Also die Neutrinogeschichte nervt mich mittlerweile. Lassen wir doch mal von einer CERN-Messung reden, die tatsächlich interessant ist. Nämlich die, dass es dem kleinsten Experiment am LHC, TOTEM, gelungen ist nachzuweisen, dass das Proton bei höheren Energien größer wird.
Wie TOTEM funktioniert und was es untersucht, hatte ich bereits hier beschrieben.
Kurz gefasst bringt es spezielle Detektoren, die “römische Töpfe” genannt werden ganz dicht an den Teilchenstrahl, um Ablenkungen bei Kollisionen mit sehr kleinem Winkel zu messen. Dazu hat man eine spezielle Experimentierzeit am LHC eingefordert, in der die Protonendichte deutlich kleiner war als sonst, was erlaubte den Detektor noch näher an den Strahl zu bringen.
Gut in Form
Jetzt müssen wir ein bisschen in die physikalische Fachbegriffswelt exkursieren, sonst sagt keine der beiden Achsen des entscheidenden Plots euch etwas. Aber keine Angst, ich machs so knapp wie möglich.
Die erste Größe ist der Impulsübertrag. Das ist recht einfach zu verstehen, denn wir wissen ja schon dass uns Ablenkungen bei besonders kleinen Winkeln interessieren. Jetzt stellt euch vor, ihr wollte einen Ball aus der Bahn lenken, der an euch vorbeirollt. Wenn ihr den Ball nur wenig ablenkt, habt ihr ihn weniger fest angestoßen, als wenn ihr ihn in weitem Bogen wegschießt. Das Maß dafür, wie feste ihr getroffen habt, ist der Impulsübertrag.
Für unsere Protonen heißt das: Je größer der Ablenkwinkel in einer Kollision zwischen zwei Protonen, desto größer der Impulsübertrag. Jetzt kommt noch die kleine Komplikation hinzu, dass die Protonen so schnell sind, dass sie nahe an der Lichtgeschwindigkeit sind und man relativistisch rechnen muss. Dazu muss man statt drei Raumkoordinaten noch die Zeit hinzunehmen und spricht von Vierervektoren, bzw. man bestimmt das Quadrat des Viererimpulsübertrages, hier mit t bezeichnet.
Die zweite Größe ist der (differentielle) Wirkungsquerschnitt, der ein Maß dafür angibt wie wahrscheinlich eine Kollision ist.
Entwickeln wir die Idee von hier aus: Ihr sammelt obigen Ball auf und schießt damit auf ein Tor. Der Wirkungsquerschnitt ist hier, ziemlich naiv, die Fläche des Tores. Jetzt gibt es hier aber im Vergleich zu Protonenschießen nur die Möglichkeiten, Treffer oder nicht.*
Oder halt, ihr könntet auch den Pfosten treffen: Dann ändert ihr die Bahn des Balles, ohne aber zu treffen. Wenn wir mit Kräften arbeiten, ist das immer eher so, als ob man Streifschüsse an den Pfosten setzt. Das ist das klassische Experiment von Rutherford, als er eine Goldfolie mit Teilchen beschoss: Manche kamen ganz zurück, das sagte ihm dass es einen festen Atomkern gab. Aber die allermeisten wurden nur etwas abgelenkt. Das sagte Rutherford, dass Atome zum Großteil leer sind, aber die elektrische Wechselwirkung mit dem Kern die Geschosse beeinflusst. Und wie stark jetzt die Ablenkung ist abhängig von der Entfernung (und vom Winkel) vom Atomkern, das ist der differentielle Wirkungsquerschnitt.
Nicht mehr so anschaulich, aber passender wäre folgender Vergleich: Euer Ball ist aus Metall, und ihr schießt ihn mit einer Kanone auf einen Stab, der einen sehr starkes Magnetfeld entwickelt. Dann würde der Ball stärker abgelenkt, je näher ihr am Zentrum vorbeischießt.
Was man aber letztendlich in solchen sogenannten Streuexperimenten misst, ist der Zusammenhang zwischen Entfernung/Winkel (angezeigt durch den Impulsübertrag) und Streuquerschnitt. Für einen echten Punkt wäre es natürlich einfach, aber so ein Proton ist doch räumlich ausgedehnt, wie eine Wolke von Ladung aus Gluonen und ProtonenQuarks. Für Rutherford war der Goldatomkern noch ein Punkt, denn die Energien mit denen er schoss waren klein. Aber wenn man höhere Energien hat, kann man damit kleinere Strukturen auflösen. Der LHC ist in Wirklichkeit das stärkste Mikroskop der Welt, denn seine Rekordenergien lösen sehr kleine Strukturen auf.
Und diesen Sachverhalt definiert man so: Die Grundlage ist der klassische Streuquerschnitt von Rutherford für eine Punktladung. Daran multipliziert man eine Formel, die man den Formfaktor nennt und der alle Informationen enthält, wie das streuende Zentrum tatsächlich geformt ist, also die Abweichung vom Punkt. Fein daran ist, dass man die Kiste dann Fourier transformieren kann und die Ladungsverteilung erhält. In Streuversuchen von Elektronen an Atomkernen hat man so z.B. die innere Struktur der Protonen und Neutronen entdeckt. Wer mehr dazu wissen will, kann sich z.B. dieses Vorlesungskapitel ansehen, für alle anderen reicht es zu wissen, dass wenn man Impulsübertrag gegen Wirkungsquerschnitt aufzeichnet, man Informationen über die Form des Teilchens erhält, auf das man schießt.**
Verfressene Protonen
In einem Preprint hat die TOTEM-Kollaboration ihre Ergebnisse vorgestellt (siehe auch CERN Courier. Hier der entscheidende Plot:
Auf der x-Achse also ist t, der Viererimpulsübertrag, und auf der y-Achse der differentielle Wirkungsquerschnitt. Der wirklich interessante Aspekt ist aber der eigentliche Grund, warum man diese Messung unternommen hat: Nämlich dass die Form des Plots von der Energie der Protonen abhängt, die man aufeinander geschossen hat. Bei höherer Energie verschiebt sich der Gipfel in der Mitte des Formfaktors nach rechts. Oder einfacher ausgedrückt: Bei höherer Energie ist das Proton größer.
Das hat man tatsächlich noch gar nicht so oft messen können, denn Proton-Proton-Kollidierer gab es nicht viele. Zuerst stellte man diesen Effekt vor vierzig Jahren an den Intersecting Storage Rings (ISR) fest, die aber nur einen Bereich zwischen 23 und 62 GeV durchsuchen konnten. Aber man stellte fest: Der Gipfel wird mit höherer Energie breiter und verschiebt sich nach rechts, während aber der Abfall bei höherem t davon ungerührt etwa mit t-8 läuft.
Und TOTEM konnte dem jetzt einen weiteren Datenpunkt bei höherer Energie (7 TeV) hinzufügen, der Modelle bestätigt, die die Abhängigkeit des Proton von seiner Energie vorhersagen. in den 40 Jahren dazwischen konnte lediglich der RHIC in Brookhaven einen Punkt bei 200 GeV vermessen.
TOTEM wird weiter verbessert, um noch kleinere und größere Impulsüberträge zu messen. Das wird erlauben, die Struktur des Protons viel besser als je zuvor aufzulösen und unser Verständnis der komplizierten Starken Wechselwirkung und ihrer Feldtheorie, der Quantenchromodynamik (QCD) zu verbessern.
* Bzw, wenn ihr so fähig seid wie ich, gibt es nur: Kein Treffer.
** Ja, ich weiß, hier schießt man zwei Protonen aufeinander. Same difference.
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