunst ist schöner als das Leben
Vielleicht sollte uns eine andere Anekdote eine Warnung sein, wenn wir leichtsinnigerweise den ideal schönen Gestalten nachjagen. Ebenfalls Plinius der Ältere berichtet uns von der Geschichte von Apelles und Campaspe. Apelles war einer der Konkurrenten von Zeuxis und war der Lieblingsmaler von Alexander dem Großen.
Apelles wurde von Alexander beauftragt ein Bild seiner Geliebten Campaspe zu malen. Und es sollte ein Aktgemälde werden (auch verständlich, denn wenn eine Frau schon so wahnsinnig schön ist, dann möchte man ja maximal viel von ihr auf so einem Gemälde draufhaben).
Und Campaspe war offenbar wirklich wunderschön – zumindest verliebte sich Apelles in sein Modell. Und Apelles war ganz offensichtlich wirklich ein begnadeter Maler, denn Alexander “verliebte” sich in das Gemälde. Und so nimmt diese Geschichte ein etwas kurioses Ende: denn Alexander schenkte dem Maler das Mädchen, für sich selbst behielt er das Gemälde, das ihm besser gefiel. (So überliefert nach Plinius d. Ä., Naturalis Historiae XXXV, § 86 – Gemäldeausschnitt rechts: Ölgemälde von Nicolas Vleughels, 1716)
Was können wir daraus lernen? Dass die Kunst schöner ist als das Leben? Dass wir uns hüten sollten vor den Abbildern und Idealisierungen der Schönheit? Oder dass wir mehr Ringelnatz lesen sollten, für den die Schönheitsfehler möglicherweise ja doch zum Leben gehören und der uns (jedenfalls könnte man ihn auch so verstehen) empfiehlt, nicht alles so “genau besehen” zu wollen.
Denn ist es nicht schrecklich naiv, wenn wir mit der Lupe kommen, um auch noch den kleinsten Schönheitsfehler aufzustöbern und dann möglicherweise enttäuscht sind? Denn dass es sie gibt, diese Fehler, das liegt wohl doch in der Natur der Sache. 😉
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