Die medizinische Forschung steht bisweilen vor einem Dilemma: einerseits sind viele Studien ohne Zusammenarbeit mit Pharmafirmen überhaupt nicht durchführbar, andererseits stellt sich natürlich die Frage, ob unter diesen Rahmenbedingungen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis einzuhalten sind. Und Interessenskonflikte sind – wie eine aktuelle Analyse belegt – häufiger und subtiler, als man denkt.
Das Problem von Interessenskonflikten der Forscher und beteiligter Institutionen gibt es freilich nicht nur in der Medizin. Auch in anderen Disziplinen gilt die Regel, daß bei Publikationen, Vorträgen oder anderen Veröffentlichungen alle wirtschaftlichen und anderweitigen Interessenkonflikte offen gelegt werden müssen. Und das ist absolut das Mindeste, was man strenggenommen erwarten kann. Denn eine Verzerrung der (publizierten) Studienergebnisse findet beim Vorliegen von Interessenkonflikte ganz offensichtlich statt.
Bei 1/3 aller Krebsstudien liegen Interessenskonflikte vor
Ein Forscherteam um Reshma Jagsi von der University of Michigan hat insgesamt 1.534 Krebsstudien ausgewertet, die im Jahr 2006 in renommierten Peer-Review-Journals publiziert wurden.* Dabei stellten sie fest, daß in 29% aller Fälle ein Interessenkonflikt gegeben war. 17% der Studien waren direkt von der (Pharma-)Industrie finanziert, in 12% der Studien waren Firmen-Mitarbeiter direkt beteiligt.
Wenn Interessenkonflikte vorliegen, dann wirkt sich das auf Themenstellung und Ergebnisse der Studien aus.
Bei der Auswertung zeigte sich, daß – was kaum verwundern dürfte – die von der Industrie gesponserten Studien sehr häufig bestimmte Therapien zum Inhalt hatten (in 62% der Fälle). Die Untersuchung von Risikofaktoren, Präventionsmaßnahmen oder diagnostischen Methoden war allerdings überaus selten (20%) das Thema, während das bei den Studien ohne vorliegenden Interessenkonflikt bei 47% der Fall war.
Das ist für sich genommen eine Feststellung, die kaum verwundert. Denn daß für die Pharmafirmen nicht alle Fragestellungen gleichermaßen interessant sind, liegt auf der Hand.
Interessanter ist da schon ein weiterer Befund der Analyse: bei Studien, die u.a. die Überlebensrate bzw. Überlebenszeit als Endpunkt hatten, lieferten die Studien (mit Interessensverquickung der Forscher) deutlich positivere Ergebnisse. Kurz: sobald Pharmafirmen direkt oder indirekt an Krebsstudien beteiligt sind, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß die Studie am Ende der fraglichen Behandlungsmethode (bzw. dem Medikament/Wirkstoff) einen Vorteil bescheinigt.**
Über die Faktoren, die zu diesen Verzerrungseffekten führen, kann man natürlich trefflich spekulieren. Reshma Jagsi stellt jedenfalls fest:
“A serious concern is individuals with conflicts of interest will either consciously or unconsciously be biased in their analyses. As researchers, we have an obligation to treat the data objectively and in an unbiased fashion. There may be some relationships that compromise a researcher’s ability to do that.”
Ist unabhängige medizinische Forschung möglich?
Die Problematik – vor allem im Bereich der klinischen Forschung – ist natürlich altbekannt. Auf der einen Seite steht die normative Forderung einer vollständig nüchternen, neutralen, ergebnisoffenen Forschung, auf der anderen Seite steht das Beziehungs- und Verpflichtungsnetz der beteiligten Akteure, die materielle und immaterielle Verbindungen zueinander haben.
Wer wundert sich wirklich über Verzerrungseffekte? Wissenschaft wird von Menschen gemacht.
Aber wer kann sich darüber wundern? Wissenschaft wird von Menschen gemacht. Und so sehr wir uns wünschen, daß die Forscher vollkommen unvoreingenommen an ihre Forschungstätigkeit herangehen, alle Untersuchungsschritte genaustens dokumentieren und analysieren und schließlich in transparenter Art und Weise die Ergebnisse publizieren, so gering sind die Chancen, daß ein solches “Forschungs-Ideal” Wirklichkeit werden kann.
Gerade in der Medizin sind Beratungstätigkeiten, bezahlte Vorträge bei Schulungen, Einladungen zu Konferenzen inkl. Honorar und Spesenübernahme und weitere Maßnahmen der Landschaftspflege an der Tagesordnung. Das (medizinische) Forscherteam, dessen Mitglieder zu keiner Zeit irgendwelche Zuwendungen von der Pharmaindustrie erhalten haben (sei es persönlich oder “nur” zur Finanzierung von Forschungsprojekten), muß erst noch zusammengestellt werden.
Und so braucht es den einzelnen Wissenschaftlern gar nicht bewußt zu sein, daß sie – und mit ihnen ihr fachliches Urteil und ihre Expertise – einem bestimmten Bias unterliegen. Die Vokabel Käuflichkeit muß man in diesem Zusammenhang auch gar nicht unbedingt bemühen. Befangenheit wirkt – auch wenn man sie gar nicht spüren und wahrhaben will. Und diejenigen, die sich wirklich befangen fühlen, die geben wohl – wie man bspw. am Fall von Scott Reuben sehen kann – erst gar nicht alle Interessenkonflikte an.
Quelle:
- Reshma Jagsi, Nathan Sheets, Aleksandra Jankovic, Amy R. Motomura, Sudha Amarnath, and Peter A. Ubel: “Frequency, nature, effects, and correlates of conflicts of interest in published clinical cancer research.” CANCER; Published Online: May 11, 2009 (DOI 10.1002/cncr.24306) Print Issue Date: June 15, 2009.
- PM/Blackwell Publishing: Review Finds Conflicts Of Interest in Many Cancer Studies
* Die ausgewerteten Journals waren: New England Journal of Medicine; JAMA; the Lancet; the Journal of Clinical Oncology; the Journal of the National Cancer Institute; Lancet Oncology; Clinical Cancer Research; and CANCER.
** Leider liegt der Artikel bislang online nicht vor (jedenfalls wurde ich nicht fündig.)
*** Oder zynisch: ein finanzieller Einsatz der Pharmaindustrie erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit der Studienteilnehmer.
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