In Physics Today vom November 2010 haben Yakir Aharonov, Sandu Popescu und Jeff Tollaksen die Quantenphysik mit Zuständen beschrieben, die rückwärts in der Zeit reisen.
Klassische physikalische Systeme sind – wenigstens theoretisch – völlig vorhersehbar. Wenn man die momentane Positionen aller Beteiligten und auch deren Energie beliebig genau messen kann, kann man für alle Zeiten vorhersagen, was passieren wird. Das nennt man Determinismus. Auch die Richtung der Zeit spielt hierbei keine Rolle: Man kann genauso gut aus jedem späteren Blick auf das System die Vergangenheit berechnen.
In der Quantenphysik bricht diese Zeitsymmetrie allerdings zusammen, wenigstens in der beliebtesten Interpretation: Der Blick auf das System, also eine Messung, beeinflusst das System selbst. Die mathematische Beschreibung des Zustandsberichtes nennt man die Wellenfunktion. Und so fern es von unserer Alltagsintuition entfernt ist, solange man nicht misst, hat man einen ganzen Katalog an Zustandsberichten, die gleichzeitig gelten, und erst mit der Messung zu einem Bericht kollabieren. Dies ist nicht mehr symmetrisch in der Zeit: Die Messung selbst zerstört die Möglichkeit, auf das “vorher” schließen zu können, abgesehen davon dass nur als Wahrscheinlichkeiten vorhersagbar ist, welcher Zustandsbericht schließlich abgegeben wird. Die Quantenphysik ist nicht mehr deterministisch.
Aber wenigstens die Zeitsymmetrie lässt sich in einer mathematisch erweiterten Interpretation wiederherstellen – die aber mutige Konzepte beinhaltet. Verantwortlich für diese Formulierung waren 1964 Yakir Aharonov, Peter Bergmann und Joel Lebowitz. Richtig Fahrt hat diese Art, Quantenphysik zu rechnen, aber erst 1990 mit der Beschreibung der schwachen Messung durch Aharonov und Lev Vaidman aufgenommen (alle Referenzen im Fuß).
Rückwärts in der Zeit
Machen wir doch ein Quanten-Experiment: Irgendwo müssen wir ja anfangen, und als gewissenhafte Experimentatoren stellen wir das System mit viel Sorgfalt ein. Wir wissen genau, wie es am Anfang aussieht. Man könnte sagen, wie haben ein Ensemble (eine Gruppe an Bausteinen die das Quantensystem bilden) vorselektiert. Jetzt lassen wir das System mal eine Zeit lang in Ruhe (messtechnisch). Was auch immer das System so treibt, wir können nur noch Wahrscheinlichkeiten angeben wo es hintreiben kann – aber die können wir auch wirklich und wahrhaftig angeben. Sollten wir uns fragen, wie wahrscheinlich es ist, in einen gewissen Endzustand zu treiben, müssen wir alle möglichen Zwischenzustände beachten. Nochmal, weil es wichtig ist: Die Zwischenzustände können wir nicht direkt (oder stark) messen, weil wir dann das System stören. Der Endzustand ist wieder stark gemessen.
Aharonov aber hatte eine einfache und doch beunruhigende Idee: Wir können doch aber auch den Endzustand wieder nachselektieren, also wieder nur eine Untergruppe möglicher Endzustände auswählen, und dann postulieren dass nicht nur die vorselektierten, sondern die Kombination aus vorselektierten und nachselektierten Ensembles die Basis für die Beschreibung des Systems wird.
Das ist zunächst tatsächlich so trivial wie es klingt: Ich weiß, wie mein System am Anfang aussieht, wähle mir dann aus dem Katalog der möglichen Zustandsberichte am Ende einen interessanten aus und benenne das als Quantensystem. Mathematisch interessant wird das als Rechenmethode, die einfacher ist als die üblichen Rechnungen aus Richtung der Vergangenheit. Beunruhigend wird das, weil das bedeutet dass die neue Komponente Rechnungen aus der Zukunft rückwärts in der Zeit werden. Atemberaubend werden die Folgerungen, die man daraus über die Zustände zwischen den Messungen ziehen kann (Dinge wie negative Wahrscheinlichkeiten), und der Hammer wird es, dass man dank der schwachen Messung diese Dinge tatsächlich messen kann.
Schwache Zustände
Auf der einen Seite sind schwache Zustände “nur” eine statistische Annäherung an Quantensysteme durch Messungen, die das System nicht kollabieren lassen. Auf der anderen Seite lässt die zeitsymmetrische Formulierung und die Bestätigung durch Experimente die schwachen Zustände Realität werden – oder meinetwegen unsere beste quantenphysikalische Annäherung an die Realität.
Physikalisch einfach würde man jetzt z.B. mit dem Spin eines einzelnen Teilchens arbeiten, aber um nicht am Spin zu hängen stellen wir uns als Baustein des Quantensystems einfach einen arg kleinen Quantenkompass vor, dessen Nadel in irgendeine Richtung zeigen kann:
Die wahre Richtung (der rote Pfeil) lässt sich in der Quantenphysik nicht bestimmen, das ist quasi eine der “großen Wahrheiten” der Axiome der Quantenwelt. In der Tat muss man die Antwort in Anteile in Nord-Süd-Richtung und West-Ost-Richtung unterscheiden. Und noch mehr, wenn man ganz genau den Anteil in N-S-Richtung kennt, hat man gar kein Wissen über die W-O-Komponente!
