Wann ist Wissenschaft? So hatte Jörg Friedrich vor einigen Wochen gefragt. Man könnte die Frage auch etwas variieren und fragen: Wann reden wir von Wissenschaft? Oder: Wo findet Wissenschaft statt.

Es ist dabei letztlich immer die spannende Frage, welche “Form” sich ein soziales Ereignis geben muß, damit es als wissenschaftliches Ereignis zweifelsfrei erkannt wird. Dabei gibt es natürlich bestimmte Erkennungs- und Kennzeichen, die uns signalisieren, daß wir gerade einem wissenschaftlichen Gegenstand gegenüberstehen.

Wie erkennen wir eigentlich, daß es sich um ein wissenschaftliches Ereignis handelt?

Wenn wir uns in einem großen Saal mit abfallenden Sitzreihen befinden, so sollte es uns nicht überraschen, wenn das Licht erlöscht und ein Film an die Leinwand projiziert wird. Sollte stattdessen ein einzelner Mann oder eine Frau erscheinen und einen mit allerlei Fachterminologie aufgepeppten Vortrag beginnen, so sind wir nicht im Kino, sondern vermutlich im Hörsaal einer Universität gelandet.

Die Unterschiede zwischen diesen beiden “Darbietungen” sind gar nicht so groß. Doch erkennen wir zweifelsfrei, in welchem Fall es sich um Wissenschaft handelt. Vergangene Woche hatte ich die Gelegenheit, ein wirklich bemerkenswertes wissenschaftliches Ereignis aus der Nähe zu beobachten. Denn bei der 59. Tagung der Nobelpreisträger in Lindau ging es ganz ohne Zweifel um Wissenschaft. Aber: woher weiß ich das so genau?

Die äußere Form und das Wesen der Dinge

Denn konnte ich mir wirklich sicher sein, daß es sich bei diesem Ereignis nicht um etwas vollkommen anderes handelte?

War ich möglicherweise bei einer politischen Veranstaltung gelandet? Etwa einem Treffen blaublütiger Inselbewohner mit bundesdeutschen und europäischen Spitzenbeamten?

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[Gräfin Bettina Bernadotte begrüßt Annette Schavan und José Barroso]

Oder handelte es sich um einen Seniorennachmittag oder ein anderes Veteranentreffen?

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[Die Laureaten beim Gruppenphoto mit Gräfin Bernadotte.]

Oder ging es bei der Veranstaltung vor allem um Brauchtumspflege? Beispielsweise indischer Provenienz?

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[Tanzende indische Studenten und Doktoranden am Rande des Eröffnungsabends.]

Das war sicher genauso ein Beitrag zur Völkerverständigung, wie die Darbietungen bayerischer Tradition und (bierseliger) Kultur.

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[Mangels Lederhosen- und Dirndlträgern unter den Teilnehmern der Tagung wurde eigens eine Trachtengruppe zum allgemeinen Gaudium engagiert.]

Oder war es einfach ein Zusammentreffen von jungen Wissenschaftlern aus aller Welt, die eine Woche lang untereinander…

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[Abends verlagerten sich die Gespräche einfach vor die Türen der Kongreßhalle.]

… und mit Nobelpreisträgern diskutierten, sich kennen- und voneinander lernten?

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[Hier wird mit Nobelpreisträger Sir Harold Kroto diskutiert.]

Diese Momentaufnahmen illustrieren, wie vielfältig die Lindauer Tagung war. Und doch ist die Wissenschaft – dieses Jahr stand das Treffen im Zeichen der Chemie – das einigende Band, das die verschiedenen Veranstaltungsteile zusammenhielt. Wer den Gesprächen am Rande zuhörte, der stellte fest, daß es fast immer um wissenschaftliche Themen ging. Wie sind die Studienbedingungen in Neuseeland, den USA oder anderswo? Worauf muß ich achten, wenn ich mir eine Post-Doc-Stelle suche? Wie laufen die aktuellen Forschungsprojekte? Bei welchen Journals hat man Papers eingereicht?

Was für Außenstehende wie ein internationaler Kirchentag aussieht, ist für die Teilnehmer unzweifelhaft eine wissenschaftliche Angelegenheit

Was für Außenstehende möglicherweise wie ein internationaler Kirchentag aussieht, ist für die Teilnehmer unzweifelhaft eine wissenschaftliche Angelegenheit. Und die Teilnehmer und deren Selbstverständnis sind letztlich das entscheidende Moment und erlauben immerhin eine Antwort auf die oben gestellte Frage, woran eine solche Veranstaltung denn als “wissenschaftlich” zu erkennen ist: es sind die teilnehmenden Personen.

Das ist zwar sicher nicht das alleinige (und auch kein hinreichendes) Kriterium, aber wenn – wie in Lindau – gleich mehr als 600 Menschen zusammen sind, deren Leidenschaft die Wissenschaft ist, dann genügt das fast schon aus.

Mehr über die Nobelpreisträgertagung:

* Die Photos des indischen Abends und der Diskussion mit Harold Kroto sind von Christian Flemming (www.lindau-nobel.de), die anderen sind von mir.

Kommentare (2)

  1. #1 Tobias
    Juli 8, 2009

    Es war trotzdem keine wissenschaftliche Konferenz, denn wurden kaum neue wissenschaftliche Daten präsentiert. die Vorträge der Laureaten bewegten sich zumeist zwischen persönlichem Interesse (Kroto, Ernst), historischen Überblicken (Chalfie Ciechanover) und Lektionen auf Fachbuchniveau (Schrock, Arber).
    Ein wichtiger Teil von Wissenschaft ist die Kommunikation. Einerseits, um die eigenen Daten zu diskutieren, andererseits, um sich ein Netzwerk aufzubauen. Nicht umsonst zählt für Robert Huber (Nobelpreis 1988) der richtigen Mentor als einer der wichtigsten Faktoren für Erfolg in der Wissenschaft.
    Ich denke, das Meeting in Lindau war weit mehr soziales Event als wissenschaftliche Konferenz.

  2. #2 Marc
    Juli 8, 2009

    @Tobias:< Ich stimme Dir zu 100% zu. Ich habe ja auch an keiner Stelle geschrieben, daß es eine "wissenschaftliche Konferenz” war. Eine Fachtagung ist was ganz anderes, da sind wir uns vollkommen einig. Aber – obwohl die äußere, unkonventionelle Form – so häufig gar nicht nach Wissenschaft aussah (vgl. die Photos), hatte die gesamte Woche doch einen deutlich wissenschaftlichen Akzent. Man konnte nicht auf die Idee kommen, es handele sich um eine Zusammenkunft der Spielfilmindustrie oder von Sportlern (bei Olympischen Spielen gibt es sicher viele ähnliche Bilder, wenn die jungen Sportler zusammensitzen.)

    Ich denke, das Meeting in Lindau war weit mehr soziales Event als wissenschaftliche Konferenz.

    Stimme Dir wie gesagt zu. Wobei ich anmerken will: auch (richtige) wissenschaftliche Konferenzen sind “soziale” Ereignisse.

    Ich denke, daß wir eben die üblichen Formen wissenschaftlicher Tagungen kennen und die weisen ein bestimmtes Profil auf (und haben auch eine klare Zielsetzung, die von der Lindauer Tagung teilweise abweicht.) Und Lindau unterscheidet sich eben in einigen Punkten. Aber um Wissenschaft ging es eben auch. (Und nicht um Sport oder das frühzeitige Ableben von Popstars.)