Wie arbeitet unser Gehirn? Wie funktioniert Wahrnehmung? Welche Faktoren prägen unser Gedächtnis? – Es gibt so unendlich viele spannende Fragen an die Hirnforschung. Doch deren Antworten sind bislang kaum zufriedenstellend. Zwar findet man in den einschlägigen neurowissenschaftlichen Journals fast im Wochentakt interessante Veröffentlichungen, aber das sind dann allenfalls winzig kleine Mosaiksteinchen, die sich vielleicht irgendwann in ein großes Bild einfügen lassen, das uns dann verstehen hilft, wie unser Gehirn tatsächlich “tickt”. Aber bis dahin ist es noch weit.
Und so müssen wir uns wohl mit den Befunden einzelner Studien zufrieden geben, die sich – jedenfalls auf den ersten Blick – allerdings teilweise widersprechen. Aber das ist möglicherweise weniger ein Problem der Hirnforschung, denn der Wissenschaftskommunikation. Ein Beispiel.
Zwei Studien, zwei Aussagen: Legen es die Neurowissenschaften auf Verwirrung an?
Studie I: Das Hirn liebt Überraschungen
Vor etwa vier Wochen publizierte ein Forscherteam um Nikolai Axmacher von der Universität Bonn die spannenden Ergebnisse einer Studie. Die Hirnforscher hatten untersucht, wie das Gehirn auf erwartete bzw. unerwartete Informationen reagiert und wie sich das alles auf die Erinnerung auswirkt. Dazu sollten sich die Probanden die Bilder auf einem PC-Bildschirm einprägen. Es wurden Gesichter und Häuser gezeigt und später wurde abgefragt, an welche Bilder sich die Probanden erinnern konnten.
Währenddessen wurde die Aktivität in bestimmten Hirnregionen gemessen. Und die Versuchsanordnung war eben so gestaltet, daß einer Gruppe der Probanden deutlich mehr Gesichter gezeigt wurden, Häuser nur selten. Bei der anderen Gruppe war es umgekehrt. Es war also so, daß die Probanden nach der Durchsicht einiger Bilder jeweils eine bestimmte Erwartungshaltung bildeten (also bspw. weitere Häuser angezeigt zu bekommen).
Wurde diese Erwartung enttäuscht (kam überraschenderweise ein Gesicht), dann zeigte sich im Hippocampus eine deutlich erhöhte Aktivität (als Reaktion auf die Überraschung) und kurz darauf zeigte sich eine Aktivitätsspitze im Nucleus accumbens, einem Teil des Belohnungszentrums, das daraufhin Dopamin ausschüttete.
„Das Gedächtniszentrum vergleicht die tatsächliche Situation mit der erwarteten – das ist das frühe Signal im Hippocampus.”, sagte Axmacher
Und durch das Signal an den Nucleus accumbens wird Dopamin ausgeschütet, das dann wieder das Gedächtniszentrum anregte. Die “überraschend” angezeigten Bilder konnten jedenfalls deutlich besser erinnert werden. Das Ergebnis der Studie lautet also: je mehr Dopamin ausgeschüttet wird, umso wahrscheinlicher ist es, daß der Hippocampus das Ereignis ins Langzeitgedächtnis überträgt.
Oder anders formuliert: das Gehirn liebt neue, unerwartete Ereignisse, da sie das Belohnungssystem aktivieren.
Das ist eine hübsche, typische Meldung, wie wir sie häufig aus der Hirnforschung lesen. Interessant ist aber, was man eine Woche später lesen durfte…
Studie II: Keine Überraschungen bitte!
Eine andere neurowissenschaftliche Studie (diesmal von den Frankfurter Hirnforschern um Wolf Singer) kommt – zumindest wenn man der offiziellen Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts glauben schenkt – zu einem gegenteiligen Ergebnis.
