Eigentlich ist es nur eine Variation der alten Geschichte vom Glas, das entweder halb voll oder halb leer ist. Der Blickwinkel macht es, der Standpunkt von dem aus man die Sache betrachtet. Jeder weiß, daß jede Beobachtung vom jeweiligen Beobachter abhängt. Und daß Beobachter bestimmte Standpunkte haben und die Dinge eben auf “ihre” Weise betrachten…
Und doch ist es manchmal ganz nett, wenn man diesen Sachverhalt wieder in aller Deutlichkeit vor Augen geführt bekommt. Wie am Beispiel dieser unverdächtigen Allensbach-Studie zum Stellenwert der Evolutionslehre in der Gesellschaft…
Allensbach-Befragung zur Evolutionslehre
Ganz kurz zum Gegenstand: das Allensbacher Institut für Demoskopie hat vor wenigen Wochen insgesamt 1800 Bundesbürger befragt, ob ihnen erstens die auf Charles Darwin zurückgehende Erklärung für die Entstehung der Arten bekannt ist und zweitens, ob sie dementsprechend glauben, daß Affe und Mensch gemeinsame Vorfahren haben.
63% der Bundesbürger halten Darwins Lehre über die Entstehung der Arten für zutreffend
Das Ergebnis der Befragung: Immerhin 63 Prozent (in Westdeutschland 61 Prozent, in Ostdeutschland 72 Prozent) sind davon überzeugt, dass die Evolutionslehre richtig ist. 18 Prozent der Bevölkerung bezweifeln diese These. 19 Prozent verhalten sich unentschieden zu Darwins Lehre. Unter den Katholiken fällt – was wenig verwundert – die Zustimmung zur Evolutionslehre etwas geringer aus: nur 53 Prozent halten sie für zutreffend.
Eigentlich sollte man meinen, daß eine Meldung über diese kleine Befragung kaum Spielraum für großartige Verzerrung bietet. Oder etwa doch?
Wie Schlagzeilen die Nachricht präformieren
Wie leicht sich – allein durch die Auswahl der Überschrift – die Meldung in eine bestimmte Richtung drehen läßt, zeigt sich, wenn man die jeweilige Nachricht von Süddeutscher Zeitung und Focus-Online gegenüberstellt.
Süddeutsche.de vermeldet heute früh ganz selbstverständlich:
Naja, die 63% Zustimmung sind ja (wenigstens im Vergleich zu anderen Ländern) halbwegs passabel. Und vor allem im zeitlichen Verlauf wird deutlich, daß die Evolutionslehre immer mehr Anhänger findet: 1970 waren es gerade mal 38%, die sich mit dem Gedanken anfreunden konnten, daß es eine gemeinsame Ahnenreihe von Mensch und Affe gibt. 1988 waren es immerhin schon 48% und heute vermelden wir eben den Anstieg auf 63%.
Insofern leuchtet die Schlagzeile ein: “Immer mehr von Charles Darwins Theorien überzeugt”. Klarer Fall, oder?
Gleicher Gegenstand, andere Nachricht
Nicht so ganz, wenn man sich dieselbe Meldung bei Focus-Online ansieht. Denn bei den Kollegen bekommt die Story einen etwas anderen Dreh:
Nicht schlecht, oder? Aber irgendwie liest sich das ganz anders, als bei der Süddeutschen. Hmmm…? Aber falsch ist die Sache freilich auch nicht. Es kommt einfach darauf an, wie man es sieht.
Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Sind es nun die verbliebenen Zweifler oder die steigende Zahl an Darwin-Fans, die die Nachricht machen? Und welche Nachricht blieb den Lesern von SZ im Gedächtnis? Welche Botschaft haben die Focus-Leser erhalten?
Eine Meldung und verschiedene Informationsgehalte. Niklas Luhmann – und wer sollte am Großmeister der Soziologie zweifeln – wußte:
“Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.” *
Die Massenmedien “machen” die Welt. Durch Schlagzeilen beispielsweise. Und nun wissen wir immerhin, daß Süddeutsche- und Focus-Leser in anderen Welten leben…
- Allensbach-Studie: Die Meisten glauben inzwischen an einen gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affe [PDF]
* Niklas Luhmann. Die Realität der Massenmedien. Opladen, 1996. S.9.
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