Wahrscheinlich ist Linus Pauling an allem Schuld. Die Erfolgsgeschichte der Vitamine begann jedenfalls Mitte der 60er Jahre, als Nobelpreisträger Pauling auf die Theorie seines Kollegen Irwin Stone aufmerksam wurde, der eine hochdosierte Vitamin-C-Kur gegen Erkältungen empfahl.
Doch Linus Pauling ging einen Schritt weiter: für ihn war Vitamin C eine Allzweckwaffe gegen das Altern und gegen Krebs. Und Linus Pauling machte die Vitamine in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft so richtig populär. Täglich 18g Vitamin C – so lautete seine Empfehlung. In dieser extrem hohen Dosis, das steht heute fest, ist auch die Einnahme von Vitamin C keineswegs sinnvoll. Und in den letzten Jahren mehren sich die Zweifel, ob die Vitamine tatsächlich soviel Nutzen stiften. Möglicherweise sind – wie aktuelle Studien zeigen – sogar einige der grundlegenden Prämissen der Vitamin-Apostel falsch.
Perspektivwechsel: Der oxidative Stress ist gar nicht so “böse”
Weshalb wir altern und krank werden ist bis heute nur ansatzweise verstanden. Schon in den 50er Jahren war bekannt, daß der sog. “oxidative Stress” hierbei eine Rolle spielt. Immer dann, wenn innerhalb des Stoffwechsels durch die Mitochondrien mehr reaktive Sauerstoffverbindungen gebildet werden, als gleichzeitig oxidiert bzw. reduziert werden können, liegt ein Ungleichgewicht, oder eben: oxidativer Stress vor.
Das Problem an der Sache ist, daß die überzähligen freien Radikalen eben eine zellschädigende Wirkung entfalten. Genau das war zu Paulings Zeiten bekannt und das sollen – so die Hypothese – die Vitamine als Radikalfänger verhindern.
Und daß oxidativer Stress unerwünscht ist, daran besteht kaum Zweifel, wie man u.a. an dieser Abbildung aus einem aktuellen Lehrbuch (Hartig/Adolph: Ernährungs- und Infusionstherapie: : Standards für Klinik, Intensivstation und Ambulanz, Thieme-Verlag, 2004, S. 40) sehen kann.
Wie jedoch jüngere Studien an Ratten und Fadenwürmern nahelegen, ist der “oxidative Stress” keineswegs so zentral, wenn es um Alterungsprozesse geht. Beim Fadenwurm haben Forscher die Gene ausgeschaltet, die für den zelleigenen Reparaturprozeß zuständig sind (Bspw. SODs). Die Fadenwürmer wurden allerdings genauso alt, wie ihre Artgenossen.
David Gems vom Londoner University College, der seit Jahren zu diesen Fragen arbeitet, ist sich sicher, daß die Bedeutung des oxidativen Stresses überschätzt wurde. Er erklärt gegenüber der WELT:
“Je nachdem welchen Teil der Zelle man betrachtet und um welche Art Tier es sich handelt, kann ein Ausfall der SODs das Leben verkürzen oder nicht. Eines der Kennzeichen des Alterns ist, dass sich Schäden an den Molekülen häufen. Aber was verursacht diese Schäden? Nach dem, was wir jetzt wissen, kann Peroxid daran höchstens einen kleinen Anteil haben. Andere Faktoren, wie etwa chemische Reaktionen mit Zuckern, spielen dagegen ganz klar eine Rolle.”
Perspektivwechsel: Wie aus den “bösen” freien Radikalen plötzlich sinnvolle Akteure werden
Und ebenso, wie im Hinblick auf den oxidativen Stress und seine Rolle im Alterungsprozeß ein Umdenken stattfindet, werden momentan auch die freien Radikalen – wenigstens teilweise – rehabilitiert.
Für Christian Leeuwenburgh von der University of Florida steht fest, daß es ganz verschiedene Varianten von Radikalen gibt. Und nicht alle sind schädlich. Das legen auch die jüngsten Studien von Michael Ristow von der Universität Jena nahe; Ristow hat mit Kollegen aus Leipzig, Potsdam und von der Harvard Medical School eine Studie mit 39 Sportlern durchgeführt. Über vier Wochen hinweg wurden bestimmte Parameter bei den Probanden erhoben.
Wer Sport treibt und zusätzlich Vitaminpräparate einnimmt, der macht bestimmte positive Effekte wieder zunichte.
Die Ergebnisse sind hochinteressant, denn körperliche Beanspruchung hat u.a. zwei bekannte Effekte: erstens werden von den Mitochondrien vermehrt potentiell schädigende Sauerstoffradiale produziert. Zweitens verbessert regelmäßiger Sport den Blutzuckerstoffwechsel und damit das Diabetesrisiko.
Ristow und sein Team stellten nun allerdings fest, daß die Studienteilnehmer, die zusätzlich zu ihrem Sportprogramm noch Vitaminpräparate einnahmen, keine positiven Effekte auf ihren Insulinhaushalt erzielten. Für Ristow liegt auf der Hand, daß die Vitaminpräparate Schuld sind, da sie die wünschenswerten (Neben-)Effekte der freien Radikalen unterbinden. Offenbar – so die Erklärung der Wissenschaftler – ist eine gewisse Menge an oxidativem Stress notwendig, um bestimmte körpereigene Prozesse in Gang zu setzen. Die beim Sport freigesetzten Sauerstoffradikale wirken ganz ähnlich wie ein Impfstoff: sie mobilisieren die Körperabwehrkräfte, die gegen Radikale wirken. Ristows Fazit:
“Die gesundheitsfördernde Wirkung von körperlicher Bewegung wird durch die Einnahme von sogenannten Antioxidantien in Form von Vitamin C und E sogar unterdrückt.”
Damit mehren sich die Indizien dafür, daß die Einnahme von Vitaminpräparaten (von Ausnahmefällen abgesehen) sinnlos und im Einzelfall schädlich ist. Ähnliche Ergebnisse lieferten u.a. die großangelegten Meta-Studien von Goran Bjelakovic, der mehrmals ein höheres Krebsrisiko durch Vitamine konstatierte.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, daß Obst und Gemüse offenbar so gesundheitsförderlich sind, nicht weil, sondern obwohl sie Vitamine und Antioxidantien enthalten. Und die teuren Vitaminpillen kann man sich getrost sparen.
Links:
- Michael Ristow et. al.: Antioxidants prevent health-promoting effects of physical exercise in humans. PNAS published online before print May 11, 2009, doi:10.1073/pnas.0903485106
- Goran Bjelakovic: Mortality in Randomized Trials of Antioxidant Supplements for Primary and Secondary Prevention, in: JAMA, Vol. 297 No. 8, February 28, 2007
- Heinen, Nike: Die Mär von den schützenden Vitaminpillen, Die Welt, 11.5.2009
- Lars Fischer: Warum Antioxidantien die Lebenserwartung reduzieren, in: Fischblog, 2.10.2007
Kommentare (17)