Dort liest man: “Keine Überraschungen bitte! Unser Gehirn verarbeitet vorhersagbare Sinnesreize besonders effektiv”. Innerhalb der Studie, die im “Journal of Neuroscience” publiziert wurde, wurde den Probanden ein Bildschirm gezeigt, auf dem sich Balken in einem bestimmten Rhythmus bewegten.
Die Kernspinaufnahmen zeigten, daß genau dann, wenn sich das Muster der Balkenbewegung überraschend veränderte, die Aktivität im Bereich des primären visuellen Kortex erhöhte.
Daraus leiteten die Forscher folgende Schlußfolgerungen ab: erstens sei das Gehirn kein passiver Apparat, der lediglich auf den Signalinput warte, sondern das Gehirn versuche aktiv mögliche Sinneseindrücke vorherzusagen. Und zweitens, so erklärt Wolf Singer:
“Treffen die Vorhersagen zu, kann das Gehirn die tatsächlich eintreffenden Informationen besonders effektiv verarbeiten.”
Klingt recht eindeutig und so liest man in den Artikeln zur Studie: Das Gehirn liebt keine Überraschungen. Irgendwie unerfreulich – zumindest wenn man die Richtigkeit dieser Interpretation unterstellt. Denn die widersprüchlichen Meldungen dürften wohl bei den meisten Lesern für Erstaunen bzw. Überraschung sorgen. Da liest man erst, daß das Gehirn ganz wild auf Überraschungen sei, nur um wenige Tage darüber informiert zu werden, daß das gleiche Gehirn diese Überraschungen gar nicht so gern habe.
Widersprechen sich die Hirnforscher?
Alles nicht ganz optimal, zumindest aus Sicht der Wissenschaftskommunikation. Wenn man sich die Ergebnisse der beiden Studien freilich genauer ansieht, so zeigt sich allerdings, daß der Widerspruch wohl weniger gravierend ist. Denn Wolf Singer und seinen Kollegen ging es vor allem um die Effizienz der Informationsverarbeitung. Und hier stellten sie eben fest, daß überraschende visuelle Reize das Gehirn zunächst “irritieren”, für höhere Aktivität sorgen und eine schnelle Verarbeitung etwas behindern.
Sind die Ergebnisse der beiden Studien konträr? Oder ist es nur deren populäre ‘Übersetzung’?
Bei der Studie von Axmacher war das Design ja anders ausgerichtet. Es ging um die Wechselwirkung zwischen Gedächtnis- und Belohnungszentrum. Und die Untersuchung zeigte ja eben eine bessere Erinnerung an die unerwarteten Informationen. Insofern müssen sich die beiden Studien also doch nicht widersprechen.
Aber es zeigt sich, daß die ‘Übersetzung’ von Wissenschaft (die der Wissenschaftsjournalismus leisten soll) eben mit vielen, vielen Fallstricken versehen ist. Und das beginnt bereits mit der Darstellung und Interpretation der Studienergebnisse durch die einzelnen Forscher. Denn die Behauptungen, das Gehirn “liebe” Überraschungen bzw. “liebe keine” Überraschungen kam ja von den Wissenschaftlern selbst.
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Links:
- Alink A, Schwiedrzik CM, Kohler A, Singer W, Muckli L.: Stimulus predictability reduces responses in primary visual cortex. Journal of Neuroscience, 24. Februar 2010;30(8):2960-6, doi:10.1523/JNEUROSCI.3730-10.2010
- N. Axmacher, M.X. Cohen, J. Fell, S. Haupt, M. Dümpelmann, C.E. Elger, T.E. Schlaepfer, D. Lenartz, V. Sturm, C. Ranganath: Intracranial EEG correlates of expectancy and memory formation in the human hippocampus and nucleus accumbens, Neuron, 2010. doi:10.1016/j.neuron.2010.02.006
Bsp. für die entsprechenden Zeitungsartikel:
- Das Gehirn mag keine Überraschungen, Der Standard, 14.03.2010
- Gehirn: Überraschungen kurbeln Belohnungssystem an, SciNexx, 26.02.2010
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