Das ist alles klassische Quantenmechanik und hat noch nichts mit Aharonov zu tun. Der kommt jetzt. Stellen wir uns ein vorselektiertes Ensemble vor – wir drehen einfach den Quantenkompass ganz sicher in Nord-Süd-Richtung. Und dann nachselektieren wir das Experiment – wir nehmen am Ende der Experimentalzeit nur solche Ergebnisse, bei denen der Kompass in West-Ost-Richtung zeigt. Die Frage ist: Wohin zeigt er zwischendurch?
Eigentlich sollte er zwischendrin in einem Zustand sein, der der Addition der beiden getrennten Richtungen geteilt durch Wurzel 2 entspricht (damit die Länge 1 richtig herauskommt). Wenn Aharonov aber ernsthaft die Rechnung durchzieht und den Zustand aus der Vorwärtsrechnung des vorselektierten Systems plus der Zeit-Rückwärts-Rechnung aus dem nachselektierten Ensemble berechnet, kommt Wurzel 2 durch 2 heraus – die Kompassnadel ist länger geworden?!
Aber wie wollen wir feststellen, ob das tatsächlich der Fall ist? Wir können nicht direkt messen, denn dann kollabiert das System sicher in einen Zustand.
Die Lösung ist eine schwache Messung. Eine schwache Messung zerstört das System nicht, erreicht aber nur eine ungenaue Messung, die erst statistisch aussagekräftig wird – also wenn man das Experiment oft wiederholt. Dann aber erhält man immer noch keinen genauen Wert, sondern stattdessen, wenn man N Wiederholungen hat, ein Ergebnis mit einem Fehler von Wurzel N. Das Ergebnis obiger Überlegungen im zeitsymmetrischen Bild ergibt tatsächlich eine Länge von Wurzel 2 durch 2 für die Kompassnadel, die 1 lang sein sollte. Bei einem möglichen Fehler von Wurzel N passen diese Zahlen zusammen – aber in den Fällen, in denen die Kompassnadel vorher in Nord-Süd-Richtung zeigte und hinterher in West-Ost, befand sie sich zwischen den Messungen unzweifelhaft in einem (schwachen) Zustand der Länge Wurzel 2 durch 2.
Gehen zwei Menschen in einen Fahrstuhl, kommen drei heraus…
Und es geht noch verwirrender: Stellen wir uns ein System mit drei Schachteln vor. In einer Schachtel befindet sich eine Kugel. Am Anfang haben wir keine Ahnung, wo die Kugel sich befindet. Unser Katalog enthält daher drei Zustandsberichte gleichzeitig, in denen sich die Kugel in jeweils einer Box befindet. Nachher sind wir schlauer und selektieren als Zustandsbericht das Auffinden der Kugel in genau einer Schachtel. Wir können uns eine schwache Messung vorstellen: Eine empfindliche Gravitationsmessung in der Nähe der Schachtel könnte, ohne das System zu stören, nachsehen wo die Kugel sich befindet. In einer schwachen Messung, also nach vielen (N) Wiederholungen (Und der richtigen aber möglichen Art, mathematisch den Anfangs- und Endzustand aufzuschreiben), wäre dies das Ergebnis mit einem bei vielen Wiederholungen vernachlässigbaren Fehler Wurzel N: Die Kugel befindet sich mit Sicherheit in Schachtel 1.
Die Kugel befindet sich mit Sicherheit in Schachtel 2.
Und in Schachtel 3, zum Ausgleich, befindet sich mit Sicherheit minus eine Kugel.
Das ist keine theoretische Spinnerei, das hat man tatsächlich gemessen, mit Mach-Zender-Interferometern und verschränkten Photonen.
Folgerungen
Was können wir also für den Ausfbau der Welt daraus schließen? Dass die Zukunft das Jetzt beeinflusst? Dass Zeitreisen möglich sind? Nein. Auch wenn die mathematische Formulierung die überraschende Hälfte aus der Zukunft zurückreisenden Zustände beinhaltet, ist dies doch vor allem nur ein Trick, der Rechnungen erleichtert, die man klassisch – mit mehr Mühe – ganz genauso ableiten kann. Die Wahrheiten über die schwachen Zustände ist noch schwerer zu verdauen als das, was die Quantenphysik unserer evolutionär-skalentechnisch begrenzten Intuition eh schon abverlangt, daraus lässt sich aber letztendlich keine Aussage über “handfest” Gemessenes ableiten. Zeitreiseszenarien daraus zu folgern, ist genauso falsch wie irgendwelche Quantenheilungsverfahren mit der Unschärferelation zu begründen. Es ist eine Technik, die mathematisch und experimentell unser Verständnis der Welt strikt erweitert und nicht modifiziert.
Dennoch stellt Aharonov eine gewaltige Frage: Wenn wir kosmologisch den Urknall als klar definierten vorselektierten Quantenzustand des neuen Universums betrachten, sagt uns dann dieser Formalismus, dass es auch einen klar definierten Quantenzustand am Ende des Universums gibt?
Referenzen
1. Y. Aharonov, S. Popescu & J. Tollaksen (2010): A time-symmetric formulation of quantum mechanics, Physics Today, November, 27-32
2. Y. Aharonov, P. G. Bergmann & J. L. Lebowitz (1964): Time symmetry in the quantum process of measurement, Physical Review, 134, B1410
3. Y. Aharonov & L. Vaidman (1990): Properties of a quantum system during the time interval between two measurements, Physical Review A, 41, 11-20
4. Y. Aharonov & L. Vaidman (1991): Complete description of a quantum system at a given time, J. Phys. A, 24, 2315-2328
PS.: 500ter Artikel!
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