Dank Ali musste ich mir diesen furchtbaren Artikel im Rheinischen Merkur antun, in dem Hans-Joachim Neubauer zwar nicht schafft zu vermitteln, was er uns sagen will, aber er schafft es ziemlich viel Blödsinn zu erzählen. Vor allem dass Wissenschaft irgendwie eine Religion sei. Vor allem fällt aber auf, dass die richtig dicken Behauptungen meistens in kurzen Sätzen im Dickicht von Literatur- und anderen Zitaten stecken – und überhaupt nicht begründet werden. Ich nehm mal nur ein paar Sachen raus:
So viel Wissen, so wenig Erkenntnis! Das H1N1-Virus rast um den Erdball, und in Deutschland grübeln seine möglichen Wirte, ob sie sich impfen lassen sollen. Dabei könnte es so einfach sein, sich zu entscheiden. Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren so viele Kenntnisse so zugänglich wie heute.
Gleich der Anfang lässt grübeln.
Nur weil man viel weiß, heißt dass nicht dass komplexe Entscheidungen mit vielen Faktoren dadurch einfacher werden. Wenigstens hat uns das Wissen erlaubt, H1N1 zu identifizieren, zu verfolgen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Die Risikoabwägung ist natürlich per Definition komplex und nicht eindeutig.
An der University of California in Berkeley haben Forscher berechnet, dass die Informationsmenge zwischen 1999 und 2002 um linear 30 Prozent jährlich zunahm. Andere Studien berichten von einem exponentiellen Wachstum. Demnach verdoppelt sich, was die Menschheit weiß, alle 15, zehn oder gar fünf Jahre
Ach herrje, hätte der Mann nur die ersten 1:45 Minuten meines Video am Freitag aus dem Oktober angesehen. Dann hätte Albrt Bartlett ihm schön gezeigt, dass 30% pro Jahr exponentielles Wachstum bedeutet. Und außerdem, dass man mit der Faustformel 70/Prozentzahl die Verdopplungszeit angeben kann. In diesem Fall wäre also 30% pro Jahr ein exponentielles Wachstum mit einer Verdopplung etwa alle 2,3 Jahre. Viel weniger als die Zahlen aus den anderen Studien.
Das macht es nicht leichter, den Informationshaufen auch zu nutzen – zum Beispiel, um sich zu entscheiden für eine Impfung. Oder doch dagegen. Was also tun?, werden die Wissenschaftler gefragt. Und so treten sie in ihrer Rolle als Experten, also Erprobte, vor die Kameras und Mikrofone und sagen, was zu tun sei.
Tun die Wissenschaftler das wirklich? Oder tragen sie viel mehr vor, was das Wissen ist, das sie gesammelt haben, und versuchen die damit verbundene Wahrscheinlichkeitsaussage in Empfehlungen zu binden?
Was immer sich ermitteln lässt, wird im Rahmen statistischer Modelle aufeinander bezogen; am Ende steht ein Ratschlag. (…) Der Wissenschaft wird ein religiöser Status zugesprochen. Die Aussagen widersprechen einander, aber das Publikum will den Heilslehren glauben.
Katastrophe, Katastrophe. Wieso wird der Wissenschaft ein religiöser Status zugesprochen? Das würde bedeuten, dass die Wissenschaftler Aussagen machen, die sie nicht begründen oder auch nur erforschen müssen sondern als Dogma hinstellen, das sie quasi als kosmische Eingabe erhalten hätten. Dabei hat Herr Neubauer ausdrücklich nur zwei Sätze vorher (einen wilden Satz hab ich ausgelassen) ein gutes Argument gebracht, warum das genau eben NICHT so ist: Was sich ermitteln lässt, wird statistisch ausgedrückt. Weil es eben keine eindeutige Ja/Nein-Frage ist.
Als erstes Dilemma fiele ihm gewiss der Gegensatz zwischen Qualität und Quantität auf: Mehr Wissen erzeugt mehr Unwissen. Kenntnisse bedeuten noch keine Erkenntnis.
Im folgenden scheint der Autor ausdrücken zu wollen, dass Wissenserkundung mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Das scheint er für schlecht zu halten. Dass aber tatsächlich das Wissen ansteigt und genutzt wird, wie man leicht nachweisen kann (längere Lebenserwartung, z.B.), ignoriert er völlig. Außerdem verwechselt oder vermischt er Unwissen, von dem man weiß (=offene Fragen) und generelles Unwissen.
Darüber kann auch eine immer wissenschaftlichere Sprache nicht hinwegtäuschen.
Die sehr beliebte Journalistenfloskel: …immer mehr…
Eine Begründung oder einen Beleg liefert er nicht. Ich würde vermuten, dass im Mittelalter lateinisch publiziert wurde hat Wissenschaft nicht zugänglicher gemacht. Und der Sinn von Wissenschaftskommunikation ist doch gerade, das notgedrungen spezifische Vokabular verständlich zu machen.
Wer seine Stellung in der Welt und sein Verhältnis zu den anderen beschreibt, greift zu Begriffen und Modellen aus der Physik, der Biologie oder der Soziologie. Schon Kinder kennen Schwarze Löcher und den Urknall, fast jeder weiß oder glaubt zu wissen, wie eine Doppelhelix aussieht,(…)
Wirklich? Dass soll die schlimme spezifische Sprache sein? Dass man wichtigen entdeckten Phänomenen Namen gibt? Und das schreibt der Mann der wie selbstverständlich alles mit Kant- und Goethezitaten durchsetzt?
Wo früher Gott, Schicksal oder Zufall walteten, machen sich heute Gene und Viren breit, und bei vielen ersetzt das Gehirn die Seele als Ort des Selbst.
Und das ist auch gut so.
