Unsere Demokratie ist auf den Hund gekommen. Vollkommen egal, ob es um die Zahl der Kindergartenplätze, die Lebensmittelkennzeichnung, das Schulsystem oder Fragen der Technologiepolitik geht. Es sind ständig Entscheidungen gefragt. Und die Akteure und Institutionen, die eigentlich für verbindliche, halbwegs vernünftige und ja immer auch demokratisch legitimierte Entscheidungen sorgen sollen, sind ganz offensichtlich überfordert. Und das liegt nicht an Frau Merkel! Es liegt an unserer Zeit (und der Tatsache, daß die Sachfragen, die zur Entscheidung anstehen, längst nicht mehr trivial sind.)
Vielleicht sollten wir uns ernsthaft überlegen, ob wir nicht neue Verfahren der politischen Entscheidungsfindung ausprobieren sollten. Bürgerkonferenzen zum Beispiel. An diesem Wochenende findet zum Thema “Energienutzung der Zukunft” eine solche Veranstaltung in Berlin statt.*
Im Sozialkundeunterricht lernt man ja, daß Demokratie der Idee nach so etwas wie Volksherrschaft bedeutet. Daß es also um Teilhabe aller Bürger am politischen Prozeß geht. Und man lernt auch, daß in modernen Staatswesen (mit vielen Millionen Einwohnern) allein die Spielart der repräsentativen Demokratie umsetzbar ist. Die auf Zeit gewählten Volksvertreter handeln im Sinne des Souveräns, also der Bürger. Soweit der kleine demokratietheoretische Exkurs.
Lobbyismus und Expertokratie
Wenn man sich den Alltag des Politikbetriebs im 21. Jahrhundert ansieht, dann stellt man fest, daß von diesem schönen Ideal, das im Sozialkundeunterricht behandelt wurde, nur wenig übriggeblieben ist. Es genügen zwei Beispiele, um diese Feststellung zu illustrieren: erstens der wachsende Einfluß der Lobbygruppen, die ihre Interessen mit aller Macht und Unverfrorenheit in den politischen Prozeß einspeisen (und leider in den letzten Jahrzehnten immer raffiniertere Strategien entwickelt haben) und als zweites Indiz soll auf die ebenfalls wachsende Zahl von Expertengremien und Kommissionen verwiesen werden, die inzwischen immer weniger politikberatend, häufiger schon politikgestaltend agieren.
Wer glaubt, in den Parlamenten und im Kabinett werde regiert und politisch entschieden, der irrt sich.
Kurz: Wer glaubt, in den Parlamenten und im Kabinett werde regiert und politisch entschieden, der irrt sich. Das ist alles andere als ein Geheimnis. Aber obwohl wir täglich von den Versuchen der Lobbyisten lesen, die ihren Einfluß immer unverblümter zur Geltung bringen wollen und obwohl wir ständig von neuen Expertengremien lesen, die einberufen werden, dennoch wird fast nirgendwo thematisiert, daß diese Entwicklungen die Demokratie wesentlich aushöhlen. Dabei ließen sich (mit ein wenig Kreativität) durchaus Verfahren finden, in denen die Teilhabe der Bürger wieder maßgeblich politik(mit-)entscheidend wirken könnte. Und das durchaus in komplexen Themenfeldern: Gen- oder Nanotechnologie, Bildungs- und Schulpolitik oder Fragen der Energieversorgung.
Und so schwer ist die Aufgabe ja nicht: es geht schlicht darum, sinnvolle Prozeduren der Bürgerbeteiligung zu finden, die sich nicht darin erschöpfen alle paar Jahre ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel zu machen. Auch Bürgerbegehren und ähnliche Verfahren sind in meinen Augen nicht dazu geeignet, um komplexe Sachfragen vernünftig zu behandeln. Das scheitert bereits bei der Frage nach dem Nichtraucherschutz. Ja/Nein-Antworten taugen einfach nicht.
Partizipative Verfahren der Politikgestaltung
Es geht also um partizipative Verfahren, die (ganz normale) Bürger mit relevanten politischen Sachfragen konfrontieren und ihnen ermöglicht, sich differenziert eine Meinung zu bilden und diese zu artikulieren. Ein besonders interessanter Ansatz in diese Richtung sind die sogenannten Konsensuskonferenzen (in verschiedenen Varianten).
Gibt es Verfahren der Bürgerbeteiligung, die auf komplexe Sachfragen angewendet werden können?
Die Methode der Konsensuskonferenz wurde in den späten 1980er Jahren von der dänischen Behörde für Technikfolgenabschätzung (Teknologi-Rådet) entwickelt und mehrmals erprobt. Für eine solche Konferenz wird ein (möglichst heterogen) zusammengesetztes Bürgerpanel gebildet. Das können 15, 30 oder auch 50 Personen sein (man bemüht sich dabei natürlich um eine repräsentative Besetzung). Bei mehreren Treffen und Wochenendseminaren diskutieren die Teilnehmer der jeweiligen Konsensuskonferenz ein bestimmtes Thema (nachdem sie sich zuvor eingehend darüber informiert haben) und erhalten die Möglichkeit auch Experten zu befragen. Am Ende erstellt die Gruppe einen Abschlußbericht, in dem übereinstimmende Positionen festgehalten werden, aber auch Dissens sichtbar gemacht wird.
Wie genau eine solche Konsensuskonferenz abläuft und welche Idee dahintersteckt, wird in einem der nachfolgenden Beiträge erläutert.
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* An diesem Wochenende (25./26.9.2010) kommen 200 Bürgerinnen und Bürger aus Berlin-Brandenburg und Umland zu einer Bürgerkonferenz in Berlin-Adlershof zusammen. Sie werden mit Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft über die Energienutzung von morgen diskutieren. Ich bin selbst bei der Veranstaltung dabei und werde darüber hier im Blog berichten. Weitere Blogpostings von der Veranstaltung (u.a. von Scilogs-Kollege Lars Fischer) findet man hier: www.wissenschaft-debattieren.de
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