Ein Heer von Fachleuten und Spezialisten soll den Fortschritt der Erkenntnis vorantreiben und das Wissen mehren.
Ja wer sonst? Bäcker und Klempner? Die Leute die Wissen vermehren sind per definition die Spezialisten dafür. Ein Kreisschluss.
Dass sie darauf trainiert sind, Lösungen zu präsentieren, könnte der hellsichtige Alien für ziemlich paradox halten.
Dass Spezialisten darauf trainiert sind, Lösungen zu Problemen zu erarbeiten (nicht nur zu prsäentieren, da steckt vor allem ARBEIT dahinter), ist paradox? Oh und bitte, Herr Neubauer, nicht hinter rhetorischen Figuren verbergen: Wenn Sie es paradox finden, sagen sie es auch. Eine Begründung wäre auch nicht schlecht, sonst wirkt das ganze so … religiös-dogmatisch.
Denn jede Lösung gebiert bekanntlich neue Probleme. Wäre es da nicht klüger, so könnte er vermuten, gar keine Fragen zu stellen, um von Kants „unnützem Plunder” verschont zu bleiben?
Einfache Antwort: Nein. Sonst säßen wir noch in der Höhle und wüssten nichts von Faustkeil und Feuer.
Hubert Markl, (…) beschrieb das Wissen einmal als eine sich ausdehnende Kugel, die im Universum des Nichtwissens schwebt. An der anwachsenden Oberfläche entstehen immer mehr Punkte des Kontakts mit dem Nichtwissen.
Ok, das heißt vermutlich auch nur, dass man immer mehr neue Fragen entdeckt.
Könnte es sein, so die pessimistische Deutung dieses Bildes durch den Philosophen Jürgen Mittelstraß, dass die Forschung mehr Nichtwissen als Wissen produziert?
Dieses Argument führt Neubauer im folgenden noch durch schlechte “Rechnung” aus.
Was soll das? Es geht doch nur darum dass mehr Fragen auftauchen. Nichtwissen kann man nicht produzieren, denn es ist ja quasi das Leere. Wir können nur mehr Kontakt zum Nichtwissen herstellen, am “Rand” der Wissenskugel. Die Forschung produziert kein Nichtwissen, sie verringert es. Das Wissen nimmt zu, aber die Anzahl offener Fragen nimmt zu. Das wäre die korrekte und logische Interpretation dieses Bildes.
Ein ganzes Gemeinwesen, das sich diesen Freuden ergibt, ein Staat, in dem Vernunft statt Willkür waltet, eine Welt, in der Neugier als Tugend gilt und nicht als Laster – sah so nicht das Utopia der Aufklärer aus?
Ja, in der Tat. Die Aufklärer machen sich aber keine Illusion dass diese Welt erreichbar sei, denn die Welt ist nun einmal komplex. Das heißt nicht, dass man nicht mal politische Entscheidungen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse treffen kann, was ja leider selten geschieht.
Denn tatsächlich verkünden die Propheten der Postmoderne ihre Ratschlüsse so, wie es von ihnen erwartet wird – als Wahrheiten.
Ich dachte postmodern wäre dieses Geschwafel von wegen “Wissen ist nur eine Illusion, Wissenschaft ist auch nur eine Art zu glauben.”, also genau das was der Neubauer hier ausgießt? Und wieder einmal behauptet er einfach mal dass Wissenschaftler ihre Erkenntnisse as Wahrheit verkaufen. Begründung: Nicht nötig. Widersprüche auflösen zu seinen früheren Aussagen (statistische Modelle…): Nicht nötig. Überlegung, ob das vielleicht wegen der mangelhaften Wissenschaftsausbildung, dem verkürzten journalistischen Bullet-Point-Stil und dem mangelnden Verständnis von Wahrscheinlichkeiten so erscheinen könnte: Brauchmanich.
Gebannt hängen die Bürger der Bildungsrepublik an den vor Wahrheit strahlenden Lippen der Experten.
Haha ja klar, sieht man ja jeden Tag hier bei SB.
Mehr Wissen schafft Unwissen, und Wissenschaftler sind weder Propheten noch Politiker.
Also nochmal: Wissen schafft mehr Fragen. Das ist nicht gleich Unwissen. Und was hat unsere Kanzlerin nochmal gelernt? Ich dachte eigentlich immer, Politik ist das was alle angeht…
Eine weitere, dritte Beobachtung dürfte den Reisenden aus dem Weltall besonders beschäftigen – die Unfähigkeit all der Wissenschaftler und Experten, sich zum Vorläufigen ihres Wissens zu bekennen.
Und das ist die steilste unbegründete Aussage im Artikel – schwer zu glauben nach allem was da war. Scheint wieder auf dieses Religions-Argument hinauszulaufen. Herr Neubauer, zeigen sie mir EINEN seriösen Wissenschaftler der dies behauptet. Also wir einfachen Mittelbau-Wissenschaftler hier bei SB werden nicht müde, das Gegenteil zu vermitteln. Eben genau weil es die Stärke und Grundlage der Wissenschaft ist. Aber nur weil sich in 10 Jahren eine Erkenntnis ändern könnte, entbindet das nicht von der Erwartung, doch jetzt auch schonmal ein Ergebnis zu haben. Da Wissen niemals endgültig ist, würde es sonst auch die völlige Handlungsunfähigkeit in jeder Hinsicht bedeuten. Das wahre Problem ist, dass nicht vermittelt wird, dass es komplexe Fragen gibt und wie man damit umgeht. Zu jammern, dass es keine einfachen Antworten gibt, hilft da nicht. Da sind die Journalisten gefragt, genau die sind diejenigen die das verbreiten müssten (natürlich neben einer besseren schulischen Bildung in der Hinsicht).
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